Ist Sucht eine Folge von Trauma und kann man sich nachhaltig davon befreien?
Sucht und Trauma – beides Themen, die mich betreffen und beschäftigen. Viele Jahre meines Lebens war ich süchtig nach Rausch- und Betäubungsmitteln. Ich kenne die inneren Leidenszustände, die damit einhergehen: Der verzweifelte Kampf davon loszukommen sowie Gefühle von Wertlosigkeit und Scham, weil man es trotz fester Vorsätze nicht schafft.
Vor inzwischen genau 10 Jahren hatte ich großes Glück, weil ich eine Therapeutin fand, die trotz meiner Sucht mit mir zusammenarbeiten wollte und mir half, davon loszukommen. Leider ist das jedoch keine Selbstverständlichkeit, denn in der klassischen Psychologie und Psychotherapie werden Sucht und Trauma meist immer noch getrennt voneinander betrachtet. Lassen sich die hohen Rückfallquoten bei Menschen mit Suchtverhalten darauf zurückführen? Ist Sucht etwas, womit man ein Leben lang „kämpfen“ muss oder gibt es Möglichkeiten, sich nachhaltig davon zu befreien?
Ich freue mich sehr, dass ich Prof. Dr. Franz Ruppert zu all meinen Fragen rund um dieses Thema interviewen durfte. Er ist als Autor zahlreicher Bücher und durch die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) bekannt, mit der ich in den letzten fünf Jahren große Fortschritte auf meinem Weg der Ganzwerdung gemacht habe.
Allgemeines zu Sucht
Lieber Herr Ruppert, begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit mit traumatisierten Menschen häufig Suchtthematiken?
Franz Ruppert: Ja, es kommt ab und zu vor, dass ich mit Menschen arbeite, die unter Sucht oder süchtigen Verhaltensweisen leiden. Einige der zahlreichen Fallbeispiele in meinen Büchern, in denen Menschen das Anliegen äußern, von Zigaretten-, Alkohol- oder Spielsucht loszukommen, spiegeln das wieder.
Welche Formen von Sucht sind Ihnen bekannt und was kennzeichnet diese Süchte?
Franz Ruppert: Sucht gibt es meiner Meinung nach in zweierlei Formen:
- Als ungehemmten Konsum von Getränken, Nahrungsmitteln, Tabak, Medikamenten oder Chemikalien und
- Als exzessive Verhaltensweisen wie Arbeiten, Spielen, sexuelle Betätigung, Sport treiben, Fernsehen, Einkaufen und anderes mehr.
Gekennzeichnet werden süchtige Verhaltensweisen meiner Meinung nach durch:
- Zwanghaftigkeit,
- Toleranzentwicklung,
- Dosissteigerung,
- Entzugserscheinungen,
- Weitermachen, trotz negativer Konsequenzen,
- Verschleierung der Realität des Süchtigseins,
- Völligen Kontrollverlust.
In all diesen Fällen verhalten sich Menschen konträr zu ihren eigenen existentiellen Interessen. Sie achten nicht darauf, gut und ausreichend zu essen, saubere Luft zu atmen, ihren Körper vor Schädigungen zu schützen, Daseinsfreude zu empfinden und ihr Leben wirklich zu genießen. Statt aus vollem Herzen zu leben und zu lieben, über-leben sie.
Der Zusammenhang von Sucht und Trauma
Gibt es Ihrer Beurteilung nach einen Zusammenhang zwischen Sucht und Trauma und wenn ja, welchen?
Franz Ruppert: Ja, meiner Meinung nach ist Sucht eine Form von Überlebensstrategie, um sich mit den unangenehmen Gefühlszuständen nicht auseinandersetzen zu müssen, die aus abgespaltenen Traumagefühlen herrühren.
Negative Gefühlslagen wie Ängste, Schamgefühle oder Schmerzen werden von süchtig gewordenen Menschen, sobald sie spürbar werden, sofort durch den Konsum von Alltagsdrogen (Alkohol, Zigaretten, Kaffee, Zucker etc.), Medikamente (Schlaf- und Beruhigungsmittel), die Zufuhr gesetzlich verbotener narkotisierender Drogen (Marihuana, Heroin) oder aufputschender chemischer Substanzen (Amphetamine, Kokain) überlagert.
Wie bereits erwähnt sind auch bestimmte Verhaltensweisen geeignet, um hochkommende Traumagefühle wegzudrücken. Zum Beispiel versuchen Soldaten durch Bordellbesuche ihre Ängste durch sexuelle Stimulation zu übertönen.
Das Abspalten der eigenen Gefühle führt wiederum zu innerer Leere, die dann durch künstlich erzeugte Körpersensationen und durch Überaktivität gefüllt wird. Weil der innere Bezug fehlt, gibt es bei alledem keine natürliche Sättigung und kein inneres Empfinden dafür, wann es genug ist.
Viele Menschen setzen mit ihrer Sucht ihre ursprünglichen Traumatisierungen erneut in Szene. Sie verletzen und vergiften sich selbst, sie nehmen keine Rücksicht auf ihren Körper, sie versuchen, den Dauerstress, unter dem sie in Folge ihrer Traumatisierungen stehen, mit Hilfe der Drogen auszuhalten.
Manche Süchtige erinnern nicht zufällig an kleinkindhaftes Verhalten in der Forderung, Bedürfnisse von außen und ohne Aufschub befriedigt zu bekommen. Die Motive des Suchtverhaltens haben ihre Wurzeln in vielen Fällen in einem Symbiosetrauma, weil die ursprünglichen symbiotischen Bedürfnisse nach Wärme, Geborgenheit und Umsorgtsein niemals befriedigt wurden. Daher sind Alkohol, Cannabis und Heroin beliebte Drogen bei symbiotisch bedürftigen Menschen. Sie können sie kurzfristig wärmen und in Watte packen.
Welchen Nutzen hat die Sucht noch für ein traumatisiertes Nervensystem und was für negative Auswirkungen sind Ihnen bekannt?
Franz Ruppert: Für ein traumatisierendes Nervensystem kann ein Suchtmittel angstlösend, schmerz- und angstbetäubend sein. Die Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein, unter dem die meisten Traumatisierten leiden, werden überlagert. Drogen (von Alkohol bis Zucker) vermitteln, zumindest für kurze Zeit die Illusion, alles wäre gut oder zumindest halb so schlimm. Sie erzeugen eine emotionale Scheinwelt von innerer Harmonie.
Jede Droge oder süchtige Verhaltensweise hat jedoch auch vielfältige und langfristige negative Auswirkungen auf den Körper, das Gehirn, die psychischen Leistungen und die sozialen Beziehungen. Die Überlebensstrategien wollen diese Zusammenhänge nicht anerkennen und bringen die negativen Folgen nicht in einen Zusammenhang mit dem Drogenkonsum oder ihren süchtigen Verhaltensweisen. Im Gegenteil, die Droge oder das süchtige Verhalten wird als das Heilmittel für die unerträglichen emotionalen und körperlichen Zustände benutzt, die jedoch immer mehr von der Droge selbst hervorgerufen werden, je länger der Suchtprozess voranschreitet.
Dadurch entstehen die bekannten Aufschaukelungsprozesse, die zwangsläufig zu einer Dosissteigerung des Konsums und der süchtigen Handlungen führen, die im Endstadium dann nur noch die Entzugserscheinungen überdecken können.
Süchtiges Verhalten ist somit eine Überlebensstrategie, die bis an die Grenzen der seelischen, körperlichen und sozialen Ressourcen eines Menschen geht und zuweilen weit darüber hinaus. Dies belegen die vielen körperlich schwer kranken Alkoholiker und nikotinabhängigen Raucher und die zahlreichen Herointoten.
Können anhand des Ausmaßes einer Sucht Rückschlüsse auf die Schwere der erlebten Traumata gezogen werden?
Franz Ruppert: Je schwerwiegender die ursprünglichen Traumatisierungen sind, desto „härter“ sind die von einem Süchtigen verwendeten Drogen und desto intensiver ist ihr Konsum. Auch bei den süchtigen Verhaltensweisen ist ein Rückschluss zwischen dem Ausmaß der zwanghaft durchgeführten Handlungen und der Schwere der Traumatisierung möglich.
Man kann das Ausmaß einer der Sucht zugrundeliegenden Traumatisierung auch daran abschätzen, wie schwer oder leicht es jemandem fällt, seinen Drogenkonsum oder sein Suchtverhalten aufzugeben. Wer z.B. aus einer schlechten Angewohnheit heraus zum Zigarettenraucher geworden ist, kann relativ schnell auf das Rauchen wieder verzichten. Wer hingegen mit dem Nikotin seine Übererregungszustände kontrolliert, sich betäubt und ablenkt, um seine negativen Gefühle nicht spüren zu müssen, seine innere Leere aufzufüllen versucht oder darüber Gefühle erzeugt, die seine symbiotische Verstrickung in seiner Familie widerspiegeln, steht unter dem Einfluss eines schweren Traumas.
Sucht und Trauma in der klassischen Psychotherapie
In der Psychologie und Psychotherapie werden Sucht und Trauma häufig isoliert voneinander betrachtet und es wird behauptet, dass zunächst die Sucht bewältigt werden muss, bevor man sich seinen Traumata zuwenden kann.
1. Liegt hier Ihrer Meinung nach eine fundamentale Fehleinschätzung vor?
Franz Ruppert: Sucht und Trauma sind miteinander verwoben und können meiner Meinung nach nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Folgesymptome müssen deshalb immer im Zusammenhang gesehen und therapiert werden.
2. Kann die hohe Rückfallquote bei traumatisierten Abhängigen dadurch erklärt werden?
Franz Ruppert: Meiner Meinung nach ja. Solange unverarbeitete Traumata in der Therapie keine Beachtung finden und das Symptom „Sucht“ isoliert behandelt wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem Rückfall kommt. In vielen Fällen torpedieren die süchtigen Überlebensanteile aber auch eine Psychotherapie oder machen sie nur aus Berechnung mit, um z.B. richterliche Auflagen zu erfüllen.
3. Welche Folgen können durch die isolierte Betrachtung von Sucht in der Diagnostik auftreten?
Franz Ruppert: Häufig werden Menschen z.B. durch eine bestimmte Form der psychiatrischen und psychologischen Diagnostik zu Unrecht in eine Täterrolle gebracht und dann durch die Art der Behandlung in einer Opferrolle gehalten. Wird etwa bei einem Mädchen, welches nichts mehr isst, die Diagnose „Magersucht“ gestellt, geschieht folgendes:
- Man definiert sie als eine kranke Person.
- Indem man ihr Verhalten der Essensverweigerung von seinen Ursachen isoliert, wird letztendlich alleine dem Mädchen die Schuld darangegeben, dass sie sich „nicht normal“ verhält.
- Durch diese Diagnostik wird das Mädchen notfalls mit Gewalt gezwungen, wieder „normal“ zu essen.
Wenn wir jedoch wissen, dass die Essensverweigerung eine Reaktion auf die Ablehnung und Lieblosigkeit seitens der Mutter und auf die Gewalt und den sexuellen Missbrauch seitens des Vaters ist, so wird die Absurdität einer solchen Diagnostik offenbar, dieses Mädchen wäre „süchtig“ danach, „mager“ zu sein.
In Wirklichkeit bringt das Mädchen durch seine Essenverweigerung eine Täter-Opfer-Spaltung in sich selbst zum Ausdruck, indem ihr eigener Täteranteil, der abgespalten in ihrem Kopf sitzt, den Opferanteil, den ihr eigener Körper repräsentiert, unterdrückt und auslöschen möchte.
Können Sie die Täter-Opfer-Spaltung an einem weiteren Beispiel erklären?
Franz Ruppert: Ja, gerne am Fallbeispiel „Das Zigarettenrauchen stoppen“ von meiner Klientin Marlene:
Marlene möchte ihr süchtiges Rauchen beenden. Immer wenn sie das jedoch versucht, gerät sie in ein Panikgefühl. In ihrer IoPT-Aufstellung (siehe unten) zeigte dieser Anteil, den sie für ihr süchtiges Rauchen aufstellte, eine Doppelnatur. Es war ein Mann, der einerseits jemand repräsentierte, der sie als Jugendliche brutal vergewaltigt hatte. Sie hatte dies bis dato vollkommen aus ihrem Bewusstsein verdrängt, da sie während der Vergewaltigung ihren Köper die ganze Zeit bewusst verlassen hatte. Andererseits brachte der Stellvertreter für dieses süchtige Rauchen zum Ausdruck, dass er sterben wollte. Im Rauchen spiegelte sich also die Täter-Opfer-Spaltung von Merlene wieder. Mit dem Rauchen reinszenierte sie ihre orale Vergewaltigung (Zigarette in den Mund stecken und Gifte = Sperma inhalieren und hinunterschlucken) und zugleich dient das Einatmen von Nikotin dazu, ihre Panik zu narkotisieren.
Ist eine Befreiung aus der Sucht möglich?
Bei Alkoholabhängigkeit wird von einer Krankheit ausgegangen, die ein Leben lang besteht. Teilen Sie diese Definition und Ansicht? Wird eine Sucht ein Leben lang bestehen bleiben?
Franz Ruppert: Ich persönlich bin der Meinung, dass wenn man an der Ursache seiner Sucht arbeitet, man auch ganz aus der Suchtdynamik aussteigen kann. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei Sucht um eine Überlebensstrategie handelt, dann wird diese nicht mehr benötigt, sobald die Ursache Beachtung findet. Wenn die abgespaltenen Traumagefühle gesehen und gefühlt werden, besteht keine Notwendigkeit mehr, sie mithilfe der Sucht zu verdrängen.
Was ist Ihrer Ansicht nach nötig, um sich nachhaltig von Sucht und Abhängigkeit zu befreien?
Franz Ruppert: Um die Zusammenhänge von Sucht und Trauma zu verstehen und den Willen zu entwickeln, aus Suchtprozessen auszusteigen, braucht es zunächst Persönlichkeitsanteile, die trotz jahrzehntelangen Drogenkonsums noch gesund geblieben sind.
Der erste Schritt besteht dann darin, sich die Sucht einzugestehen und sie nicht länger zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Dann müssen aus Eigeninitiative heraus weitere Schritte gegangen werden, um sich von der Sucht zu befreien. Meiner Meinung nach funktioniert das über das Fühlen der Gefühle, die im Zusammenhang mit der eigenen Traumabiografie früher nicht gefühlt werden konnten, heute aber durchaus gefühlt werden können.
Wenn Sucht als bevorzugte Überlebensstrategie in Familien über Generationen hinweg gelebt wird, ist es eine besondere Herausforderung, sich aus diesen Dynamiken zu befreien. Dabei geht es nicht nur um das Suchtverhalten, sondern auch um die vielfältigen Formen der Traumaverdrängung, die durch Arbeits-, Konsum-, Spiel- oder Sexsucht ausgelebt werden.
Wie kann die IoPT Menschen mit Suchtproblematik helfen?
Franz Ruppert: Die IoPT ist eine Form der Selbstbegegnung, die es ermöglicht, Zugang zu den eigenen abgespaltenen und unterdrückten Traumagefühlen zu bekommen und destruktive familiäre Verstrickungen sichtbar zu machen. Jeder, der diese Therapieform wählt, bringt ein selbst formuliertes Anliegen mit und geht dadurch in die Selbstverantwortung. Auf dieses Weise können unbewusste und unverarbeitete Traumata und Überlebensmechanismen zutage treten und Schritt für Schritt geheilt werden. Das Suchtverhalten, das bisher dazu diente, die Traumagefühle nicht zu fühlen, kann so langfristig aufgegeben werden. Neulich z.B. hat ein Mann an seiner Pornosucht gearbeitet, die dann völlig in den Hintergrund getreten ist, sobald er sich in der Aufstellung mit seinem gesunden Ich verbunden hatte.
Möchten Sie meinen LeserInnen abschließend noch etwas mit auf den Weg geben?
Franz Ruppert: Wichtig ist, sich seiner Suchtthematik offen zu stellen. Wenn Scham- oder Schuldgefühle mit der Sucht einhergehen, ist es notwendig, diese zu überwinden und z.B. in einer Gruppe die eigene Suchtthematik offen einzugestehen. Außerdem sollte man Geduld mit sich haben. Traumabewältigung braucht Zeit.
Vielen Dank Herr Ruppert für dieses aufschlussreiche Interview!
Wer ist Prof. Dr. Franz Ruppert?
Franz Ruppert ist ein Psychotraumatologe, der als Professor für Psychologie an der katholischen Stiftungshochschule und als psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in München tätig ist. Er hat die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) entwickelt und ist Autor zahlreicher Bücher, in denen er sich mit dem Thema Trauma auseinandersetzt.
Bevor er die IoPT entwickelte, arbeitete er viele Jahre mit dem Familienstellen nach Hellinger, bemerkte jedoch im Laufe der Zeit immer größere Unstimmigkeiten. Durch seine intensive Beschäftigung mit der Bindungstheorie von John Bowlby erkannte er in den Aufstellungen kindliche Bindungsmuster, die sich in späteren Beziehungen ständig wiederholten. Er schlussfolgerte daraus, dass ein Großteil aller Probleme durch frühe Traumata hervorgerufen werden.
Die IoPT, die auf dem Verfahren „Selbstbegegnung mit dem Anliegensatz“ fußt, ist eine wirkungsvolle Methode, um die psychische Spaltung in Folge von frühen Traumatisierungen zu erkennen und durch das Benennen und Fühlen wieder Kontakt zu den eigenen, abgespaltenen Anteilen aufzunehmen.