Überlebensmechanismen

Das Erkennen von Überlebensmechanismen spielt bei der Traumaheilung eine essenzielle Rolle. Diese Mechanismen helfen uns zwar, während und nach Traumasituationen zu überleben, doch langfristig können sie unsere Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. In diesem Text erkläre ich, was genau Überlebensmechanismen sind, welche Arten es gibt und wie Du sie erkennen kannst. Außerdem zeige ich, warum es manchmal so schwerfällt, sie zu identifizieren, und gebe Dir einen Ausblick, wie die Befreiung von ihnen neue Möglichkeiten in Deinem Leben eröffnen kann.
Die Begriffe Schutzstrategien, Überlebensstrategien, Bewältigungsstrategien und Strategien nutze ich dabei synonym für das Wort Überlebensmechanismen.

Was sind Überlebensmechanismen? 

Überlebensmechanismen sind unbewusste Strategien, die unser Körper und Geist entwickelt haben, um belastende oder traumatische Situationen zu überstehen. Sie schützen uns, indem sie uns von der Bedrohung abschirmen oder unsere Wahrnehmung darauf verändern. Diese Mechanismen können sich auf unterschiedliche Weise äußern – etwa durch emotionale Abspaltung, Rückzug, übermäßige Anpassung oder Verdrängung. Sie sind tief in unserem Nervensystem verankert und werden automatisch aktiviert, sobald wir uns in Gefahr oder unter Stress befinden.

Obwohl diese Strategien später oft Herausforderungen mit sich bringen, sollten wir nicht vergessen, dass sie bemerkenswerte Anpassungsleistungen unseres Nervensystems sind. Sie verdienen Würdigung und Anerkennung, da sie uns geholfen haben, in schwierigen Zeiten zu überleben.

Arten von Überlebensmechanismen

Überlebensmechanismen lassen sich hinsichtlich des Zeitpunkts, an dem sie greifen, oder des jeweiligen Auslösers unterscheiden. Im Folgenden erläutere ich drei wesentliche Arten von Überlebensmechanismen:

1. Primäre Überlebensmechanismen

Primäre Überlebensmechanismen sind die unmittelbaren und instinktiven Reaktionen unseres Nervensystems auf eine bedrohliche oder traumatische Situation. Sie dienen dazu, unser Überleben kurzfristig zu sichern, indem sie unseren Körper und Geist auf die Gefahr vorbereiten. Diese Reaktionen werden automatisch vom autonomen Nervensystem aktiviert und umfassen die sogenannte Kampf- oder Fluchtreaktion:

  • Kampf (Fight): Der Körper bereitet sich darauf vor, aktiv gegen die Bedrohung vorzugehen. Muskelspannung steigt, der Herzschlag beschleunigt sich, und Stresshormone wie Adrenalin werden freigesetzt. Ziel ist es, die Gefahr zu überwältigen.
  • Flucht (Flight): Ist Kampf keine Option, aktiviert das Nervensystem die Fluchtreaktion. Energie wird mobilisiert, um der Bedrohung zu entkommen, z. B. durch Weglaufen oder Vermeidung.

Diese Schutzstrategien sind darauf ausgelegt, kurzfristig unser Überleben zu sichern. Sie sind jedoch nicht dafür geschaffen, dauerhaft aktiv zu bleiben.

2. Sekundäre Überlebensmechanismen

Wenn Kampf oder Flucht keine Optionen sind oder das System chronisch überfordert ist, greifen sekundäre Überlebensmechanismen. Dies geschieht häufig bei wiederholtem oder frühem Trauma, insbesondere wenn die Bedrohung von Bezugspersonen ausgeht, auf deren Fürsorge wir angewiesen sind. Diese Mechanismen helfen, langfristig in einem Zustand hoher Erregung zu überleben und können uns vor überwältigenden Erinnerungen und Gefühlen schützen. Dazu zählen:

  • Erstarren (Freeze): Der Körper „friert ein“, um sich vor weiterer Gefahr zu schützen. Wir passen uns an und unterdrücken Teile von uns selbst (Identität, Bedürfnisse, Gefühle). 
  • Dissoziation: Eine Trennung von Gedanken, Gefühlen oder Körperempfindungen, um traumatische Erlebnisse auszublenden.
  • Psychische Spaltung: Die Aufspaltung der Persönlichkeit, um untragbare Erfahrungen oder Gefühle zu bewältigen. Dies kann zu einer Trennung zwischen verschiedenen Aspekten der Identität führen. Auf der Infoseite „Was ist Trauma“ erfährst Du näheres zu diesem Prozess. 

Diese Strategien sind meist die Folge von Entwicklungstrauma. Denn als Kinder sind wir darauf angewiesen, uns mit unseren Bezugspersonen zu verbinden – selbst wenn diese von eigenen, unverarbeiteten Traumata geprägt sind und uns nicht guttun. Um Nähe und Sicherheit zu schaffen, sind wir gezwungen deren Gefühle in uns aufzunehmen, was zu einem unlösbaren inneren Konflikt führt.

3. Übernommene Überlebensmechanismen

Übernommene Überlebensmechanismen entstehen, wenn wir als Kinder die Traumaenergien unserer Bezugspersonen aufnehmen. Mit einem Teil unseres Selbst schaffen wir Kontakt, indem wir diese Energien internalisieren, während ein anderer Teil von uns sich zurückzieht, um sich zu schützen.

Dieser innere Spaltungsprozess kann zu Identitätskonflikten führen. Im Laufe der Zeit fällt es uns schwer, zwischen eigenen Gefühlen und übernommenen Strategien zu unterscheiden.

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Der Preis des Überlebens

Obwohl diese Überlebens- und Schutzstrategien unser Leben retten, solange wir noch Kinder sind, führen sie beim Heranwachsen sowie im Erwachsenenalter zu erheblichen Problemen. Sie bewirken eine Dysregulation im Nervensystem, anhaltende Dissoziation, Probleme mit dem Selbstwertgefühl und mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch dissoziative Amnesie, also die Verdrängung und Abspaltung jener Zeit, kann damit einhergehen. In so einem Fall sind keine bewussten Erinnerungen an die Traumasituation(en) abrufbar. 

In den meisten Fällen wendet sich der Mensch diesen Problemen erst oder nur zu, wenn ein gewisser Leidensdruck damit verbunden ist. Häufig sind es zwischenmenschliche Beziehungen, die uns mit den unverarbeiteten Gefühlen in Kontakt bringen.

„Wir reagieren dann reflexhaft auf einen speziellen Ton der Stimme, auf Wörter, Gesten und Körperhaltungen, auf Handlungen und Verhaltensweisen, auf Berührungen, Nähe oder räumliche Situationen, auf Gerüche oder Farben, auf Bilder, unbewusste Gedanken und Vorstellungen.“ Thimm, Mathias (2019).

Ohne den Bezug zur Vergangenheit herstellen zu können, reagieren wir auf etwas, das damals tatsächlich als gefährlich erlebt und nicht verarbeitet werden konnte. Unser System erkennt nicht, dass wir im Hier und Jetzt weder in Gefahr sind noch die alten Schutzstrategien brauchen. Wir reagieren stattdessen weiterhin mit denselben Mechanismen, die uns damals geholfen haben zu überleben.
Diese festgefahrenen Reaktionsmuster kosten uns im Erwachsenenalter enorm viel Energie und verhindern, dass wir wirklich ganz wir selbst sind oder unser volles Potenzial entfalten. Deshalb ist es auf dem Weg zur Ganzwerdung entscheidend, Überlebensmechanismen zu erkennen und nach und nach abzulegen.

Überlebensmechanismen

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Überlebensmechanismen erkennen

Je nachdem, wie früh wir traumatisiert wurden, begleiten uns unsere Schutz- und Bewältigungsstrategien möglicherweise so lange, dass wir sie nicht mehr als solche erkennen. Wir halten sie für Eigenheiten, persönliche Gewohnheiten oder gar Charakterzüge.

Prinzipiell kann sich hinter jeder alltäglichen Tätigkeit eine Überlebensstrategie verbergen, wenn sie dazu dient, den Kontakt zu verdrängten Traumagefühlen zu vermeiden. Um diesen Strategien auf die Spur zu kommen, ist es hilfreich, die Absichten hinter unseren Denk- und Verhaltensweisen zu beleuchten. Überlebensmechanismen lassen sich oft auf bestimmte Absichten zurückführen. Zu den häufigsten gehören:

  • Vermeidung
  • Verleugnung
  • Ablenkung
  • Kontrolle
  • Kompensation
  • Festhalten an illusionären Gedanken und Fantasien

Die Psychotherapeutin Vivian Broughton beschreibt Beispiele für solche Strategien, die uns daran hindern können, Kontakt zu verdrängten Traumagefühlen aufzunehmen:

„Konkrete Beispiele können sein: Übermäßiges Arbeiten, Vermeidung von Beziehungen und intimem Kontakt, Selbstkontrolle, Kontrolle anderer, manipulatives Verhalten, Fernsehen/Computer/Spiele, Essen, Naschen, Hungern, Alkohol trinken, Zigaretten rauchen, Medikamente oder Drogen konsumieren, Konflikte vermeiden, ständig Konflikte anzetteln, Einkaufen, Kaffeekonsum, der ständige Versuch der Mutter/dem Vater zu gefallen oder das schwelgen in illusionären Gedanken und Fantasien („Ich hatte eine glückliche Kindheit“).“ Broughton, Vivian (2016).

Ob die jeweiligen Aktivitäten letztlich der Verdrängung von Traumagefühlen dienen oder nicht, wird meist erst dann bewusst, wenn wir unsere Traumata anerkannt und den Entschluss gefasst haben, ganz zu werden. Erst dann können wir unsere Verhaltensweisen hinterfragen und erkennen, dass sie uns einst als Schutzmechanismen gedient haben.

Wenn wir beginnen, uns unserer Überlebensmechanismen bewusst zu werden, können folgende Reflexionsfragen hilfreich sein:

  • Welche meiner Gewohnheiten oder Verhaltensweisen helfen mir, unangenehme Gefühle zu vermeiden?
  • Welche Reaktionen von mir scheinen auf Autopilot abzulaufen, ohne dass ich bewusst entscheide, wie ich handeln möchte?
  • In welchen Momenten fühle ich mich innerlich wie erstarrt, überfordert oder handlungsunfähig?
  • Gibt es Dinge, die ich tue, um mich besser zu fühlen, die aber auf lange Sicht mehr schaden als helfen?

Hindernisse beim Erkennen von Überlebensmechanismen

Es gibt Menschen, die sich ihren Traumatisierungen niemals zuwenden. Leider bietet unser gesellschaftliches Umfeld zahlreiche Möglichkeiten, das Verdrängen und Tabuisieren von Traumata durch Kompensationsangebote zu fördern. Beispiele dafür sind:

  • Mediale Ablenkung (Fernsehen, Internet etc.)
  • Warenkonsum und Werbung
  • Sportfanatismus
  • Drogenkonsum
  • Esoterische und spirituelle Praktiken

Selbst unser Gesundheitssystem ist oft so strukturiert, dass der Fokus auf körperliche Krankheitssymptome und die Verschreibung von Medikamenten liegt, anstatt den zugrunde liegenden Traumatisierungen Aufmerksamkeit zu schenken.

Ein Merksatz, den ich formuliert habe, kann dabei helfen, Überlebensmechanismen zu erkennen:

Alle Gedanken und Handlungen, die Dich von Dir selbst und anderen entfernen, sind Strategien zum Überleben. Echtes Leben beginnt, wenn Du aufhörst, den Gefühlen auszuweichen, die durch den Kontakt mit Dir selbst und anderen entstehen.

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Ist Sucht eine Folge von Trauma und kann man sich nachhaltig davon befreien? Diese und weitere Fragen ergründe ich in diesem Interview-Beitrag zusammen mit Prof. Dr. Franz Ruppert.

Vom Überleben zum Leben

Wenn ein innerer Leidensdruck uns zu unseren Traumagefühlen führt, erfordert es Mut, sich die eigenen Traumatisierungen einzugestehen. Dieser Prozess kann schmerzhaft und beschämend sein, besonders, wenn wir erkennen, dass wir Bewältigungsmechanismen entwickelt haben, um der Realität zu entkommen. Oft müssen wir uns dann der schmerzlichen Wahrheit stellen, dass wir Illusionen über unsere Eltern oder andere „geliebte“ Menschen gepflegt haben. Auch kann es schwer sein zu erkennen, dass wir Beziehungen strategisch genutzt haben, um unser Überleben zu sichern.

Doch in dem Moment, in dem wir uns entschließen, der Vergangenheit und den damit verbundenen Gefühlen erneut zu begegnen, beginnt die Befreiung. Ohne den Schutz unserer Strategien sind wir verletzlicher, aber auch lebendiger. Die Lebensenergie, die bisher in die Aufrechterhaltung dieser Schutzmechanismen geflossen ist, wird freigesetzt und steht uns nun zur Verfügung.

Überlebensmechanismen Grafik - Ganzwerdung

Diese Energie bringt uns in Kontakt mit unseren angelegten Fähigkeiten, Talenten und Potenzialen – Aspekten unserer Persönlichkeit, die vielleicht lange im Schatten der Überlebensstrategien verborgen lagen. Was einst eine Strategie zum Überleben war, kann sich in eine konstruktive Ressource verwandeln, die uns auf unserem Weg unterstützt.

Heilung bedeutet nicht, dass wir vergessen, was geschehen ist, sondern dass wir uns von der Vergangenheit lösen, um im Hier und Jetzt präsent zu sein. Mit jedem Schritt, den wir gehen, werden wir authentischer, klarer und freier. Beziehungen können echter werden, da sie nicht mehr auf strategischen Mustern beruhen. Das Leben selbst wird erfüllender, weil wir beginnen, es aus unserer inneren Kraft heraus zu gestalten.

Wenn wir also den Mut aufbringen, der Realität unserer Vergangenheit ins Auge zu blicken, öffnen wir die Tür zu einem Leben, das nicht mehr von Überlebensmechanismen bestimmt wird. Wir hören auf, bloß zu überleben – und fangen an, wirklich zu leben, in tiefer Verbindung zu uns selbst und zu anderen.

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Quellenverweise: 

Broughton, Vivian (2016): Zurück in mein Ich: Das kleine Handbuch zur Traumaheilung mit einem Nachwort von Franz Ruppert, 4. Edition, München

Heller, Laurence (2013): Entwicklungstrauma heilen: Alte Überlebensstrategien lösen – Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken – Das Neuroaffektive Beziehungsmodell zur Traumaheilung NARM, 7. Edition, München

Porges, Stephen (2010): Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. 4. Auflg., Lichtenau

Ruppert, Franz (2017): Symbiose und Autonomie: Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen. 5. Aufl., Stuttgart

Thimm, Mathias (2019): Der Poyvagalkreis. Abgerufen am 06.05.21, von http://familiebeziehungtrauma.blogspot.com/2019/08/der-polyvagal-kreis.html

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