Ehrliches Mitteilen (EM) als Schlüssel zur Heilung des Nervensystems
Im Jahr 2020 wurde ich über Youtube auf die Videos des Traumatherapeuten Gopal Norbert Klein aufmerksam und zeitgleich auf das von ihm entwickelte Kommunikationsmodell Ehrliches Mitteilen (EM). Seither übe ich diese Form der Kommunikation in einer lokalen Gruppe und beobachte spannende Veränderungen in mir und in meinen Beziehungen. In diesem Beitrag erkläre ich Dir, was genau das Ehrliche Mitteilen ist und wie es Entwicklungstrauma heilen kann. Abschließend lass ich Dich sogar an meinen persönlichen Erfahrungen auf meiner inzwischen knapp 4-jährigen EM-Reise teilhaben.
Was ist Ehrliches Mitteilen (EM)?
Das Ehrliche Mitteilen (EM) ist ein Kommunikationsmodell, das im Jahr 2017 von dem Traumatherapeuten Gopal Norbert Klein ins Leben gerufen wurde. Es ist eine Methode zur Heilung von Entwicklungs- und Bindungstrauma, die ganz ohne Therapeuten auskommt. Inzwischen ist das Ehrliche Mitteilen zu einer weltweiten Bewegung geworden. Neben internationalen lokalen Gruppen gibt es bereits auch ein EM-Café sowie ein EM-Magazin.
Bevor ich Dir erkläre, wie das ehrliche Mitteilen funktioniert, siehst Du hier schon mal auf einen Blick, welchen Einfluss es auf Dein Leben und Deine Beziehungen haben kann:
- Du wirst Dir Deiner eigenen Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken bewusst
Anfangs können sich starke Reaktionen zeigen, die verdeutlichen, wie dysreguliert Dein Nervensystem ist. Nach einer gewissen Zeit können auch abgespaltene Traumagefühle aufkommen, die dann gesehen, gefühlt und mitgeteilt werden wollen. Langfristig wirst Du durch das EM Lebensenergie in Dir freisetzen und in Deine ureigene lebendige Kraft zurückfinden. - Du kannst Deine Überlebensmechanismen entlarven und aufgeben
Es ist möglich, dass nach Deinem ersten Mal Überlebensmechanismen in Dir aktiv werden, die Dir einzureden versuchen, warum das EM nicht das richtige für Dich ist. Lass Dich davon nicht unterkriegen und bleib dran. Beim regelmäßigen Üben wirst Du auch bestimmte Verhaltensweisen und Äußerungen von Dir als Überlebensmechanismen erkennen und sie langfristig gehenlassen können. - Du lernst, wie sich echte Verbindung anfühlt
Je nachdem wie ausgeprägt Deine Traumatisierungen sind, kann sich echte Verbindung zu Beginn ungewohnt oder sogar bedrohlich anfühlen. Mit der Zeit wirst Du aber merken, dass es diese Verbindung ist, nach der Du Dein ganzes Leben gesucht hast. - Du transformierst Deine Beziehungen
Wenn Du eine Zeit lang übst, wirst Du erkennen, dass wir Menschen uns im Alltag meist nur mit Masken begegnen. Die Geschichten, die wir uns untereinander erzählen, können für Dich ab sofort langweilig werden. Generell können Beziehungen für Dich uninteressant werden, wenn die Bereitschaft zu authentischer Begegnung fehlt. - Du katapultierst Deine Partnerschaft auf ein neues Level
Das ehrliche Mitteilen hat das Potenzial, Deine Partnerschaft auf ein neues Level zu heben, sofern ihr beide bereit seid, es gemeinsam zu üben. Euer Umgang, speziell in Konfliktsituationen wird sich zum Positiven verwandeln und es entsteht eine neue und tiefere Form von Verbundenheit.
„…Mit unserer Beziehung hat es gemacht, dass wir achtsamer sind, rücksichtsvoller und auch respektvoller. Und ich habe das Gefühl, wir beide kommen immer mehr in unsere Kraft. Immer, wenn wir ins Ausagieren verfallen, werde ich krank. Und immer, wenn wir es schaffen, uns über eine längere Zeit tatsächlich ehrlich mitzuteilen, dann steigt die Energie wahnsinnig.“ Lubig, Christin (2023, März). Christin und Jakob auf dem Weg. Ehrliches Mitteilen Magazin (1), 22-23.
Wie funktioniert Ehrliches Mitteilen?
EM kann zu zweit oder in einer Gruppe geübt werden. Bei beiden Varianten kommen Menschen bewusst zusammen, um im Kontakt mit anderen das eigene Nervensystem zu regulieren. Alle Teilnehmer/innen bekommen den gleichen, vorab definierten Zeitrahmen (z.B. 10 Minuten), um sich mitzuteilen, während die anderen aufmerksam zuhören. Der Kontakt besteht beim EM darin, seine Erlebnisse ausschließlich auf folgenden drei Ebenen mitzuteilen:
- Körperebene
- Gefühlsebene
- Gedankenebene
Die Äußerungen von dem, was gerade in uns aktiv ist, wird auf diesen drei Erlebnisebenen mitgeteilt, ohne dass wir uns damit identifizieren. Also so, als hätten wir eine gewisse Distanz dazu. Zu diesem Zweck bedienen wir uns beim EM einfachen Satzanfängen und Floskeln:
Körperebene:
- Ich spüre Wärme in meinen Händen
- Ich spüre Anspannung in meinem Bauch
- Ich spüre Schmerz in meinem linken Fuß
- Ich spüre einen Druck im Hals
- Ich spüre Schwere auf meinen Augenliedern
Gefühlsebene:
- Ich fühle mich ängstlich
- Ich fühle tiefe Traurigkeit
- Ich fühle Scham
- Ich fühle mich einsam
- Ich fühle große Verwirrung
Gedankenebene:
- Mein Kopf denkt, dass ich das alles falsch mache
- Mein Kopf denkt, dass gleich etwas Schlimmes passiert
- Mein Kopf denkt gerade an den Film von gestern Abend
- Mein Kopf denkt, dass ich abgelehnt werde
Was sich hier zunächst einfach liest, hat es für unser Nervensystem ganz schön in sich. Denn im Alltag teilen wir uns für gewöhnlich nicht mit, welche Zustände wir im Kontakt zu anderen Menschen erfahren. Oder hast Du bei einem Vorstellungsgespräch schon mal offen ausgesprochen, dass Du gerade angespannt bist, Unsicherheit fühlst und denkst, dass Du für die Stelle nicht gut genug bist? Normalerweise zeigen wir uns in Gesprächen nicht wirklich mit alledem, was in uns vorgeht, sondern tauschen nur Geschichten aus.
Obwohl es rein theoretisch möglich ist, Dich überall ehrlich mitzuteilen, solltest Du vor allem am Anfang in einer lokalen Gruppe üben. Im Alltag besteht nämlich die Gefahr, dass Du an Menschen gerätst, die Dir nicht wohlgesonnen sind. Dadurch könntest Du in Deinen alten Mustern bestätigt werden, statt sie aufzulösen.
Lokale Gruppen als sichere Umgebung
Die lokalen Gruppen bieten einen klaren Rahmen und eine sichere Umgebung, um ehrliches Mitteilen zu üben und einen heilsamen Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Alle kommen hier mit demselben Ziel zusammen und befolgen vorab fest definierte Regeln.
Zu diesen Regeln oder Vereinbarungen gehören unter anderem die Absicht, regelmäßig zu üben, alle Störquellen für die Zeit des Treffens auszuschalten, eine feste Zeit zu definieren, die jeder für das Mitteilen bekommt und die Gewissheit, dass alle anderen Teilnehmer/innen aufmerksam zuhören, ohne zu unterbrechen. Auch Reaktionen in Form von bestimmten Gestiken oder Mimiken werden auf ein Minimum reduziert, um den Raum für den Sprechenden zu halten. Durch die Schaffung solch einer sicheren Umgebung wird ehrliches Mitteilen nie verletzend oder ermüdend, im Gegenteil, es fühlt sich immer gut an und ist oft sogar richtig spannend.
Grenzen beim Ehrlichen Mitteilen
Das Mitteilen von Grenzen hat beim Ehrlichen Mitteilen eine zentrale Bedeutung, denn es geht schließlich um die Heilung von Traumatisierungen. In meinem Infotext über Traumaheilung habe ich acht Säulen der Traumaheilung zusammengefasst, von denen eine wesentliche Säule Sicherheit ist. Nur wenn unser Nervensystem zu der Einschätzung kommen kann, dass wir sicher sind, ist Heilung möglich.
In meinem Erfahrungsbericht weiter unten wirst Du lesen, dass es mir zeitweise nicht gelungen ist, meine Grenzen offen mitzuteilen. Damit Dir dieser Fehler nicht unterläuft, liste ich Dir nachstehend ein paar Sätze auf, mit denen Du Deine Grenzen beim EM kommunizieren kannst, ohne die Situation verlassen zu müssen.
- Mein Kopf denkt, dass ich gerade nichts fühle/spüre/denke.
- Mein Kopf denkt, dass gerade alles zuviel für mich wird.
- Mein Kopf denkt, dass mir der Blickkontakt gerade nicht guttut.
- Mein Kopf denkt, dass es besser für mich wäre, jetzt aufzuhören.
- Mein Kopf denkt, dass ich jetzt den Raum verlassen möchte.
„Ehrliches Mitteilen bedeutet nicht, alles mitzuteilen und seine Grenzen zu überschreiten, sondern dass du so bleiben kannst, wie Du bist. Und genau das kommunizierst. „ *Klein, Gopal Norbert (2022): Der Vagusschlüssel zur Traumaheilung. Wie „Ehrliches Mitteilen“ unser Nervensystem reguliert.
Ziele vom Ehrlichen Mitteilen
Das ehrliche Mitteilen verfolgt das Ziel, das durch Entwicklungstrauma und Bindungstrauma dysregulierte Nervensystem wieder zu regulieren. Während der frühen Traumatisierungen, die wir alle mehr oder weniger davongetragen haben, konnten wir den Kontakt zu unseren wichtigsten Bezugspersonen nicht als sicher erleben. Indem wir jetzt lernen, dass wir mit all unseren Empfindungen, Gefühlen und Gedanken sein dürfen und nicht abgelehnt werden, lernt unser Nervensystem, dass Kontakt heute sicher ist.
Wenn Du an dieser Stelle Unklarheiten bemerkst, empfehle ich Dir meinen Beitrag über den Vagusnerv. Darin erkläre ich Dir, wie unser Nervensystem funktioniert und dass es ganz ohne unser Zutun manchmal Gefahren sieht, wo keine sind.
Langfristig soll das EM auch dazu dienen, einen neuen, besseren Umgang mit Konfliktsituationen zu finden. Konflikte agieren wir in der Regel durch Beschimpfungen, Schuldzuweisungen oder Vorwürfe aus. Worum es eigentlich geht, bleibt dabei meist unausgesprochen: Unsere Gefühle! Tatsächlich ist es nämlich unsere Gefühlsebene, die uns mit anderen verbindet. Damit ist sie auch die wesentliche Ebene zur Heilung von Bindungstraumatisierungen.
Wenn wir es schaffen, uns in Konfliktsituationen wirklich mit all unseren Gefühlen zu zeigen und diese mitzuteilen, können wir selbst erleben, wie sich Ruhe, Mitgefühl und Verständnis einstellen.
Wie Ehrliches Mitteilen Dein Leben transformiert
Das regelmäßige Üben vom Ehrlichen Mitteilen heilt Dein Nervensystem, wodurch sich zahlreiche positive Veränderungen einstellen werden. Dabei unterscheide ich den heilenden Einfluss auf uns selbst und den heilenden Einfluss auf unser Miteinander beziehungsweise unsere Beziehungen.
Heilender Einfluss auf Dich selbst
Durch das ehrliche Mitteilen steigt wahnsinnig viel ins Bewusstsein auf. Wir werden achtsamer und stärken die Verbindung zu unseren Körperempfindungen, Gefühlen/Emotionen und Gedanken.
Wenn wir in Folge von Trauma bestimmte Körperbereiche nicht gut spüren können, wird uns das beim EM deutlich bewusstwerden. Durch das regelmäßige Hinspüren ist es möglich, dass sich Taubheitsgefühle auflösen und sich bestimmte Empfindungen wieder einstellen.
Auch unser wahrgenommenes Gefühlsspektrum vergrößert sich, wenn wir uns mit dem EM auf Forschungsreise begeben. Im Alltag identifizieren wir häufig nur wenige Gefühle wie Freude, Trauer, Ärger, Wut, Neid, Ekel und Langeweile. Unsere Gefühlswelt ist aber weitaus facettenreicher, sodass wir mithilfe des EMs viele weitere Gefühle wahrnehmen können: Verwirrung, Zweifel, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Scham, Unsicherheit, Verletzlichkeit, Leere, Ehrfurcht, Unruhe, Ruhe, Harmonie, Geborgenheit, Aktivität, Begeisterung, Interesse, Spannung, Lebendigkeit, Stolz, Gelassenheit, Dankbarkeit und viele mehr.
Da wir beim EM auch unsere Gedanken mitteilen, werden wir erkennen, wie laut diese sind und wie sie unsere Empfindungen und Gefühle überschatten. Zudem werden wir beobachten, welchen unmittelbaren Einfluss unsere Gedanken auf unsere Gefühle haben. Dieses Erkennen kann uns im nächsten Schritt dazu auffordern, uns mehr mit unseren Gedanken und Glaubensmustern auseinanderzusetzen und diese für unsre Heilung zu transformieren.
Heilender Einfluss auf Deine Beziehungen
Viele Menschen neigen aufgrund ihrer eigenen Prägungen dazu, den Grund für die eigenen Gefühle beim Gegenüber zu suchen. Vermutlich bist Du da, genau wie ich, keine Ausnahme, oder? Durch das ehrliche Mitteilen begreifen wir, dass sich unsere Gefühle im ständigen Wandel befinden. Innerhalb von nur 10 Minuten können wir mit Angst, Unsicherheit, Wut, Freude, Entspannung und vielem mehr in Kontakt kommen. Unser Gegenüber hat damit überhaupt nichts zu tun. Er oder sie ist einfach nur da, um wertfrei zuzuhören. Wenn wir das in einer lokalen Gruppe erfahren, können wir es auch auf unsere privaten Beziehungen übertragen. Statt Groll gegen unseren Arbeitskollegen zu hegen, der immer laut schmatzt, können wir einfach wahrnehmen, dass da gerade Wut aufsteigt, ohne darauf zu reagieren.
Die meisten von uns neigen auch dazu, sich für die Gefühle anderer verantwortlich zu fühlen. Vielleicht kennst Du es selbst. Eine gute Freundin oder ein guter Freund ist niedergeschlagen und bricht vor Dir in Tränen aus. Vermutlich bist Du geneigt, diesen Gefühlsausdruck schlichten zu wollen, indem Du tröstende Worte aussprichst. Oft reagieren wir so, weil wir selbst damit überfordert sind oder in den Kontakt mit eigenen, ungeheilten Gefühlen kommen. Durch das ehrliche Mitteilen wirst Du lernen, auch die Gefühle anderer zu halten, ohne darauf reagieren zu müssen. Ich kann Dir sagen, es gibt kein größeres Geschenk, als den anderen einen Raum zu schenken, indem er oder sie sein kann, mit allem, was gerade da ist. Genau das ist es, was wir in unserer Kindheit nicht erfahren durften.
Besonders für Paarbeziehungen bietet das ehrliche Mitteilen einen großen Mehrwert. Statt Konflikte wie gewohnt auszuagieren und Deinen Partner oder Deine Partnerin zu beschimpfen oder zu beschuldigen, könnt ihr euch zusammensetzen und eure Empfindungen, Gefühle und Gedanken mitteilen. Ihr werdet merken, dass sich sofort Verbundenheit, Verständnis und Ruhe einstellen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass wir durch das EM zwei wesentliche Dinge lernen. Zum einen, mehr bei uns zu bleiben, statt zu projizieren und auszuagieren und zum anderen unser Gegenüber wirklich zu sehen und mit allem sein zu lassen, was gerade da ist.
Meine Erfahrungen mit dem Ehrlichen Mitteilen
Als ich über die Youtube-Videos von Gopal vom ehrlichen Mitteilen erfahren hatte, war ich sofort neugierig und habe auf seiner Website geprüft, ob es in meinem Wohnort bereits eine lokale Gruppe gibt. Ich war positiv überrascht, als ich auf Anhieb eine Gruppe finden konnte.
Das erste Treffen in einer lokalen Gruppe
Bei meinem ersten Treffen kamen wir als eine reine Frauengruppe in einem schönen, hellen Seminarraum zusammen. Wir machten es uns auf Yogamatten und –kissen gemütlich und ich erinnere mich noch, dass ich sehr aufgeregt war. Die Gruppenleiterin erklärte eingangs kurz die o.a. Regeln und zeigte sich bereit den Anfang zu machen. An ihrem Handy stellte sie einen Timer auf zehn Minuten und begann dann mit dem ehrlichen Mitteilen. In kurzen Ich-Sätzen teilte sie mit uns ihre Erlebnisräume und schaute dabei einer nach der anderen von uns in die Augen. Im Gegenzug schenkten wir ihr unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und hörten ihr zu, ohne dabei auf das von ihr Gesagte zu reagieren.
Schon in der Rolle der Zuhörerin bemerkte ich, dass der intensive Blickkontakt Stress in mir auslöste. Das merkte ich vor allem als Erleichterung, wenn der Blick zur nächsten Teilnehmerin überging. Gleichzeitig beeindruckte mich das tiefe Gefühl von Verbindung, das sich sehr schnell einstellte, obwohl ich die anderen Frauen gar nicht kannte. Es berührte einfach mein Herz, wie sie sich mit all ihren Unsicherheiten zeigten, die mir alle sehr bekannt vorkamen.
Diese Verbindung spürte ich jedoch nicht bei allen Teilnehmerinnen. Eine der Frauen verlor sich in allgemeingültigen Aussagen und spirituellen Phrasen wie: „Ich spüre Weite“ oder „Mein Herz ist voller Dankbarkeit.“ Ihr Blick und ihr Körper signalisierten aber eher Unsicherheit und Stress. Gopal beschreibt das Sprechen über energetische Räume oder Hellfühlen als eine Flucht aus dem wirklichen Kontakt mit dem Gegenüber und den damit verbundenen Gefühlen. Für mich war es eine spannende Beobachtung, direkt zu Beginn diesen Unterschied kennenzulernen.
Mein erstes Mal Ehrliches Mitteilen
Irgendwann war es dann so weit und ich war dran. Die Gruppenleiterin stellte den Timer für meine zehn Minuten. Plötzlich stand ich im Mittelpunkt. Die Körper und Augen der anderen waren auf mich gerichtet. Das löste unmittelbar eine enorme Stressreaktion in mir aus und verunsicherte mich. Ich weiß noch, dass es sich wie eine Welle aus Angst anfühlte, die von oben nach unten durch meinen gesamten Körper floss.
Während ich versuchte, mithilfe der Sätze meine inneren Zustände mitzuteilen, wurde mir schwindelig und in meinem Kopf fing es laut an zu rauschen. Es war, als würde ich jeden Moment bewusstlos werden. Die Aufmerksamkeit und das gehört werden waren für mich scheinbar so befremdlich, dass es zu einer massiven Überforderung führte. Schnell wurde mir klar, dass diese Reaktionen Fluchtmechanismen waren. Mein gesamtes System wollte aus dieser Situation raus!
Ähnlich fühle ich mich übrigens auch in Vortragssituationen. Der Unterschied zum ehrlichen Mitteilen war, dass ich hier überhaupt nichts abliefern musste und nicht bewertet wurde. Ich konnte also all das teilen, was ich für gewöhnlich in solchen Situationen unterdrücke:
- Ich spüre Anspannung in meinem gesamten Körper, ich spüre, dass meine Hände schwitzen, ich spüre Enge in meiner Kehle…
- Ich fühle mich verunsichert, ich fühle mich unter Druck, ich fühle Angst….
- Mein Kopf denkt, dass ich den Raum verlassen möchte, mein Kopf denkt, dass ich mich gerade blamiere, mein Kopf denkt, dass ich wertlos bin….
Puh, ich glaube das waren mit die längsten zehn Minuten meines Lebens! 🙂
Im Anschluss fühlte ich mich ganz schön erschöpft, aber gleichzeitig auch genährt und energetisiert. Vor allem fühlte ich mich mit den anderen verbunden und das, obwohl ich vermeintlich nichts aus ihrem Leben wusste. Ich wusste nur, wie sie sich in den letzten Minuten gefühlt haben und das war so viel mehr, als ich in einem Small Talk jemals erfahren hätte.
Aufgrund dieser Erfahrungen wusste ich, dass ich dranbleiben möchte. Es reichte ein Treffen, um die transformative Kraft dieser eigentlich so einfachen Übung zu erkennen und meine Begeisterung zu entfachen.
Mehr ich selbst sein durch Ehrliches Mitteilen
Nach diesem ersten Mal EM trafen wir uns einmal pro Woche, um gemeinsam zu üben. Mit der Zeit wurden meine starken Körperreaktionen bzw. Fluchtimpulse weniger. In meinem Nervensystem schien anzukommen, dass hier keine Bedrohung oder Lebensgefahr besteht. Dadurch konnte ich von Mal zu Mal immer mehr Gefühle und Empfindungen wahrnehmen und mitteilen.
Nach einigen Monaten beobachtete ich auch Veränderungen in meiner Selbstwahrnehmung. Während ich mich als Zuhörerin anfangs noch recht häufig verantwortlich für die Gefühle der anderen gefühlt habe, konnte ich die Gefühle immer mehr bei der anderen lassen. Das hatte etwas unheimlich Erleichterndes.
Umgekehrt konnte ich es als Sprecherin mehr und mehr genießen, meine Gefühle auszudrücken, ohne dass jemand anderes etwas damit macht oder mir reinredet. In meiner Familie war das undenkbar. Da wurden alle meine Gefühle sofort zurückgewiesen, kleingeredet oder sogar bestraft.
Umgang mit Herausforderungen beim Ehrlichen Mitteilen
Nach einer gewissen Zeit entstand eine weitere gemischte lokale Gruppe in meinem Wohnort. Obwohl ich mit meinem damaligen Partner im Zweiersetting bereits EM geübt hatte, waren meine Hemmungen, mich vor anderen Männern mitzuteilen, groß. Aufgrund meiner Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht erschien es mir nicht sicher, mich vor ihnen in dieser Form zu öffnen. Irgendwann wollte ich es dann aber doch ausprobieren und mich meinen Ängsten stellen.
In der neuen Gruppe gab es einen Mann, der an sich total sympathisch war, dessen Augen mich aber an die meines Vaters erinnerten. Mit diesem Trigger fand ich leider zum damaligen Zeitpunkt noch keinen guten Umgang. Auf der einen Seite verstand ich nicht, dass ich meine Grenzen wie oben beschrieben mitteilen kann und zum anderen wusste ich nicht, dass ich mich nicht zu dem Blickkontakt hätte zwingen müssen. Weil ich das aber tat, fühlte ich mich nach den Treffen unheimlich unwohl, verwirrt, kraftlos und traurig. Aus diesem Grund habe ich nach mehreren Versuchen aufgehört, in der gemischten Gruppe zu üben.
Zum Glück habe ich durch die Videos von Gopal inzwischen gelernt, dass der Blickkontakt gar nicht notwendig ist. Es ist nämlich durchaus auch möglich, auf die Schulter zu schauen oder an der Person vorbei, wenn sich das sicherer anfühlt. Außerdem weiß ich heute, dass ich meine Grenzen jederzeit mitteilen kann. In diesem Fall hätte das so aussehen können:
- Ich spüre Anspannung, ich spüre Unsicherheit.
- Ich fühle mich unwohl, ich fühle Abneigung, ich fühle Ekel.
- Mein Kopf denkt, dass ich hier in Gefahr bin, mein Kopf denkt, dass ich die Übung abbrechen will, mein Kopf denkt, dass ich gerade überfordert bin.
Seit circa zwei Jahren gibt es nun unsere Frauengruppe leider nicht mehr. Seither habe ich viele heilende und schöne Erfahrungen in der gemischten Gruppe gemacht. Heute weiß ich, dass ich hier nichts machen muss, was mir in irgendeiner Form widerstrebt! Das Erleben von Sicherheit soll sich beim Ehrlichen Mitteilen vergrößern und nicht umgekehrt.
Lerne die Heilkraft des Ehrlichen Mitteilens selbst kennen
Man muss es tatsächlich selber ausprobieren, um zu verstehen, wie diese Form der Kommunikation Heilung bringt. Wenn Du neugierig geworden bist und das EM auch ausprobieren möchtest, kannst Du Dir über die Website von Gopal oder die Telegramgruppe eine lokale Gruppe in Deiner Nähe raussuchen und Dich zu einem Treffen anmelden.
„Jeder Mensch kann selbst für seine Heilung sorgen, indem er den Kontakt, der ihm als Kind nicht möglich war, heute herstellt.“ *Klein, Gopal Norbert (2022): Der Vagusschlüssel zur Traumaheilung. Wie „Ehrliches Mitteilen“ unser Nervensystem reguliert.
Hast Du schon mal an einer lokalen Gruppe teilgenommen oder übst vielleicht sogar schon regelmäßig das Ehrliche Mitteilen? Was sind Deine Erfahrungen damit? Ich freue mich auf Deinen Kommentar! 🙂
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Quellenverweise:
Klein, Gopal Norbert. (2022). Der Vagusschlüssel zur Traumaheilung. Wie „Ehrliches Mitteilen“ unser Nervensystem reguliert. (1. Aufl.). Gräfe und Unzer Verlag.
Lubig, Christin (2023, März). Christin und Jakob auf dem Weg. Ehrliches Mitteilen Magazin (1), 22-23.