Bindungstrauma

Ernährungsverhalten und Bindung

Wie frühe (Bindungs-) Prägungen Dein Ernährungsverhalten steuern

Ein beeinträchtigtes Ernährungsverhalten ist weit verbreitet und betrifft Menschen aller Altersgruppen und sozialer Hintergründe, wobei Frauen besonders häufig betroffen sind. Was viele nicht wissen, ist, dass die Ursachen für unser Ernährungsverhalten und unsere Körperwahrnehmung oft tief in den frühen Prägungen unserer Kindheit verwurzelt sind. In diesem Beitrag zeige ich auf welche Einflussfaktoren unser Ernährungsverhalten bestimmen und wie diese zur Entstehung von destruktiven Ernährungsmustern oder Essstörungen sowie zu einer negativen Körperwahrnehmung beitragen. Am Ende wird deutlich, dass die Aufarbeitung von Kindheitstraumata unerlässlich ist, um Frieden mit uns selbst und unserer Ernährung zu finden. Bis Du professionelle Hilfe gefunden hast, bekommst Du von mir sechs Tipps zur Selbsthilfe.

Ist Dein Ernährungsverhalten problematisch?

Bist Du unsicher, ob dieser Beitrag für Dich relevant ist? Dann schau doch mal, ob Du Dich in den folgenden Punkten wiedererkennst:

  • Du wirst unruhig, gereizt und kannst nicht mehr klar denken, wenn Du hungrig bist?
  • Du belohnst Dich mit leckerem Essen, wenn Du einen harten Tag oder herausfordernde Aufgaben hinter Dir hast?
  • Du greifst zum Essen, wenn Du gestresst, wütend, gelangweilt oder traurig bist?
  • Du leidest unter Heißhungerattacken, die oft in einem unkontrollierbaren Fressanfall ausarten?
  • Du greifst häufig zu ungesunden Lebensmitteln wie Süßigkeiten und Fettigem und hast danach ein schlechtes Gewissen?
  • Du neigst zum Überessen und erkennst zu spät, dass Du gar keinen Hunger mehr hast?
  • Du hältst Dich an strenge Ernährungsregeln, die Dich manchmal im Alltag einschränken?
  • Du fastest regelmäßig, weil Du Dich dann stark und kontrolliert fühlst?
  • Du kämpfst unablässig um ein selbst auferlegtes Idealgewicht, zählst ständig Kalorien und machst eine Diät nach der anderen? 
  • Du treibst exzessiv Sport und fühlst Dich schlecht, wenn Du dem mal nicht nachgehen kannst?

Wenn Du Dich in diesen Beschreibungen wiederfindest, fragst Du Dich nun, ob Dein Ernährungsverhalten und Dein Umgang mit Hunger oder Emotionen normal oder bedenklich ist. Um das herauszufinden, sollten wir uns zuerst eine grundlegende Frage stellen: Worum geht es beim Essen eigentlich?

Die eigentliche Bedeutung von Nahrungsaufnahme

Nahrungsaufnahme dient dem Menschen im eigentlichen Sinne zur Versorgung des Körpers mit den notwendigen Nährstoffen, die für das Überleben und die Gesundheit essenziell sind. Nahrung liefert Energie, die unser Körper benötigt, um grundlegende Funktionen wie Atmung, Kreislauf, Wachstum und Zellreparatur aufrechtzuerhalten. Makronährstoffe wie Kohlenhydrate, Fette und Proteine liefern die Energie, während Mikronährstoffe wie Vitamine und Mineralstoffe zahlreiche biochemische Prozesse unterstützen.

Darüber hinaus spielt das Essen in unserer Gesellschaft auch eine wichtige Rolle in der sozialen und kulturellen Interaktion. Gemeinsame Mahlzeiten fördern ein Gemeinschaftsgefühl, Austausch und soziale Bindungen. Ist Nahrungsaufnahme also doch viel mehr als eine physiologische Notwendigkeit? Das folgende Kapitel lässt uns dieser Frage genauer auf den Grund gehen.

Wie und wann wird unser Ernährungsverhalten geprägt?

Unser Ernährungsverhalten ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren. Besonders entscheidend sind dabei die frühkindlichen Erfahrungen, die wir im Umgang mit Nahrung machen. Diese prägen nicht nur unsere heutigen Ernährungsgewohnheiten, sondern auch, wie wir unseren Körper wahrnehmen und bewerten.

Frühe Ernährung

Vorgeburtliche und frühe Prägungen durch Trauma

Frühkindliche Bindungstraumatisierungen können zu destruktiven Ernährungsgewohnheiten, Essstörungen und einer negativen Körperwahrnehmung führen. Doch in welchen Entwicklungsphasen sind wir besonders anfällig für solche Prägungen?

Transgenerationales Trauma
Unser Ernährungsverhalten kann tatsächlich bereits vor unserer Geburt durch Traumatisierungen früherer Generationen beeinflusst werden – etwa wenn unsere Vorfahren in Kriegszeiten Hunger litten. Wenn solche existenziellen Traumata in der Familie nicht aufgearbeitet wurden, können deren Auswirkungen noch heute in Form von Essstörungen und einem verzerrten Körperbild in uns weiterwirken.

Vorgeburtliches Bindungstrauma
Während wir im Mutterleib heranwuchsen, wurden wir über unsere Mutter mit Nahrung versorgt. Ihre Verfassung spielte dabei eine entscheidende Rolle für unser Wohlbefinden. Da wir eins mit ihr waren, wurden wir nicht nur von ihrer physischen Gesundheit beeinflusst, sondern auch von ihren emotionalen Zuständen und ihrer Einstellung zum Essen. Nahm sie gesunde Nahrungsmittel zu sich oder eher ungesunde, begleitet von Schuldgefühlen? Hat sie das Essen genossen, oder hatte sie Angst, zu dick zu werden? Stresshormone wie Cortisol können über die Plazenta auf das ungeborene Kind übertragen werden, was dessen Entwicklung beeinflussen und zu einer erhöhten Anfälligkeit für Stress und Angstzustände führen kann. Es wird also deutlich, dass diese frühen Einflüsse das spätere Ernährungsverhalten und Körperbild prägen können.

Bindungstrauma nach der Geburt
Nach der Geburt erfolgt die Nahrungsaufnahme meist über das Stillen, das jedoch weit mehr als nur Ernährung ist. Der Stillvorgang fördert auch die Bindung zwischen Mutter und Kind, da Hautkontakt, liebevoller Blickkontakt und emotionale Nähe essenziell für das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit sind. Fehlt diese emotionale Nahrung, kann dies ein Ungleichgewicht im Ernährungsverhalten und der Körperwahrnehmung auslösen. Kinder, die emotional vernachlässigt wurden, suchen oft Ersatz in Nahrung, um das Gefühl der Leere zu füllen.

Wenn das Stillen ausblieb, fehlte die Erfahrung der natürlichsten Form von genährt werden, was sich ebenfalls auf das spätere Leben auswirken kann. Auch die Art und Weise, wie das Stillen erfolgte, spielt eine Rolle: War es ein Moment der Freude und Verbindung, oder war es von Stress und Widerstand geprägt? Wurden wir unmittelbar gestillt, wenn wir Hunger hatten, oder mussten wir uns hungrig in den Schlaf weinen?  

Deshalb werden wir emotional, wenn wir Hunger haben!

Hast Du Dich schon mal gefragt, warum viele von uns innere Unruhe, Reizbarkeit oder sogar Angst verspüren, wenn sie hungrig sind? Der Grund dafür liegt in der tiefen Verbindung zwischen Hunger und den emotionalen Zuständen, die in unseren frühen Lebensphasen geprägt wurden.

Als Säuglinge und Kleinkinder waren wir vollständig auf unsere Bezugspersonen angewiesen, um unsere Grundbedürfnisse, einschließlich Nahrung, erfüllt zu bekommen. Wenn wir hungrig waren und unsere Bezugsperson nicht zuverlässig auf dieses Bedürfnis reagiert hat, entstand in uns eine Todesangst. Wir fühlten uns ohnmächtig, hilflos und verlassen. Kognitiv konnten wir nicht begreifen,  dass wir früher oder später wieder Nahrung erhalten werden. Durch solche frühen Erfahrungen wurde unsere emotionale Reaktion auf Hunger nachhaltig geprägt, sodass wir auch im Erwachsenenalter mit innerer Unruhe reagieren, wenn wir hungrig sind. Der physische Zustand des Hungers wird zum Trigger, der die tief verwurzelte Gefühle von Ohnmacht und Angst reaktiviert.
Die Ernährungsberaterin Madeleine Dähling bringt es in ihrem Blog-Beitrag treffend auf den Punkt:

„Wenn der Fokus auf die Ernährung immer größer wird, dann liegt das daran, dass das Essen zur Projektionsfläche für ein anderes Thema wird.“ (Dähling, Madeleine 2024).

Das unsere Ernährungsgewohnheiten bereits in der Kindheit geprägt werden, belegt auch eine Studie der Ernährungswissenschaftlerinnen Aida Faber und Laurette Dubé von der McGill University in Montreal (Kanada). Sie untersuchten, wie die Bindung zwischen Eltern und Kindern das spätere Essverhalten beeinflusst. Dazu befragten sie 213 Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren zu ihrer Beziehung zu den Eltern und ihrer Ernährung. Die Ergebnisse zeigten: Kinder mit einem unsicheren Bindungsstil griffen häufiger zu hochkalorischen Lebensmitteln und hatten weniger Kontrolle über ihr Ernährungsverhalten im Vergleich zu Kindern mit einem sicheren Bindungsstil. Der unsichere Bindungsstil schien Stress auszulösen, der durch emotionales Essen – insbesondere durch den Konsum von fettigen, süßen oder salzigen Speisen – kompensiert wurde. Zudem befragten die Forscherinnen 216 Erwachsene, die rückblickend ihren Bindungsstil in der Kindheit und ihr aktuelles Ernährungsverhalten beschrieben. Auch hier zeigte sich, dass die Kindheit nachwirkte: Erwachsene mit einer unsicheren Bindung an die Eltern konsumierten mehr Kalorien als diejenigen, die als Kinder eine sichere Bindung entwickelt hatten.

Einfluss des familiären und sozialen Umfelds

Auch im weiteren Verlauf unserer Kindheit werden wir durch unsere Familie, andere nahestehende Bezugspersonen und Institutionen wie Kitas, Schulen oder Vereine etc. im Zusammenhang mit Ernährung und Körperwahrnehmung geprägt. Die folgenden Beispiele und Fragen kannst Du nutzen, um Dir über Deine Prägungen klar zu werden.

Die Rolle der Eltern als Vorbild
Unsere Eltern oder andere nahe Bezugspersonen sind oft die ersten und prägendsten Vorbilder in Sachen Ernährung und Körperwahrnehmung. Wie haben wir sie im Umgang mit Ernährung erlebt? Fühlten sie sich wohl in ihrem Körper? Aßen sie gerne, oder waren Diäten und Selbstkritik an der Tagesordnung? Verglichen sie sich mit anderen, oder sprachen sie negativ über ihre eigene Figur oder die anderer? Wenn unsere Eltern ein negatives Verhältnis zum Essen und ihrem Körper hatten, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir diese Muster übernommen haben.

Weitere Erfahrungen in der Kindheit
Auch andere Erfahrungen mit Ernährung innerhalb und außerhalb der Familie spielen eine große Rolle. Was haben wir über Ernährung im Kindergarten oder der Schule gelernt? Wurden Nahrungsmittel als Belohnung oder Bestrafung eingesetzt? Wurden wir ermahnt, mehr oder weniger zu essen? Wurden wir für unsere Figur gelobt oder kritisiert? Solche Erlebnisse führen dazu, dass das Essen nicht nur als Nahrungsmittel gesehen wird, sondern als Instrument zur Kontrolle und Bewertung. Wenn Du Dich auch heute noch mit Nahrungsmitteln belohnst, zum Beispiel nach einem anstrengenden Tag, hast Du solche Erfahrungen vermutlich verinnerlicht. 

Medien und Werbung als Einflussfaktor
Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss von Film, Fernsehen und Werbung auf unsere Körperwahrnehmung und unser Ernährungsverhalten. Von klein auf wird uns in Filmen, Serien und Werbespots vermittelt, welche Körper als schön gelten und welche nicht. Mithilfe von Werbespots wird versucht, bestimmte Lebensmittel mit Gefühlen oder Lebenssituationen zu verknüpfen, um uns so zu konditionieren und unser Kaufverhalten zu beeinflussen. Wer kennt sie nicht, die Bilder von Menschen, die bei Liebeskummer Eiscreme oder Schokoladenkuchen essen, oder die Szenen, in denen im freudigen Kontext Alkohol getrunken wird? Doch welche menschlichen Vorgänge macht sich die Werbung hier zunutze? 

Wann wird unser Ernährungsverhalten zum Problem?

Wir wissen nun bereits, dass das Essen eng mit sozialer Bindung verknüpft ist, die für uns Menschen genauso lebenswichtig ist wie Nährstoffe selbst. Problematisch wird unser Ernährungsverhalten dann, wenn es als Ersatz für menschliche Nähe dient oder zur Hauptstrategie wird, um emotionale Belastungen zu bewältigen. Auch wenn Essen oder der Verzicht darauf die einzige Methode ist, um sich in herausfordernden Momenten zu regulieren und besser zu fühlen, spricht das für tieferliegende Probleme.

Ein ungesundes Verhältnis zum Essen zeigt sich ebenfalls, wenn die Nahrungsaufnahme den Alltag dominiert: sei es durch übermäßiges Essen, extremes Fasten oder den ständigen Konsum ungesunder Lebensmittel. Es verhält sich ähnlich wie bei einer Sucht: Man tut etwas, obwohl man weiß, dass es einem schadet – und dennoch kann man nicht damit aufhören.

Wenn gesundheitliche Beschwerden wie Über- oder Untergewicht, Magen-Darm-Probleme, Diabetes oder Entzündungen auftreten, kann das ebenfalls auf ein problematisches Ernährungsverhalten zurückgeführt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unser Ernährungsverhalten problematisch wird, wenn es zu einem spürbaren Leidensdruck führt oder gesundheitliche Schäden verursacht.

Allgemeines Verständnis von Essstörungen

Essstörungen gelten im allgemeinen Verständnis als ernsthafte psychische Erkrankungen, die in verschiedenen Formen auftreten, wie Magersucht (Anorexia nervosa), Bulimie (Bulimia nervosa) oder Binge-Eating-Störung. Auch emotionales Essen, bei dem Menschen auf Emotionen wie Stress, Angst oder Einsamkeit mit Essen reagieren, kann als Essstörung betrachtet werden. Dabei greifen Betroffene oft zu kalorienreichen, zuckerhaltigen oder fettigen Lebensmitteln, dem sogenannten “Comfort Food”, selbst wenn kein physischer Hunger besteht. Diese Form des Essens bietet jedoch nur kurzfristige Erleichterung und wird häufig von Schuldgefühlen oder Scham abgelöst.

Essstörungen

Was alle Essstörungen gemeinsam haben, ist ein ungesundes Ernährungsverhalten und ein verzerrtes Körperbild, das Betroffene in einem Kreislauf von negativen Gefühlen und Essgewohnheiten gefangen hält. Doch sind Essstörungen wirklich Erkrankungen? Oder können sie vielmehr als Überlebensmechanismen verstanden werden, die sich aus frühkindlichen Traumata entwickeln?

Essstörungen als Überlebensstrategien

Ich persönlich betrachte Essstörungen und schlechte Ernährungsgewohnheiten als Symptome von frühen Entwicklungs- und Bindungstraumatisierungen. Diese Verhaltensweisen sind Versuche, sich an ein destruktives Umfeld anzupassen und Kontrolle über eine ansonsten ohnmächtige Lebenssituation zu erlangen. Betroffene versuchen durch strenge Disziplin und spezifische Ernährungsgewohnheiten, die Kontrolle zurückzugewinnen, die ihnen im traumatischen Umfeld entzogen wurde.

Das Erreichen eines gewünschten Körpergewichts durch strenge Ernährungspläne, Diäten, Fastenkuren oder exzessiven Sport erscheinen als Wege, um etwas zu bewirken, das vermeintlich Glück und Erfüllung bringt.

Doch in Wahrheit sind diese Bemühungen oft Illusionen, die von der eigentlichen inneren Not ablenken. Essstörungen können somit als Vermeidungsstrategie dienen, um die schmerzhaften Gefühle zu verdrängen, die mit den Traumatisierungen verbunden sind.

Essstörungen als Schutzmechanismus bei Missbrauch

Besonders im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch kann das Hungern oder Überessen als Schutzmechanismus betrachtet werden. Ein Mädchen, das sexuelle Übergriffe erleidet, könnte versuchen, sich durch drastisches Abnehmen ihres weiblichen Körpers zu entledigen. Ein Junge, der Missbrauch erfährt, könnte übermäßig essen, um durch Gewichtszunahme unattraktiv für seine Täter zu werden und diese von sich fernzuhalten.

Tragischerweise verstärken Betroffene ihre Not durch die Essstörung noch weiter. Diese ist bereits ein Überlebensmechanismus, der viel Energie und Kraft kostet. Werden dem Körper dann zusätzlich gesunde Nährstoffe entzogen oder wird er durch exzessives Verhalten belastet, kann dies langfristig zu Erschöpfung, Depressionen und anderen gesundheitlichen Problemen führen.

Um ein ungesundes Ernährungsverhalten zu verändern, darf das Thema Essen nicht isoliert betrachtet werden. Deshalb führt es langfristig nicht zum Erfolg, wenn Gelüste zwanghaft unterdrückt werden oder immer wieder gegen Essanfälle angekämpft wird. Auf einer tiefen Ebene scheinen diese Dinge noch lebensnotwendig für das Nervensystem. Erst wenn die Bereitschaft da ist, die Ursache dieser Überlebenskämpfe zu ergründen, können sie wirklich losgelassen werden.

Ernährungsverhalten ändern - Ganzwerdung

Warum sich Essen so gut als Überlebensstrategie eignet

Ein weiterer Grund, warum wir oft zum Essen greifen, um emotionale Herausforderungen und Stress zu bewältigen, liegt in den körperlichen und psychologischen Reaktionen, die bestimmte Lebensmittel in uns auslösen. Ich halte es für sinnvoll, diese Mechanismen kurz zu betrachten:

Körperliche Reaktionen:
Der Verzehr von Nahrungsmitteln setzt Neurotransmitter und Hormone frei, die unser Wohlbefinden beeinflussen. Genussvolles Essen aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn, was zur Freisetzung von Dopamin führt und uns Zufriedenheit und Wohlbefinden spüren lässt. Besonders kohlenhydratreiche Lebensmittel fördern die Produktion von Serotonin, das stimmungsaufhellend wirkt. Zuckerhaltige Lebensmittel lassen den Blutzuckerspiegel rasch ansteigen, was kurzfristig Energie und ein gutes Gefühl gibt, jedoch oft von einem schnellen Abfall des Blutzuckerspiegels gefolgt wird.

Psychologische Reaktionen:
Bestimmte Lebensmittel sind oft mit positiven Erinnerungen verknüpft, sei es durch besondere Lebensmomente oder durch den Einfluss von Werbung, die emotionale Assoziationen schafft. Der Verzehr solcher Lebensmittel kann dann ein Gefühl von emotionaler Sicherheit und Nostalgie hervorrufen. Bei Stress neigt unser Körper dazu, uns dazu zu veranlassen, nach Energiequellen zu suchen, um den Stress zu bewältigen – daher rührt der häufige Heißhunger auf kalorienreiche Lebensmittel in stressigen Zeiten.

Das Verständnis dieser Zusammenhänge kann Dir helfen, bewusster mit Deinem Ernährungsverhalten umzugehen und die emotionalen Auslöser besser zu erkennen. So kannst Du gesündere Essgewohnheiten entwickeln und erste Schritte zur Vorbeugung oder Heilung von destruktiven Ernährungsgewohnheiten oder Essstörungen einleiten.

Traumabewältigung als Schritt zu einem gesunden Ernährungsverhalten

Du hast nun einen Überblick darüber erhalten, auf wie vielfältige Weise Dein Ernährungsverhalten beeinflusst wird, welche tiefsitzenden Ursachen dahinterstehen können und welche Folgen dies nach sich ziehen kann. Wenn Du selbst betroffen bist, fragst Du Dich jetzt wahrscheinlich, wie Du zu einem gesunden Umgang mit dem Essen zurückfinden kannst. Diese nachstehenden sechs Schritte können ein guter Anfang sein.

Selbsthilfe für ein gesundes Ernährungsverhalten

1. Akzeptiere, dass Dein Ernährungsverhalten beeinträchtigt ist
Der erste Schritt zur Veränderung ist das Eingeständnis, dass Dein aktuelles Ernährungsverhalten problematisch ist. Diese Erkenntnis erfordert Mut, ist aber entscheidend, um den Weg zur Heilung zu beginnen.

2. Ergründe die Ursachen Deines Ernährungsverhaltens
Verstehe, dass das Essen und Dein Körper nie das eigentliche Problem waren. Die Ursachen für Dein Ernährungsverhalten liegen in alten, tiefsitzenden Traumawunden. Solange Du nur die Symptome behandelst, bleibt die zugrundeliegende Ursache bestehen. Frage Dich, welche Gefühle Du mithilfe des Essens vermeidest und welche emotionalen Bedürfnisse Du Dir damit zu erfüllen versuchst und ergründe so die Ursachen für Deine Ernährungsprobleme.

3. Erweitere Dein Bewusstsein und Wissen
Verständnis ist der Schlüssel zur Veränderung. Beschäftige Dich mit den psychologischen und physiologischen Mechanismen hinter Deinem Ernährungsverhalten. Je mehr Du über die Zusammenhänge zwischen Trauma, Ernährung und Körperwahrnehmung weißt, desto besser kannst Du Dein Verhalten verstehen und ändern.

4. Reguliere Dein Nervensystem auf konstruktive Weise
Unverarbeitete Traumatisierungen halten Dein Nervensystem ständig auf Hochtouren. Dieser Zustand ist anstrengend und verlangt nach Regulierung. Oft greifen wir dabei zu Essen, weil es kurzfristig beruhigend wirkt. Es ist wichtig, dass Du jetzt alternative Wege findest, um Dein Nervensystem zu beruhigen, zum Beispiel durch Atemtechniken, Meditation oder Bewegung. Auch ein entspannendes Bad, ein Spaziergang in der Natur oder das Lesen eines guten Buches können Dir helfen, Dich selbst zu nähren, ohne auf Essen zurückzugreifen.

In meinem Beitrag über den Vagusnerv gebe ich Dir acht einfache Übungen an die Hand, um Dein Nervensystem zu regulieren. Außerdem findest Du darin Buchempfehlungen, um Dein Wissen zu diesem Thema zu vertiefen.

Vagusnerv stimulieren

Der Vagusnerv und die Bedeutung der Polyvagal-Theorie für die Traumaheilung

5. Lerne, Dich selbst zu lieben und gut für Dich zu sorgen
Oft versuchen wir, durch Anpassung an andere Menschen die Liebe und Anerkennung zu bekommen, die wir früher nicht erhalten haben. Doch das führt nur zu einem Teufelskreis aus Frustration und emotionalem Essen. Es ist wichtig, dass Du lernst, Dir selbst die Fürsorge zu geben, die Du brauchst. Werde die Person, die Du Dir als Kind oder in Beziehungen gewünscht hast, und fülle Deine innere Leere nicht länger mit Essen. Akzeptiere auch Deinen Körper so, wie er ist, und konzentriere Dich auf seine Fähigkeiten und Stärken, anstatt nur auf das äußere Erscheinungsbild.

6. Verändere bewusst Deine Ernährungsgewohnheiten
Beobachte genau, wann und warum Du zu bestimmten Lebensmitteln greifst. Welche Gefühle oder Situationen lösen Dein Verlangen aus? Wurdest Du durch Werbung oder emotionale Trigger dazu animiert, zu essen? Gibt es eine gesündere Weise, Dein Bedürfnis zu stillen? Lerne, Dein Essverhalten zu hinterfragen und auf die Signale Deines Körpers zu hören, statt aus Gewohnheit oder emotionalen Impuslen heraus zu essen. Wenn Du zum Beispiel aus Langeweile isst, ersetze das Essen durch eine andere Aktivität, die Dir Freude bereitet und guttut.

Therapeutische Unterstützung für ein gesundes Ernährungsverhalten

Da Dich Deine Überlebensmechanismen je nach Zeitpunkt und Schwere der Traumatisierungen womöglich schon Dein ganzes Leben begleiten, empfehle ich, Deine frühen Prägungen und lebenslangen Konditionierungen mithilfe einer Therapie aufzuarbeiten. Unter fachmännischer Betreuung kannst Du ein neues Ernährungsverhalten etablieren. Die folgenden therapeutischen Ansätze können dabei hilfreich sein:

  • Kognitive Verhaltenstherapie (CBT): Diese Therapieform hilft Dir, ungesunde Denkmuster zu erkennen und zu verändern, die zu einem beeinträchtigten Ernährungsverhalten führen.
  • Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT): Ursprünglich zur Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickelt, kann DBT auch bei Essstörungen helfen, indem sie emotionale Regulation und Achtsamkeit fördert.
  • Traumatherapie: Traumatherapeutische Ansätze wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) können Dir helfen, tief verwurzelte emotionale Wunden zu heilen und ein Leben frei von alten Belastungen zu leben.
  • Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann Dir das Gefühl geben, verstanden zu werden und weniger allein zu sein. Außerdem kann Dir eine Gruppentherapie helfen, herauszufinden, welche Unterstützung für Dich am besten ist.

Es ist wichtig zu wissen, dass Heilung nicht von heute auf morgen geschieht. Sie ist ein Prozess, der Geduld, Selbstmitgefühl und professionelle Unterstützung erfordert. Doch wenn Du diesen Weg einschlägst, Dich Deiner Vergangenheit stellst, um neue, gesunde Überzeugungen zu entwickeln, kannst Du ein harmonisches Verhältnis zum Essen und zu Deinem Körper herstellen.

Ich hoffe, dass Dir mein Beitrag neue Einblicke in die Ursachen deiner Ernährungsprobleme gegeben hat und Du nun weißt, wo Du ansetzen kannst. Mich interessiert sehr, ob Du beim Lesen Aha-Momente hattest und wie Du Dich jetzt fühlst. Hinterlasse gerne einen Kommentar, um zu zeigen, dass wir viele sind.

Danke und schön, dass Du da bist!

Quellenverweise: 

Ruppert, Franz (2019): Liebe, Lust und Trauma: Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität, 1. Aufl., München

Dähling, Madeleine (2024): Erlösung durch die (richtige) Ernährung? Abgerufen am 14.08.2024, von https://www.madeleinedaehling.de/blogartikel/erloesung-durch-die-richtige-ernaehrung/

Ärzteblatt (2015): Ernährung und Bindungsstil: Unsichere Bindung fördert Essstörungen. Abgerufen am 12.08.2024 von https://www.aerzteblatt.de/archiv/172998/Ernaehrung-und-Bindungsstil-Unsichere-Bindung-foerdert-Essstoerungen

Borderline-Persönlichkeit - mehr, als eine Diagnose

Borderline-Persönlichkeit – Du bist mehr als eine Diagnose!

An was denkst Du, wenn Du den Begriff Borderline-Persönlichkeit hörst? Vielleicht geht es Dir ähnlich wie mir und Du reduzierst ihn auch auf selbstzerstörerisches Verhalten. Vor einiger Zeit habe ich Dario Lombardi über Instagram kennengelernt, der sich in seinen Beiträgen diesem Thema zuwendet, weil er im Alter von 23 Jahren selbst die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung bekommen hat. Im Interview verrät er uns unter anderem, welchen Herausforderungen er durch diese Diagnose begegnet ist, warum er es für notwendig hält, den Begriff zu entstigmatisieren und welche Therapieformen ihm bisher geholfen haben. Egal, ob Du selbst betroffen bist oder nicht. Es lohnt sich, dieses Interview zu lesen!

Was ist eine Borderline-Persönlichkeit?

Lieber Dario, magst Du kurz erklären, was klassischerweise unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung verstanden wird?

Es gibt verschiedene Klassifikationen für psychische Störungen die das Störungsbild unterschiedlich beschreiben. In dem aktuellen Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (DSM-5) handelt es sich bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) um ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität.

International gilt das ICD-10, aber ich entscheide mich für das amerikanische Klassifikationssystem DSM-5, weil es in meiner Wahrnehmung die Kriterien der BPS präziser widerspiegelt. Laut diesem Klassifikationssystem müssen fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein, um von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auszugehen:

  1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.
  2. Ein Muster instabiler und intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
  3. Störung der Identität: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.
  4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen, z.  Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Essanfälle“. 
  5. Wiederholtes suizidales Verhalten, Suizidandeutungen oder -Drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.
  6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung, z.  hochgradige episodische Misslaunigkeit, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern.
  7. Chronische Gefühle von Leere.
  8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren, z.  häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen.
  9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative  Symptome.

Wie würdest Du mit eigenen Worten die klassischen Merkmale der BPS beschreiben?

Zu den klassischen Symptomen zählen starke Emotionen, die nur schwer regulierbar sind, häufige Stimmungsschwankungen, Schwarz-weiß-Denken, destruktives/selbstschädigendes Verhalten, massive Ängste vor dem Verlassenwerden mit einer gleichzeitigen Angst vor dem Verschlungenwerden (Selbstverlust), innere Leere und Dissoziation.

Betroffene leiden unter einer hohen inneren Anspannung, die gerade am Anfang des eigenen Genesungswegs häufig durch dysfunktionales Verhalten abgebaut wird. Dazu zählen zum Beispiel Drogenkonsum oder selbstverletzendes Verhalten.

Das Gefühl, anders als alle anderen zu sein und sich auch in Gruppen einsam und nicht zugehörig zu fühlen, spielt auch eine Rolle. Menschen mit einer BPS haben eine wahnsinnige Sehnsucht nach einer emotional sättigenden Bindung und seelischer Verschmelzung (Symbiose) und gleichzeitig halten sie diese Nähe und Intensität nicht lange aus (Nähe–Distanz Problematik). 

Das Alleinsein mit sich selbst erscheint Betroffenen als existenziell bedrohlich. Die Instabilität des eigenen Selbstbildes zeigt sich darin, dass sie häufig nicht wissen, wer sie eigentlich wirklich sind. Es bestehen Unsicherheiten bei Themen wie den eigenen Zielen, Werten, dem Berufswunsch oder der sexuellen Orientierung.

Wenn Du Dich in den genannten Merkmalen wiederfindest, muss es nicht bedeuten, dass Du automatisch unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidest. Auch andere Ursachen können zu derartigen Ausprägungen führen. Zudem ist es an dieser Stelle wichtig, Dir vor Augen zu führen, dass es für alles Hilfe gibt und Du nicht ein Leben lang darunter leiden musst.

Wie kann man die BPS von anderen Diagnosen z.B. Suchtkrankeiten, die ja auch selbstzerstörerisch sind, abgrenzen?

Meines Wissensstandes nach sind Suchterkrankungen immer eine Bewältigungs- und Kompensationsstrategie für eine innere seelische Not.

Eine klare Abgrenzung der Diagnosen kann in meinen Augen nicht erfolgen, weil das Suchtverhalten zu den Merkmalen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zählen kann. Menschen mit einer BPS haben häufig eine gewisse Neigung zu Suchtverhalten, um ihre Bedürftigkeit nach emotionaler Nähe zu kompensieren. Besonders dann, wenn die gewünschte Nähe durch zwischenmenschliche Beziehungen nicht erreichbar ist.

Umgang mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung

Willst Du mit den Leser/innen teilen, wann und wie es zu Deiner Diagnose gekommen und wie es Dir damit ergangen ist?

Ja, gerne. Ich befinde mich bereits seit 2011 in therapeutischer Behandlung, weil ich unter Abhängigkeit, Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen, Schwierigkeiten in der Ausbildung, Wutausbrüchen, Ängsten und depressiven Symptomen gelitten habe. Im Jahr 2015 entschied ich mich zu einem Klinikaufenthalt in der Parlandklinik in Bad Wildungen, um mich zu stabilisieren und meine anhaltenden, belastenden Symptome abklären zu lassen. Dort bekam ich relativ schnell die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Im ersten Moment war mir das ziemlich gleichgültig, weil ich in den Jahren davor schon alle möglichen Diagnosen bekommen hatte. 

Als ich mich in Internetforen zu diesem Störungsbild informierte, wurde ich dann aber sehr instabil. In den Berichten von Angehörigen oder Menschen, die gefährliches Halbwissen verbreiten, fand ich nur negative Beschreibungen zu dieser Diagnose. Es gab Warnungen davor, mit sogenannten „Borderlinern“ in Beziehung zu treten, weil sie anderen emotional schaden würden. Es wurde oftmals verallgemeinert mit Manipulation, emotionaler und/oder körperlicher Gewalt, Untreue, Promiskuität und Übergriffigkeit. Ich war schockiert darüber, dass Borderline fast ausschließlich mit einem radikalen negativen Bild assoziiert wurde.

Ich fing an zu glauben, dass alles in mir und meiner gesamten Persönlichkeit falsch und nicht erwünscht sei. Ich dachte unheilbar krank zu sein und dass für mich kein lebenswertes Leben mehr möglich ist. Das führte bei mir zu großer Hoffnungslosigkeit und am Ende zu einer Krise mit Selbstabwertung und Selbsthass. 

Borderline-Persönlichkeit - Ganzwerdung

Auch in Gesprächen mit Fachärzten habe ich erlebt, dass ich allein durch die Diagnose anders und negativ wahrgenommen wurde. Es gab Therapeut/innen, die mir gesagt haben, dass sie keine “Borderliner” aufnehmen wollen.
Sowohl im persönlichen Kontakt als auch in Medienberichten oder Youtube-Videos wurde ich mit Sätzen wie diesen konfrontiert: „Borderline hat man nicht, Borderline ist man.“ Oder auch „Borderline hat man ein Leben lang.“ Mir schien es so zu sein, dass von diesen Personen gar nicht mehr der Mensch hinter der Diagnose gesehen wird, der selbstverständlich auch positive Eigenschaften hat. Es hat lange gedauert, bis ich mir neues Wissen angeeignet habe, durch das ich mich neu orientieren und von solchen Stigmatisierungen abgrenzen konnte.

Hilfe für Betroffene einer Borderline-Persönlichkeitsdiagnose

Wie können Betroffene von Borderline Hilfe finden? Welche Therapiemethoden haben Dir besonders geholfen und welche Schritte würdest Du empfehlen?

Ich denke, man kann keine pauschalen Empfehlungen aussprechen. Betroffene mit Borderline haben jedoch in der Regel massive negative Beziehungserfahrungen gemacht, wodurch sie negative Schemata entwickelt haben. Wie zum Beispiel: „In Beziehungen werde ich immer verletzt und deshalb lohnen sie sich nicht“ oder „So wie ich wirklich bin, kann mich niemand lieben“. Ich selbst bin deshalb ein großer Fan der Schematherapie. Diese wurde von Jeffrey E. Young entwickelt und gehört neben der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) und der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) zur dritten Welle der Verhaltenstherapie, also um eine weiterentwickelte Form der klassischen Verhaltenstherapie.

In der Schematherapie spielt die Beziehungsebene eine entscheidende Rolle. Die Bedürfnisse der Betroffenen, die in der Kindheit frustriert wurden, erfahren in der Therapiebeziehung mithilfe des sogenannten “limited reparenting” häufig zum ersten Mal Wahrnehmung, Anerkennung und eine positive Antwort. Dadurch sind korrigierende Beziehungserfahrungen, also die Veränderung negativer Beziehungsschemata möglich.

Borderline-Persönlichkeit - Therapie
Wenn man diese Form der Zuwendung und Akzeptanz nicht gewohnt ist, kann das am Anfang sehr herausfordernd und triggernd sein. Dranbleiben lohnt sich aber. Für mich kam hier zum ersten Mal in meinem Leben eine gute zwischenmenschliche Beziehung zustande, in der ich mich akzeptiert fühlte, so wie ich bin.

Durch die Arbeit mit den eigenen Persönlichkeitsanteilen, die in der Schematherapie Modi genannt werden, entwickelt man ein besseres Verständnis für sich selbst und schafft es, sich mit einer wohlwollenden Haltung zu begegnen. Auf lange Sicht schafft man es so sich irgendwann selbst eine gute Mutter und/oder ein guter Vater zu sein (Selbstbeelterung). Seine bedürftigen inneren Kind-Anteile auf diese Weise nachnähren zu können, ist ein wichtiger Schritt auf dem eigenen Genesungsweg. Dadurch gelingt es einem, die starke Abhängigkeit von externen Faktoren (z.B. anderen Menschen) zu verringern.

Dario`s Buchempfehlungen zur Schematherapie

Seit ein paar Jahren arbeite ich auch mit körperorientierten Ansätzen wie dem Somatic Experiencing (SE) und dem Neuroaffektiven Beziehungsmodell (NARM). Insbesondere Übungen zur Selbstregulation des Nervensystems, zur Stärkung der Selbstwahrnehmung und zur Steigerung des Körpergewahrseins helfen mir sehr. Auch das Erarbeiten und Setzen von Grenzen sowie das Schaffen innerer und äußerer Ressourcen ist erlernbar.

Der erste Schritt ist auf jeden Fall die Bereitschaft, sich selbst kennen und reflektieren zu lernen. Auch wenn einem in der Vergangenheit eventuell Schlimmes widerfahren ist, trägt man jetzt trotz allem selbst die Verantwortung für das eigene Leben. Diese Verantwortung zu übernehmen, bedeutet natürlich auch Arbeit.

Warum gehst Du seit einiger Zeit mit dem Thema in die Öffentlichkeit? Was ist Dein Herzensanliegen dabei?

Ich war in der Vergangenheit einige Zeit als Co-Moderator einer Borderline-Selbsthilfegruppe tätig und wollte mit meinen Instagram-Beiträgen Aufmerksamkeit auf unsere Gruppe lenken. Zudem geht es mir darum, zu einem differenzierteren Bewusstsein anzuregen. Ich möchte zur Entstigmatisierung des Störungsbildes BPS beitragen.

Ebenso möchte ich dazu anzuregen, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und die Mechanismen zu verstehen, die hinter den belastenden Gefühlen und Verhaltensweisen stehen. Ich will dazu appellieren, dass die Bezeichnung “Borderliner” durch “Mensch” ersetzt wird – ein Mensch, der sich seine Geschichte nicht ausgesucht hat und mit der Lebensaufgabe konfrontiert ist, seine Gefühle und Gedanken neu zu definieren, um ein selbsterfüllendes Leben führen zu können, das jeder von uns verdient hat.

Gibt es noch etwas, den Du meinen Leser/innen und/oder Betroffenen gerne mit auf den Weg geben möchtest?

Ja, Du bist MEHR als deine Diagnose(n)! Du bist MEHR als deine Symptome! Du bist MEHR als deine Emotionen! Du bist MEHR als deine Verletzungen und Traumata! Du bist MEHR als deine Unzulänglichkeiten! Du bist MEHR als deine Geschichte! Du bist MEHR als das, was andere über dich reden und denken! Du bist MEHR als du in dir siehst! Alles Liebe Dario

Borderliner-Persönlichkeit - Du bist genug

Danke lieber Dario für dieses aufschlussreiche Interview und Deinen Mut, Dich mit Deiner persönlichen Geschichte zu zeigen.

Wie einleitend bereits erwähnt, habe auch ich den Begriff Borderline-Persönlichkeit immer ganz pauschal mit selbstzerstörerischen Verhalten gleichgesetzt.  Durch Deine Beiträge auf Instagram wurde mir klar, wie komplex dieses Themengebiet ist und dass ich selbst noch vor einigen Jahren wahrscheinlich diesem Störungsbild entsprochen hätte. Demnach sehe ich da auch eine Verbindung zum  Entwicklungs- und Bindungstrauma. In diesem Zusammenhang finde ich auch Deine Erläuterungen zur Schematherapie wertvoll, weil sie mir und vielleicht auch anderen noch eine weitere Möglichkeit für den eigenen Heilungsweg aufzeigen.

Für Deinen weiteren Weg der Heilung sowie für Deine berufliche Entwicklung wünsche ich Dir alles Liebe. Ich bin sicher, dass Du noch vielen Menschen helfen wirst.,

Bindungstrauma - Entstehung, Folgen und Überwindung

Bindungsangst – Entstehung, Folgen und Überwindung

Genau wie ich wünschen sich die meisten Menschen glückliche Beziehungen in ihrem Leben. Bleibt dieser Wunsch unerfüllt, weil sich Konflikte und Probleme ständig wiederholen und wir uns am Ende doch wieder allein vorfinden, kann eine unbewusste Bindungsangst als Folge von Bindungstrauma die Ursache sein. Wie Bindung entsteht, welche Bindungsstile es gibt und woran Du erkennst, ob Du Bindungsangst hast, erkläre ich in diesem Beitrag. Außerdem erläutere ich die vier wichtigsten Voraussetzungen zur Überwindung von Bindungsangst.

Was ist die Ursache von Bindungsangst?

Bindungsangst ist in der Regel die Folge von frühen Bindungstraumatisierungen. Anders als beim Schocktrauma ist der Auslöser beim Bindungstrauma nicht ein einmaliges Ereignis, sondern wiederholte Erfahrungen im Entwicklungsprozess eines Menschen. Zum Beispiel, wenn wir in einem Umfeld aufwachsen, das uns ablehnt, nicht ernst nimmt, nur unter bestimmten Voraussetzungen liebt oder uns mit Gewalt und Missbrauch konfrontiert.

Neuere Erkenntnisse aus Epigenetik, Medizin und Psychologie belegen sogar, dass Bindung nicht erst nach der Geburt entsteht, sondern bereits viel früher. Demzufolge kann sich ein Bindungstrauma bereits vor und während unserer Geburt entwickeln.

Wie entsteht Bindung?

Im Folgenden beschreibe ich die drei Lebensphasen, in denen Bindung entsteht und wir besonders anfällig für Bindungstraumatisierungen sind: vor der Geburt, während der Geburt und nach der Geburt. Diese frühen Lebensphasen prägen unseren späteren Bindungsstil und können die Ursache unserer Bindungsangst sein. Der Kontakt zu unserer Mutter spielt dabei eine zentrale Rolle, denn sie ist unser erster Bezugspunkt, und an sie sind wir durch die Nabelschnur gebunden.

Vor der Geburt

Vor der Geburt ist unser Überleben von unserer Mutter abhängig, denn wir sind vollkommen eins mit ihr. Entgegen früherer Annahmen fühlten wir bereits alles, was unsere Mutter fühlte. Wenn sie enormen Stress ausgesetzt war, Gewalt erfuhr oder uns ablehnte, dann haben wir das als lebensbedrohlich wahrgenommen. Ein gescheiterter Abtreibungsversuch ist deshalb auch eine der schlimmsten Traumatisierungen eines Menschen überhaupt.

Unsere Bindung wurde auch durch das beeinflusst, was unsere Mutter zu sich nahm. Konsumierte sie während der Schwangerschaft Drogen, Alkohol oder Zigaretten, vergiftete sie uns damit und wir fühlten uns in unserer Existenz bedroht. Bindung haben wir demnach von Beginn an als toxisch und unsicher erfahren.

Während der Geburt

Auch der Geburtsprozess hatte maßgeblichen Einfluss auf das Bindungsverhalten zwischen uns und unserer Mutter. Während einer Schwangerschaft und beim Einsetzen der Wehen werden verschiedene Hormone ausgeschüttet, die die Bindung zwischen Mutter und Kind sicherstellen sollen. Kommt es zu Komplikationen wie einer zu frühen Geburt, dem Einsatz starker Medikamente oder einem Kaiserschnitt, wird diese Hormonproduktion unterbrochen.

Wurde unser Eintritt in diese Welt durch den Einsatz von Saugglocke oder eine um den Hals liegende Nabelschnur als bedrohlich oder sogar schmerzhaft erlebt, kommt das einem Schocktrauma gleich. Um dieses unmittelbar zu verarbeiten, sind wir auf die physische und emotionale Zuwendung und Nähe unserer Mutter angewiesen.
Da viele Frauen die Geburt selbst als traumatisch erleben oder währenddessen an ihr eigenes, unverarbeitetes Geburtstrauma erinnert werden, besteht die Gefahr, dass sie für den Säugling nicht verfügbar sind. Wenn sie zum Selbstschutz
emotional distanziert oder gar dissoziiert reagieren, wird sich das neugeborene Kind von ihnen verlassen fühlen und keine sichere Bindung erfahren.

Nach der Geburt

Bindungstrauma vermeiden durch Mutter-Kind-Bindung

Nachdem wir das Licht der Welt erblickt haben, wollen wir nichts als geliebt und versorgt werden. Wir sind voller Unschuld und möchten uns genährt, sicher und willkommen geheißen fühlen. Um mit unserer Mutter oder einer anderen Bindungsperson in Verbindung zu treten, konnten wir zu diesem Zeitpunkt nur weinen und schreien. Auf diese Weise haben wir deutlich gemacht, dass ein oder mehrere der folgenden Bedürfnisse befriedigt werden wollen:

    • Bedürfnis nach Nahrung
    • Bedürfnis nach Wärme
    • Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz
    • Bedürfnis nach emotionaler und körperlicher Verbundenheit (Zugehörigkeit und Liebe)

Wurden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, war das für unsere Existenz lebensbedrohlich. Unser autonomes Nervensystem war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage zur Selbstregulation. Wir waren auf unsere Mutter oder eine andere Bezugsperson angewiesen, die uns versorgte und durch Nähe, Berührungen und Blickkontakt beruhigte oder tröstete.  

Ab einem gewissen Entwicklungsstadium entwickelten wir noch ein weiteres wichtiges Bedürfnis und zwar nach Autonomie. Wir wollten unsere Umgebung erkunden und unsere zunehmenden Fähigkeiten ausprobieren. Auch wenn dieses Bedürfnis ignoriert oder durch Überbehüten übergangen wurde, hat das unsere Entwicklung und unser Bindungsverhalten negativ beeinflusst. 

„Die Zustände des menschlichen Kleinkinds im Mutterleib und in den ersten Lebensphasen sind tatsächlich genau die Vorbedingungen für ein Trauma: Das Kind ist hilflos und kann sich schnell überwältig fühlen. Sein Leben hängt von einem anderen Menschen ab und es kann absolut nichts anderes tun als weinen. Niemand kann ihm intellektuell vermitteln, dass es sicher und geschützt ist. Es fühlt alles, was es erlebt, ohne es kognitiv zu verstehen. Das Einzige, was zu Beginn seines Lebens Sinn für es macht, ist die Verbindung zu seiner Mutter, weil es sie kennt. Es kennt ihren Geruch, ihre Berührung, wie sie sich anfühlt, schmeckt und klingt“. (Vivian Broughton, 2016)

Wie Bindung unseren Bindungsstil prägt

Mit zunehmender Entwicklung konnten wir mehr als nur weinen, um die Nähe zu unserer Mutter, zu unserem Vater oder zu anderen Bindungspersonen sicherzustellen. Je nachdem, wie erfolgreich wir mit unserem Bindungsverhalten in Form von z. B.: Suchen, Nachlaufen oder Festklammern waren, haben wir ein Bindungsmuster entwickelt, dass alle weiteren Beziehungen in unserem Leben beeinflusst. Vor, während und nach der Geburt sowie im Kindesalter wird also der Grundstein für den Bindungsstil gelegt, den wir im Erwachsenenleben pflegen.

Welche Bindungsstile gibt es?

In der Bindungstheorie wird von vier Bindungsstilen ausgegangen: sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und unsicher-desorganisiert. Die Diplom Psychologin und Bestseller Autorin Stefanie Stahl ergänzt diese Bindungsstile um zwei Weitere, die ich aufgrund ihrer Wichtigkeit in die Beschreibung mit aufnehme: gleichgültig-gebunden und Nähe-Überflutung.

Aus diesen sechs Bindungsstilen lassen sich Rückschlüsse über unser Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter ziehen, die uns dabei helfen können, neue Beziehungsmuster zu etablieren und unsere Beziehungsangst aufzugeben.

Sicherer Bindungsstil

Ein sicherer Bindungsstil entwickelt sich, wenn die Bedürfnisse eines Kindes jederzeit gehört und gestillt werden. Wenn es seine Bezugsperson als verlässliche Basis wahrnehmen kann, von der es sich einerseits entfernen, zu der es bei Gefahr oder Bedrohung aber jederzeit zurückkehren kann, um Hilfe oder Trost zu bekommen. Das Kind hat von Anfang an Zuwendung, Wärme, Verlässlichkeit, Schutz und emotionale Stabilität erfahren. Dadurch konnte es seine Umwelt selbstständig erkunden und Lernerfolge erzielen.

Im Erwachsenenalter verfügen Menschen mit diesem Bindungsstil über ein Grundvertrauen in sich, andere Menschen und die Welt. Sie sind kontaktfreudig, kennen ihre Fähigkeiten und verfügen über Lernbereitschaft. Aufgrund ihres gesunden Selbstwertgefühls sind sie in der Lage, ihre Gefühle und Bedürfnisse adäquat auszudrücken und mit Konflikt- oder Stresssituationen konstruktiv umzugehen.

Unsichere Bindungsstile

Unsichere Bindungsstile sind das Resultat mangelnder Fürsorge oder emotionaler Präsenz durch die Bindungspersonen. Kinder machen hier die Erfahrung, dass die Bezugspersonen unzuverlässig sind und nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen.

Unsicher-vermeidender Bindungsstil

Menschen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil haben früh gelernt, dass sie für sich allein sorgen müssen, weil kein verlässlicher Kontakt zur Bindungsperson vorhanden war. Die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wurden als unwichtig verinnerlicht, was zu einem geringen Selbstwertgefühl und der Annahme führt, nicht wichtig zu sein.

Bindungstrauma - Kind allein

Im Erwachsenenalter haben Menschen mit dieser Prägung sichtliche Bindungsangst. Sie sind überzeugt davon, nicht liebenswert zu sein und früher oder später verlassen zu werden, wenn sie ganz sie selbst sind. Je glücklicher und näher eine Beziehung wird, desto lauter wird ihre Angst vor Verlust oder Ablehnung. Aus diesem Grund fällt es ihnen schwer zu vertrauen, sodass Eifersucht ein häufiges Thema bei diesem Bindungsstil ist.

Unsicher-ambivalente Bindungsstil

Dieser Bindungsstil ist die Folge von unberechenbaren Verhaltensweisen der Bindungspersonen. Mal reagierten die sie liebevoll und im nächsten Moment womöglich aggressiv oder emotional distanziert. Für das Kind gab es keinen verlässlichen Kontakt und keinen sicheren Halt. Auch die Nähe- und Autonomiebedürfnisse des Kindes wurden nicht ausreichend befriedigt. In bindungsrelevanten Situationen hat es zu wenig Sicherheit und Nähe erfahren und beim Versuch, sich selbst auszudrücken, wurde es zurückgehalten.

Menschen mit diesem Bindungsstil suchen sich unbewusst Partner/innen, die sie genauso schlecht behandeln wie einst ihre Bindungspersonen. Sie haben verinnerlicht, dass ihre eigenen Bedürfnisse nicht von Bedeutung sind und sie nur geliebt werden, wenn sie die Erwartungen ihres Gegenübers erfüllen. Sie sind abhängig von der Zustimmung und Anerkennung anderer, weshalb sie sich unterordnen und zu anklammernden Beziehungsverhalten neigen. Am meisten Angst macht Ihnen die Vorstellung, allein und unabhängig zu sein, deshalb haben sie Schwierigkeiten, sich aus destruktiven Beziehungen zu lösen.

Unsicher-desorganisierter Bindungsstil

Der unsicher-desorganisierte Stil ist von Widersprüchlichkeiten im Verhalten von Kindern gekennzeichnet. Sie zeigen Stimmungsschwankungen, Aggression oder gar keine Gefühlsäußerungen, was auf eine generelle Überforderung mit dem Bindungsumfeld und den eigenen Gefühlen zurückzuführen ist. Dieser Bindungsstil ist häufig eine Folge von sehr frühen traumatischen Erlebnissen wie Gewalt oder Missbrauch durch eine Bindungsperson. Diese wird dann nicht als Quelle von Sicherheit, sondern als Auslöser von Angst und Stress wahrgenommen.

Unsicher-desorganisiert geprägte Menschen sind häufig psychisch labil und leiden an starken Traumafolgen. Sie haben oft Schwierigkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen und sich überhaupt auf Nähe einzulassen. Beziehungspartner/innen werden genau wie einst die Bezugsperson als potenzielle Gefahr wahrgenommen, sodass ein harmonisches Zusammenleben ohne therapeutische Auseinandersetzung meist gar möglich ist.

Gleichgültig-gebundener Bindungsstil

Stefanie Stahl schreibt Menschen mit diesem Bindungsstil eine Gefühlsarmut zu, die auf eine traumatisierende Kindheit zurückzuführen ist. Als Kind hatten sie gefühllose und distanzierte Eltern, sodass sie ihre eigenen Gefühle auch abgespalten haben.

Im Erwachsenenalter können sie problemlos Bindungen eingehen, fühlen aber nicht besonders viel. Sie empfinden deshalb wenig Leidensdruck und haben keine Motivation, etwas an sich oder ihren Beziehungen zu verändern. Nach außen wirken Menschen mit diesem Bindungsstil häufig stark, lebendig und humorvoll. Sie beschäftigen sich oft ununterbrochen und können im Alltag gut funktionieren. Ihrer inneren Leere und Einsamkeit sind sie sich in der Regel selbst nicht bewusst.

Nähe-Überflutung-Bindungsstil

Menschen, die diesen Bindungsstil entwickeln, wurden in ihrer Kindheit regelrecht von der Bindungsperson vereinnahmt. Sie wurden mit positiver oder negativer Aufmerksamkeit oder mit Liebe, die an Bedingungen geknüpft war, überschüttet. Die kindlichen Bedürfnisse nach Autonomie und Selbstausdruck wurde von den Bindungspersonen ignoriert und unterdrückt, sodass sie wenig Eigenständigkeit und mangelndes Vertrauen in die eignen Fähigkeiten entwickeln konnten.  

Menschen mit diesem Bindungsstil leiden oft unter Schuldgefühlen gegenüber der Bindungsperson oder späteren Stellvertretern (Beziehungspartnern). Auch sie fühlen sich verpflichtet, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen und glauben kein Recht auf eigene Bedürfnisse zu haben. Statt zu klammern, flüchten sie jedoch eher, weil sie sich nur so abgrenzen können. Eine Liebesbeziehung assoziieren sie mit Verpflichtung und Selbstaufgabe. Sie fühlen sich schnell eingeengt und haben Angst vor erneuter Nähe-Überflutung.

Wenn Du Dich intensiver mit der Entstehung und den Auswirkungen von Bindungsstilen auseinandersetzen möchtest, empfehle ich Dir das Buch *Vom Jein zum Ja! Bindungsängste überwinden und endlich bereit sein für eine tragfähige Partnerschaft von Stefanie Stahl (2020).

„Mit ihrem Buch “Jein!” entwickelte Stefanie Stahl ein Standardwerk zum Thema Bindungsangst. In “Von Jein zum Ja!” entwickelt die Bestsellerautorin diesen Ansatz weiter. Sie beleuchtet die typischen Bindungsstile, die Beziehungen immer wieder aufs Neue scheitern lassen….”

 

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Bindungsangst als Folge eines unsicheren Bindungsstils

Bindungsangst ist das, was alle Menschen mit einem unsicheren Bindungsstil gemeinsam haben. Da sie bereits so früh im Leben ihren Ursprung hat und Bindung nie anders kennengelernt wurde, ist diese Angst jedoch meist unbewusst. Mithilfe ausgeklügelter Strategien haben wir gelernt mit dieser Angst zu leben. Es kommt deshalb vor, dass Bindungsängstliche ihre Angst vor Nähe vehement abstreiten oder leugnen. Dabei ist Bindungsangst nichts, wofür wir uns schämen müssen. Sie ist im Prinzip ein Mechanismus zum Schutz vor Ablehnung, Verlust oder Vereinnahmung, den wir in unserer Kindheit tatsächlich nötig hatten.

Wenn Du Deine bisherigen Beziehungen als unbefriedigend erfährst, kann es sich lohnen, Dich der Möglichkeit zu öffnen, dass Du und/oder Dein/e Partner/in womöglich auch unbewusste Bindungsängste habt. Doch woran lässt sich Bindungsangst erkennen? 

Bindungsangst erkennen

Bindungsangst in ausgeprägter Form führt so weit, dass sich Menschen überhaupt nicht auf Bindungen einlassen. Sie fliehen vor Nähe, bevor sie entstehen kann. Entweder indem sie sich in unerreichbare Menschen verlieben oder das Verlieben ganz vermeiden und sich, wenn überhaupt nur auf oberflächliche Affären einlassen.

Da jedoch auch bindungsängstliche Menschen ein angeborenes Bedürfnis nach Nähe haben, lassen auch sie sich auf Beziehungen und Ehen ein. Ja, richtig gelesen. Auch bindungsängstliche Menschen heiraten. Es gibt zahlreiche Strategien, um in einer Beziehung zu sein, aber wirkliche Nähe zu vermeiden. Die gängigsten Strategien sind dieselben, die wir als Trauma-Überlebensmechanismen kennen: Flucht, Kampf und Totstellen.

Flucht
Der Fluchtmechanismus äußert sich bei Bindungsängstlichen häufig durch vieles Arbeiten oder eine Aufopferung in Hobbys. Auch durch Affären oder Dreiecksbeziehungen kann echte Nähe in einer Partnerschaft vermieden werden. Dazu braucht es nicht mal zwingend eine reale dritte Person, sondern nur die Gedanken oder Fantasien an andere Menschen. Fernbeziehungen gehören ebenfalls zu den gängigen Strategien von Bindungsängstlichen, um sich vor zu viel Nähe oder den eigenen Ängsten zu schützen. Weiter kann sexuelle Lustlosigkeit, Unverbindlichkeit oder eine unpersönliche und sachliche Kommunikation auch auf Bindungsängste hindeuten.

Kampf
Verlust- oder Nähe Ängste treten oft besonders dann auf, wenn eine Beziehung sehr eng wird. Dies löst Stress in Menschen mit Bindungstrauma aus, der sich in Wut und Aggression äußern kann. Vielleicht hast Du selbst schon harmonische oder romantische Situationen erlebt, in denen Du Deinem Partner/Deiner Partnerin sehr nahe warst und wie aus dem Nichts hat ein Streit die ganze Idylle zerstört.

Die tief sitzende Wut ist eine unbewusste Abwehrstrategie Bindungsängstlicher gegen etwaige Besitz- oder Näheansprüche. Häufig ist das die Notlösung für die mangelnde Fähigkeit, Grenzen zu setzen. Weil sie insgeheim glauben, kein Recht auf eigene Bedürfnisse zu haben, bleiben nur Kampf und Angriff, um die eigenen Grenzen zu schützen.

Bindungsangst - Angriff oder Kampf

Totstellen
Der Totstellreflex ist eine weitere Strategie, sich vor Nähe-Überflutung oder Verlustangst zu schützen. Dieser Überlebensmechanismus kann dazu führen, dass sich die Gefühle des Bindungsängstlichen aus heiterem Himmel verabschieden und er oder sie nicht mehr richtig anwesend erscheint.  

Anders als bei sicher gebundenen Menschen haben Menschen mit Bindungstrauma keinen kontinuierlichen Zugang zu ihren Liebesgefühlen. Es ist, als müssten sie sich ab und zu Verschnaufpausen verschaffen. Diese Pausen können eine Beziehung natürlich sehr belasten, denn für den Partner/die Partnerin ist schwer verständlich, warum der oder die andere plötzlich nicht mehr anwesend ist. 

Ein Hauptmerkmal an dem Du eine Beziehung mit mindestens einem Bindungsängstlichen erkennst, ist ein Wechselbad der Gefühle. Solch eine Beziehung beginnt oft sehr romantisch oder leidenschaftlich, denn zu Beginn fühlen sich Bindungsängstliche noch frei und es gibt keinen Grund für Flucht, Kampf oder Totstellen. Stattdessen kompensieren sie ihr Selbstwertdefizit mit der Eroberung und den Komplimenten in der Verliebtheitsphase. Sobald die Beziehung jedoch fester wird, kommen die zuvor beschriebenen Mechanismen zum Tragen. Dadurch entsteht eine typische Dynamik, in der die eine Seite ausweicht und die andere Seite klammert. Gopal Norbert Klein beschreibt diese beiden Ausprägungen in seinem Buch *„Der Vagus Schlüssel zur Traumaheilung“ als Autonomie- versus Verschmelzungstypen.

Und tatsächlich läuft es meist so ab, dass je mehr sich der Bindungsängstliche zurückzieht, desto mehr klammert der oder die andere. Weil sich aber auch der Bindungsängstliche insgeheim nach einer glücklichen Beziehung sehnt, fühlt er sich phasenweise doch wieder verliebt, woraufhin sich der oder die andere Hoffnung macht. Dieses Hin- und Her zwischen Gehen oder Bleiben kann sich über Jahre hinziehen und großen Leidensdruck verursachen.

Überwindung von Bindungsangst

Durch meine intensive Beschäftigung mit dem Thema Entwicklungstrauma sowie durch intensive Gespräche mit glücklichen Paaren habe ich vier Grundvoraussetzungen für die Überwindung von Bindungsangst zusammengefasst. 

1. Die Bereitschaft, Dich mit Deiner Bindungsangst auseinanderzusetzen

Um Ängste in Deinem Leben aufzulösen, musst Du Dir zunächst bewusst darüber sein, dass Du sie hast. Erst wenn Du Dir selbst eingestehst, dass Du Bindungsangst hast, kannst Du Veränderungen einleiten. Du musst also akzeptieren, dass Du als Folge Entwicklungstrauma in Deiner Kindheit, im Hier und Jetzt unter Bindungsängsten leidest. Das setzt auch die Bereitschaft voraus, Dich den schmerzlichen Gefühlen Deiner Kindheit zu öffnen und irgendwann Deine Schutzmechanismen (Flucht, Kampf, Totstellen) aufzugeben. Die Arbeit mit dem Inneren Kind und tief verinnerlichten Glaubenssätzen kann dabei ein erster Schritt sein.

2. Ein klares Ja für Deine Beziehung 

Wenn Du Dich in einer Beziehung befindest und Deinen unsicheren Bindungsstil aufgeben willst, braucht es ein klares Ja zu der betreffenden Beziehung, sofern es keine destruktive Beziehung ist, mit der Du Dein Bindungstrauma reinszenierst. Das bedeutet, dass Du Dich wirklich auf den anderen Menschen einlässt und entgegen Deiner bisherigen Strategien dableibst, auch wenn es schwierig oder unangenehm wird. Andersherum muss Dein Partner oder Deine Partnerin dasselbe wollen. Du wirst Dir die Zähne ausbeißen, wenn Du versuchst, einen Bindungsängstlichen zu heilen, der nicht bereit ist hinzusehen.

Solltest Du aktuell in keiner Beziehung sein, nutze die Zeit, um Dich mit Deinen bisherigen Beziehungsmustern auseinanderzusetzen. Durch Bücher oder professionelle Hilfe kannst Du herausfinden, ob Du selbst unter Bindungsangst leidest und/oder warum Du immer wieder an bindungsängstliche Partner/innen gerätst. Werde Dir klar darüber, wie Deine Traumbeziehung aussehen soll, damit Du Dich beim nächsten Mal von Anfang an nur auf jemanden einlässt, der präsent ist und sich wirklich auf eine Bindung einlassen will.

Wenn ihr in eurer Partnerschaft ein klares Ja für euch habt, dann kann die Heilreise losgehen. Bitte vergesst aber nicht, dass eine erfüllte Partnerschaft auch mit Arbeit verbunden ist. Am besten betrachtet ihr eure Beziehung als Sprungbrett für eure Heilung. Die Geschenke von Nähe, Vertrauen und Wertschätzung innerhalb eurer Beziehung werden jeden Aufwand Wert sein!

Bindungsangst überwinden

3. Offene und ehrliche Kommunikation

Eine offene und ehrliche Kommunikation ist das Fundament einer jeden guten Beziehung. Tatsächlich scheitern die meisten Beziehungen genau daran. Weil wir früh gelernt haben, dass unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, glauben wir, dass wir sie nicht haben dürfen. Wir haben uns verleugnet und angepasst, um geliebt zu werden. Diese Muster musst Du jetzt durchbrechen! Du darfst jetzt lernen, dass Du gut bist, genauso wie Du bist und das Du Dich für nichts zu schämen brauchst. Du hast ein Recht auf Deine Gefühle und Bedürfnisse und darauf, diese angemessen auszudrücken. Ansätze wie die gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg oder das ehrliche Mitteilen nach Gopal können hier eine wertvolle Stütze sein.

Nur wenn Du in der Lage bist mitzuteilen, was Du fühlst und was Du brauchst, kann Dein Gegenüber darauf reagieren. Schluck es nicht runter, wenn Dich etwas belastet, sondern bitte um ein Gespräch. Durch authentische, offene und ehrliche Kommunikation können innerhalb der Beziehung gemeinsam Lösungen gefunden werden. Im Alltag stellt das Miteinanderreden oft eine Herausforderung dar. Deshalb empfehle ich einen festen wöchentlichen Termin, bei dem ihr euch mitteilt, was euch auf dem Herzen liegt.

Offene Kommunikation für gute Bindung

4. Persönliche und gemeinsame Weiterentwicklung

Wir sind auf dieser Welt, um zu wachsen und uns weiterzuentwickeln. Wenn das mit der Erreichung eines bestimmten Alters aufhört, entspricht das in meinen Augen nicht unserer Natur. Auch Beziehungen gedeihen und festigen sich durch Weiterentwicklung, sowohl durch die Persönliche als auch durch die Gemeinsame.

Als Paar könnt ihr zum Beispiel Seminare besuchen, die eure Achtsamkeit schulen, eure Verbindung stärken oder euch bei bestimmten Themen (Kommunikation, Sexualität etc.) weiterhelfen. Um destruktive Muster aufzulösen, könnt ihr auch Coachings in Anspruch nehmen oder eine Paartherapie aufsuchen. Hilfe anzunehmen, ist meiner Meinung nach einer der größten Erfolgsfaktoren für eine glückliche Partnerschaft, vor allem, wenn Traumata und Bindungsängste das Leben geprägt haben.

Unabhängig von eurer Beziehung hat natürlich jeder von euch eigene Themen oder Interessen, denen ihr Aufmerksamkeit schenken dürft. Unterstützt euch in euren individuellen Prozessen und Erfahrungen, denn diese kommen eurem langfristigen Liebesglück nur zugute. Außerdem habt ihr euch so auch immer wieder etwas zu erzählen.

Zu guter Letzt darf natürlich auch die Leichtigkeit in eurer Partnerschaft nicht fehlen! Gemeinsame Reisen und Freizeitaktivitäten machen nicht nur Spaß, sie stärken auch eure Verbindung und fördern eure Weiterentwicklung.

Na, wie geht es Dir nach dem Lesen dieses Beitrags? Hast Du Dich oder Deinen Partner/Deine Partnerin vielleicht darin wiedergefunden? 

Für mich war es ein großer Mehrwert zu erkennen, dass ich durch Vor- und nachgeburtliche Traumatisierungen unter Bindungsangst leide und mich unbewusst auch immer wieder auf bindungsängstliche Partner eingelassen habe. Nur durch diese Erkenntnisse kann ich daran arbeiten, um meine Beziehungsqualität in Zukunft zu verbessern.

Ich freue mich, falls ich Dein Interesse für dieses Thema wecken konnte. Du bist herzlich eingeladen, einen Kommentar mit Deinen Eindrücken zu hinterlassen und den Beitrag mit anderen Menschen zu teilen. 

Danke und schön, dass Du da bist!

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Quellenverweise: 

Broughton, Vivian (2016): Zurück in mein Ich: Das kleine Handbuch zur Traumaheilung mit einem Nachwort von Franz Ruppert, 4. Edition, München

Klein, Gopal Norbert (2022): Der Vagus Schlüssel zur Traumaheilung: Wie “Ehrliches Mitteilen” unser Nervensystem reguliert, 4. Edition, München

Ruppert, Franz (2017): Symbiose und Autonomie: Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen, 5. Auflage, Stuttgart

Schmitt, Tobias: Kindes- und Jugendalter: Soziale Entwicklung, abgerufen am 03.11.2022 von: http://entwicklung-psychologie.de/bindungsqualitaet.html

Stahl, Stefanie (2020): Vom Jein zum Ja: Bindungsängste überwinden und endlich bereit sein für eine tragfähige Partnerschaft, 1. Auflage, München

Stegmaier, Susanne: Grundlagen der Bindungstheorie, abgerufen am 01.11.2022 unter: https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psychologie/1722/

Unbekannt: Bindungstheorie – Definition, Ansätze & Kritik, abgerufen am 03.11.2022 unter: http://www.bindungstheorie.net/#ainsworth