Heilung der Sexualität

Sexualität nach Missbrauch und Heilung - Ganzwerdung

Sexualität nach Missbrauch – Und wie Heilung gelingen kann

Sexualität kann das Schönste sein, was wir erleben können – sie ist pure Lebensenergie, Verbindung und Lebendigkeit. Doch wenn Du, wie ich in Deiner Kindheit sexualisierte Gewalt erfahren hast, kann sie mit schmerzhaften Gefühlen oder körperlichen Beschwerden einhergehen. Die Sexualität nach Missbrauch wird oft tief im verborgenen beeinflusst. Die Folgen zeigen sich in unserer Beziehung zum eigenen Körper, unserem sexuellen Empfinden und unserer Intimität mit anderen.
Womöglich vermeidest Du Nähe oder erträgst sie nur mit innerer Anspannung. Oder Du sehnst Dich nach erfülltem Sex, fühlst Dich dabei aber gleichzeitig wie abgeschnitten. Vielleicht spürst Du, dass „etwas nicht stimmt“, kannst es aber nicht genau benennen.

Dieser Beitrag will Dir helfen, Zusammenhänge zu erkennen – liebevoll und ohne Druck. Ich teile mit Dir, wie die sexuellen Folgen nach Missbrauch aussehen können und wie Heilung möglich werden kann. 

Wie Missbrauch die Sexualität beeinflussen kann

Unsere Sexualität ist nichts rein Körperliches. Sie ist zutiefst verbunden mit unseren Erfahrungen, unserer Identität, unseren Gefühlen und Beziehungen. Sexualität entwickelt sich nicht einfach „von selbst“ – sie wird geprägt. Von Vorbildern, Beziehungen, Berührungen, von unserer Kultur, unseren Erlebnissen. Und leider auch von Übergriffen, Grenzverletzungen und Missbrauch.

Wenn Du in Deiner Kindheit sexualisierte Gewalt erlebt hast, dann ist es möglich, dass diese Erfahrungen sich tief in Deine Sexualität eingeschrieben haben – auch wenn Du sie vielleicht jahrelang verdrängt oder gar vergessen hast. Solche Prägungen verankern sich meist auf körperlicher und emotionaler Ebene und bleiben häufig unbewusst. 

Die Auswirkungen von Missbrauch wirken deshalb oft unterschwellig – und gleichzeitig sehr machtvoll. Sie können Deine Lust, Deinen Körper, Deine Beziehungen, Dein Erleben von Nähe und Intimität beeinflussen. Manche dieser Spuren sind deutlich spürbar, andere zeigen sich erst in bestimmten Situationen: im Bett, in Beziehungen oder in der Begegnung mit Deinem eigenen Körper.

Ich halte es für wichtig, offen darüber zu sprechen. Nicht, um in der Vergangenheit zu verharren – sondern um zu verstehen, was da wirkt und, dass wir damit nicht alleine sind. Um zu erkennen, dass Du nicht „komisch“ oder „kaputt“ bist, sondern dass viele Deiner Empfindungen, Reaktionen und Muster Sinn ergeben, wenn man ihre Wurzeln kennt. Und vor allem: um wieder handlungsfähig zu werden. Um Dich selbst liebevoller zu verstehen – und um Dir Deine Sexualität Stück für Stück zurückzuerobern.

Sexueller Missbrauch - Schritte zur Heilung

Sexueller Missbrauch in der Kindheit – Schritte der Heilung

In diesem Beitrag stelle ich Dir vier bedeutsame Schritte vor, die Dich dabei unterstützen können, Deine Heilung nach Missbrauch in der Kindheit aktiv zu gestalten und wieder mehr Selbstbestimmung in Dein Leben zu bringen.

Körperliche Folgen nach Missbrauch

Die Spuren von sexualisierte Gewalt in der Kindheit sind meist irgendwann nicht mehr sichtbar, aber auf körperlicher Ebene trotzdem vorhanden. Selbst wenn die Erinnerungen an das Erlebte verblasst oder ganz abgespalten sind, speichert der Körper die Erfahrungen. Er erinnert sich – manchmal in Form von Schmerzen, manchmal durch Taubheit oder durch scheinbar unerklärliche Reaktionen auf Berührung und Nähe.

Physische Schmerzen und Beschwerdebilder

Viele Betroffene leiden zum Beispiel unter chronischen Beschwerden, für die sich keine eindeutige medizinische Ursache finden lässt – oder bei denen schulmedizinisch keine Verbindung zu seelischen Traumata hergestellt wird. Häufig betroffen sind:

  • Wiederkehrende Blasenentzündungen
  • Menstruationsbeschwerden, starke Schmerzen oder unregelmäßige Zyklen
  • Endometriose, die nicht selten mit seelischen Traumata in Verbindung gebracht wird
  • Schmerzen beim Sex (z. B. Vaginismus, Vulvodynie, Penetrationsschmerz)
  • Beckenbodenverspannungen, Rückenschmerzen oder ein dauerhaft angespannter Unterleib
  • Verdauungsprobleme, Reizdarm oder Übelkeit in Verbindung mit Nähe

Dies sind nur einige Symptome, die Signale des Körpers darstellen, der das Geschehene auf seine Weise verarbeitet oder nach Aufmerksamkeit ruft. Oft sprechen sie eine Sprache, die unser Verstand nicht mehr erinnert, aber die Zellen umso deutlicher.

Körperliche Taubheit und Dissoziation

Ein Schutzmechanismus, der sich häufig schon in der Kindheit entwickelt, ist die Dissoziation – das Abspalten vom Körper, um seelisch zu überleben. Als Erwachsene erleben viele Betroffene dann eine Art körperliche Taubheit: Sie spüren wenig bis gar nichts bei Berührungen, fühlen sich „wie weggetreten“ oder innerlich leer.

Diese Taubheit betrifft nicht immer den ganzen Körper. Oft sind es bestimmte Körperbereiche, wie der Schoßraum, die Brüste, der Bauch oder auch der Mund, die besonders stark von der Abspaltung betroffen sind. Körperliche Nähe oder sexuelle Berührung wird dann nicht als angenehm oder lustvoll erlebt, sondern als unklar, überfordernd oder gar bedrohlich.

Taubheit ist kein Zeichen von „Kälte“ oder „Unfähigkeit“, sondern ein Ausdruck des Körpers, der gelernt hat, sich auf diese Weise selbst zu schützen.

Körperliche Erinnerungen und Flashbacks

Manchmal meldet sich der Körper auch durch plötzliche Reaktionen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchen: Zittern, Erstarren, Atemnot, Übelkeit, ein Engegefühl im Hals oder Brustbereich – oder eine unerklärliche Panik in bestimmten Situationen. Auch Gerüche, Stimmen, Berührungen oder bestimmte Körperhaltungen können sogenannte körperliche Flashbacks auslösen – Erinnerungen, die nicht im Kopf, sondern im Körper gespeichert sind.

Sexualität nach Missbrauch - Ganzwerdung

Verwirrend und oft sehr beschämend ist es, wenn in bestimmten Momenten sexuelle Erregung auftritt, obwohl keinerlei bewusste Lust da ist. Das kann zum Beispiel passieren bei:

  • Gewalt- oder Vergewaltigungsszenen in Filmen
  • bestimmten Stimmen, Gerüchen oder Berührungsarten
  • dominanten oder übergriffigen Verhaltensweisen im Alltag
  • medizinischen Untersuchungen (z. B. gynäkologischen Eingriffen)
  • Berührung bestimmter Körperstellen – selbst in einem sicheren Kontext

Solche Reaktionen fühlen sich für viele Betroffene „falsch“ oder verstörend an. Sie fragen sich, ob mit ihnen etwas nicht stimmt. Doch auch hier gilt: Der Körper hat in der Vergangenheit gelernt, auf bestimmte Reize mit Erregung zu reagieren – als Überlebensstrategie. Es ist eine Form von konditionierter Reaktion, nicht von tatsächlicher Lust.

Das Nervensystem unterscheidet dabei nicht zwischen dem Damals und dem Heute. Erst durch Bewusstwerdung, Achtsamkeit und traumasensible Körperarbeit kann diese Verknüpfung nach und nach gelöst und neu verankert werden – sodass Du Deinen Körper wieder als sicheren und verbündeten Ort erleben kannst.

Emotionale Folgen nach Missbrauch

Die tiefen emotionalen Auswirkungen von Missbrauch auf die Sexualität werden häufig erst im höheren Lebensalter sichtbar. Viele Betroffene funktionieren nach außen lange gut – aber innerlich tragen sie eine kaum greifbare Schwere, ein diffuses Gefühl von Angst, Wut Scham oder Ekel, Schwierigkeiten mit Nähe oder ein tiefes Misstrauen sich selbst und anderen gegenüber. Diese emotionalen Spuren sind nicht weniger real als körperliche Narben – sie wirken im Innersten und beeinflussen das Selbstbild, Beziehungen und natürlich auch die Sexualität.

Verletzter Selbstwert

Wer in der Kindheit Missbrauch erlebt hat, wurde oft auf seinen Körper und seine Sexualität reduziert – statt als Mensch mit Gefühlen, Bedürfnissen und Würde gesehen zu werden. Diese Reduktion kann sich tief ins Selbstbild einprägen: Viele Betroffene entwickeln die Überzeugung, nur durch ein „schönes“ oder „begehrenswertes“ Aussehen etwas wert zu sein.
Das kann sich äußern in einem starken Bedürfnis, attraktiv zu wirken, gleichzeitig aber in Unsicherheit, Ablehnung oder Scham gegenüber dem eigenen Körper. Dahinter steckt oft der verzweifelte Versuch, auf einer Ebene Kontrolle zurückzugewinnen, auf der einst jede Selbstbestimmung verloren ging.

Gefühle von Angst, Wut, Scham und Ekel

Angst ist eine der häufigsten emotionalen Reaktionen nach Missbrauch. Sie kann sich auf Nähe, Intimität oder das „sich zeigen“ beziehen – aber auch auf das Empfinden von Lust. Oft taucht sie genau dann auf, wenn eigentlich Verbindung entstehen könnte. Das Nervensystem reagiert dabei nicht auf die aktuelle Situation, sondern auf tief eingegrabene Erinnerungen an Unsicherheit oder Bedrohung.

Wut ist ebenso zentral – auch wenn sie lange unterdrückt oder gar nicht erst wahrgenommen wurde. Sie kann sich gegen die Täter*innen richten, aber auch gegen sich selbst: für das sich nicht wehren, das Schweigen, das Spüren oder Nichtspüren. Häufig projiziert sich diese Wut auch auf die Partnerin oder den Partner – obwohl sie eigentlich den ursprünglichen Täter meint. Diese Dynamik kann belastend sein, wenn sie nicht erkannt und liebevoll benannt wird. Wut zeigt sich manchmal auch als innere Härte, Ablehnung oder Rückzug – oder verlagert sich ins Körperliche, wenn sie keinen Raum bekommt.

Ekel ist ein Gefühl, das selten offen ausgesprochen wird, aber tief wirken kann. Er kann sich in körpernahen Situationen zeigen – z. B. bei bestimmten Gerüchen, Geräuschen, Körperflüssigkeiten oder optischen Reizen. Auch scheinbar harmlose Auslöser wie bestimmte Lebensmittel können intensive Abwehr hervorrufen. Ekel ist oft Ausdruck eines inneren Schutzmechanismus, der sich in überflutenden Momenten von Grenzverletzung gebildet hat – eine Reaktion des Körpers, um sich abzugrenzen.

Scham schließlich ist häufig das Gefühl, das sich über alles legt – leise, aber durchdringend. Über den Körper, die Sexualität, die Bedürfnisse. Es ist oft eine übernommene Scham, nicht die eigene – entstanden aus der Erfahrung, benutzt, entwertet oder übergangen worden zu sein. Diese Scham verhindert oft, sich ganz zu zeigen, und nährt die Angst, „falsch“ oder „zu viel“ zu sein.

Schuldgefühle als Reaktion auf Lust

Viele Betroffene erleben sexuelle Lust als widersprüchlich oder sogar bedrohlich. Einerseits ist die Sehnsucht nach Nähe, Verbindung und Ekstase da – andererseits taucht mit der Erregung oft ein Gefühl von Schuld, Scham oder innerem Rückzug auf.
Sexuelle Lust wurde in der Vergangenheit vielleicht mit Überforderung, Verwirrung oder sogar „Bestrafung“ verknüpft – und so schaltet sich heute das Nervensystem in genau diesen Modus zurück, sobald Erregung entsteht. Lust wird dann nicht als freudvoll, sondern als gefährlich erlebt.

Besonders schwer wiegt es, wenn der eigene Körper während des Missbrauchs mit sexueller Erregung reagiert hat. Viele Betroffene empfinden genau das als unerträglich – als etwas, das sie „mitschuldig“ macht. Dabei ist diese körperliche Reaktion rein reflexhaft. Nur weil der Körper reagiert hat, heißt das nicht, dass man einverstanden war. Und doch bleibt genau das oft als tief sitzendes Trauma zurück: die Frage „Habe ich es gewollt?“, „War es meine Schuld?“

Diese inneren Zweifel gehören zu den größten Hürden auf dem Heilungsweg – denn sie greifen den Selbstwert an der empfindlichsten Stelle an. Der Weg heraus führt über Wissen, Mitgefühl und das Wiederlernen von Körpervertrauen. Dein Körper hat nichts falsch gemacht. Und Du schon gar nicht.

Sexuelle Folgen nach Missbrauch - Ganzwerdung

Die Täter-Opfer-Umkehr spielt hier auch häufig eine Rolle: Viele Betroffene glauben insgeheim, „mitgemacht“ zu haben – besonders, wenn der Körper erregt reagiert hat. Doch nochmal: Sexuelle Reaktionen sind keine Zustimmung! Sie sind automatische Reaktionen des Körpers auf Reize, und sie dürfen nicht mit dem eigenen Wollen verwechselt werden.

Übersexualisierung als Überlebensstrategie

Manche Betroffene entwickeln auch ein stark sexualisiertes Verhalten – nicht aus freier Lust, sondern unbewusst als Strategie, um sich selbst zu regulieren, Nähe zu kontrollieren oder emotionales Chaos zu überdecken. Sex kann dann zur Bühne werden, auf der Macht, Kontrolle oder scheinbare Selbstbestimmung inszeniert werden – während darunter oft ein tiefer Schmerz liegt.

Aber auch diese Muster sind nicht „falsch“ oder „übertrieben“ – sie sind Ausdruck eines verletzen Systems, das gelernt hat, auf ihre ganz eigene Weise mit dem Unfassbaren umzugehen. Auch sie verdienen Mitgefühl und ein neugieriges Hinsehen – ganz ohne Urteil.

Sexualität nach Missbrauch und die Folgen in Beziehungen

Viele Menschen, die in der Kindheit sexualisierte Gewalt erfahren haben, erleben im Erwachsenenalter eine schmerzhafte Spaltung: Liebe und Sexualität fühlen sich an wie zwei getrennte Welten.

Während sie sich in einer liebevollen, sicheren Beziehung oft sexuell blockiert oder abwesend fühlen, taucht sexuelle Erregung manchmal in Kontexten auf, die wenig mit Nähe oder Vertrauen zu tun haben – zum Beispiel bei distanzierten, abwertenden oder sogar übergriffigen Personen.

Diese paradoxe Erfahrung ist kein Zeichen von Beziehungsunfähigkeit, sondern eine Folge früher Prägungen: Das Nervensystem hat durch den Missbrauch gelernt, Sexualität mit Gefahr, Spannung oder emotionaler Abwesenheit zu verknüpfen – und nicht mit echter, liebevoller Verbindung.

Bindungssicherheit und sexuelle Abwehr

In einer Beziehung, die von echter Nähe, Fürsorglichkeit und Vertrauen geprägt ist, wird oft ein tieferliegender Schutzmechanismus aktiviert: Das Nervensystem erinnert sich an die Bedrohung, die mit Nähe einst verbunden war. Die Folge kann emotionale Taubheit, Rückzug oder sexuelle Abwehr sein – gerade dann, wenn eigentlich ein sicherer Raum entstanden ist.

Das Gegenüber fühlt sich dadurch möglicherweise abgelehnt, obwohl es genau das Gegenteil ist: Die Sicherheit selbst löst die alte Angst aus. Denn früher bedeutete Nähe nicht Schutz, sondern Schmerz.

Wiederholung alter Dynamiken

Gleichzeitig kann es sein, dass sich sexuelle Anziehung vor allem in Beziehungen zeigt, die unberechenbar, dominant oder distanziert sind. Auch das ist kein „Fehlverhalten“, sondern Ausdruck eines inneren Wiederholungszwangs: Das Nervensystem sucht vertraute Muster – selbst dann, wenn sie verletzend sind.

Manche Betroffene fühlen sich deshalb zu Menschen hingezogen, bei denen sie sich unterlegen oder unsicher fühlen. Andere sabotieren liebevolle Partnerschaften unbewusst, weil innere Anteile die Intensität von Nähe nicht aushalten.

Diese Muster zu erkennen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer gesunden Sexualität in Beziehung. Nicht, um sich zu verurteilen – sondern um mitfühlend zu verstehen, was der Körper und das innere System zu schützen versucht.

Wie das innere Kind die Sexualität nach Missbrauch beeinflusst

Wir haben gesehen, dass sexualisierte Gewalt in der Kindheit nicht nur Spuren im Körper hinterlässt, sondern auch das emotionale Erleben tief prägt und Einfluss auf unsere Beziehungen nehmen kann. Eine zentrale Rolle spielt hier das innere Kind. Während ein Teil der Persönlichkeit erwachsen wird, Beziehungen eingeht und sich vielleicht sogar der eigenen Sexualität annähert, bleibt ein anderer Teil innerlich stehen – eingefroren in dem Moment, in dem Sexualität bedrohlich, überfordernd oder beschämend erlebt wurde. Dieser kindliche Anteil trägt das alte Erleben weiter in sich – und meldet sich oft genau dann, wenn Nähe entsteht.

Ambivalenz zwischen Sehnsucht und Abwehr

Dieses Kind in uns erinnert sich an die Unsicherheit, das Ausgeliefertsein und die Überforderung. Es hat gelernt: Sexualität ist gefährlich. Sie bedeutet Schmerz, Kontrollverlust oder Scham. Für diesen Anteil ist es völlig logisch, sich gegen Sexualität zu wehren – mit Rückzug, Ablehnung oder Abwertung.

Die Folge ist oft ein innerer Konflikt: Der erwachsene Anteil wünscht sich Nähe, Lust und Verbindung – doch sobald es intim wird, übernimmt der Kind-Anteil und löst starke Gefühle oder sogar Körperreaktionen aus. Dieser innere Widerspruch ist kein Zeichen von „Störung“, sondern Ausdruck eines noch nicht integrierten Anteils, der Schutz braucht.

Auch das Erleben von Lust oder Erregung kann den inneren Konflikt verstärken, wenn es in einem Moment geschieht, der vom Kind-Anteil als unsicher oder überfordernd empfunden wird. Hier entsteht oft eine tiefe innere Ambivalenz, die viele Betroffene lange nicht verstehen – und sich selbst dafür verurteilen.

Das innere Kind in Sicherheit bringen

Um die eigene Sexualität nach Missbrauch wieder als etwas Sicheres und Lustvolles erleben zu können, braucht es Zeit – und eine liebevolle Beziehung zu dem inneren Kind. Dieser Anteil möchte gesehen, gehört und ernst genommen werden. Vor allem aber braucht er Sicherheit: die Gewissheit, dass er heute nicht mehr in Gefahr ist und jederzeit „Nein“ sagen darf. Da das innere Kind von Dir als erwachsener Person abhängig ist, bist Du es demnach, die oder der das Kind und seine Grenzen schützen muss.

Folgen nach Missbrauch und Inneres Kind - Ganzwerdung

Wenn dieser Anteil lernt, dass heute ein anderer Umgang möglich ist – ein achtsamer, grenzwahrender und liebevoller –, dann kann langsam ein neues Vertrauen entstehen. Mit der Unterstützung des erwachsenen Selbst kann das innere Kind Stück für Stück mitwachsen, eigene Erfahrungen sammeln und ein neues Bild von Sexualität entwickeln. Nicht aus Zwang. Sondern in seiner Zeit. In seinem Tempo. Und mit eigener Neugier und echter Zustimmung.

Wie wir Sex wieder als sicher erleben können

Wenn die eigene Sexualität als Folge von Missbrauch mit körperlichen und emotionalen Symptomen verbunden ist, geht es nicht darum, möglichst schnell wieder „normal“ zu funktionieren. Es geht vielmehr darum, neue Erfahrungen zu ermöglichen. Erfahrungen von Selbstbestimmung, Entspannung, innerer Zustimmung und Freude.

Doch solche Erfahrungen lassen sich nicht auf Knopfdruck herbeiführen.  Sie entstehen, wenn unser Nervensystem zu der Einschätzung von Sicherheit kommt. Sicherheit ist das Fundament, auf dem sich Lust und Verbindung überhaupt erst wieder entwickeln können. Und sie ist der Schlüssel, um alte sexuelle Muster zu verwandeln.

Nachstehend erläutere ich Dir drei wesentliche Schritte oder Ansätze, die Du liebevoll, achtsam und in Deinem Tempo ausprobieren kannst, um Sex wieder als sicher erleben zu können:

1. Traumasensible Sexualität

Für viele Betroffene beginnt Heilung damit, Sexualität innerlich von Gefahr zu entkoppeln. Das Nervensystem hat gelernt, Berührung mit Überforderung, Erregung mit Kontrollverlust oder Intimität mit Schmerz zu verbinden. Deshalb brauchen Körper und Seele neue, sichere Erfahrungen mit echter Freiwilligkeit, Achtsamkeit und Präsenz.

Echte Sicherheit in der Sexualität entsteht nicht durch Anpassung, sondern durch Verbindung mit Dir selbst. Sie zeigt sich nicht daran, dass Du „wieder Sex haben kannst“, sondern daran, dass Du Dich frei fühlst, selbst zu entscheiden, was Du willst und was nicht.

Ein zentrales Element dabei ist die Fähigkeit, Grenzen wahrzunehmen und zu kommunizieren. Viele Betroffene haben gelernt, sich besonders in intimen Situationen zu übergehen. Deshalb ist es wichtig folgendes zu üben:

  • Innezuhalten und zu spüren: Bin ich wirklich einverstanden?
  • Körperliche Reaktionen (wie Schmerzen oder Anspannungen) als wichtige Hinweise ernst zu nehmen.
  • Gut für Dich sorgst, indem Du schaust, was Du gerade brauchst.
  • Klar Nein zu sagen, wenn sich etwas nicht gut anfühlt – auch mitten in einer Begegnung!

Sicherheit bedeutet auch, dass jederzeit alle Deine Gefühle willkommen sind. Du musst nicht „gut drauf“ sein oder „funktionieren“. Du darfst zögern, weinen, taub sein oder nichts fühlen. Alles, was sich zeigt, gehört zum Heilungsweg dazu und darf ausgedrückt werden.

2. Sexualität nach Missbrauch neu erforschen 

Wenn Sicherheit durch mehr Traumasensibilität gewachsen ist, darf ein neuer Erfahrungsraum entstehen: Ein Raum, in dem Du Dich mit Deiner Sexualität neu verbinden darfst – neugierig, langsam und ohne Erwartungen.

Dabei geht es nicht um Techniken oder Leistung, sondern um Forschen. Um das Entdecken dessen, was sich für Dich gut anfühlt – heute, in diesem Moment. Einige hilfreiche Prinzipien auf diesem Weg der Neukonditionierung sind:

  • Langsamkeit statt Leistungsdruck
    Viele Menschen erleben inneren Druck, in sexuellen Begegnungen „mithalten“ oder gefallen zu müssen. Doch echte Verbindung entsteht nicht durch Tempo, sondern durch Präsenz. Slow Sex ist ein liebevoller Zugang, der Tiefe statt Zielorientierung ermöglicht – allein oder mit Partner*in.
  • Präsenz statt Funktionieren
    Ein Ja sollte wirklich ein Ja sein. Nicht weil es erwartet wird, sondern weil Du es fühlst. Das bedeutet auch: zu erkennen, wenn sich während des Sex plötzlich etwas verändert – und liebevoll damit umzugehen.
  • Selbstbestimmte Berührung
    Berühre Dich – oder lass Dich berühren – auf neue Weise. Ohne ein Ziel. Ohne „das Übliche“. Liebevolle, absichtslose Berührungen können heilsam sein, weil sie einen neuen Zugang zu Sexualität ermöglichen.

Du kannst Deinen inneren Prozess der Neukonditionierung auch mit Fragen, wie diesen begleiten:

  • Was bedeutet Sexualität für mich – jenseits von dem, was ich gelernt habe?
  • Was wünsche ich mir wirklich in intimen Momenten – körperlich, emotional, energetisch?
  • Welche Berührungen tun mir gut – und welche lösen Spannung oder Widerstand aus?
  • Lasse ich mich wirklich nur auf Intimität ein, wenn ich es will?

Auch die bewusste Entscheidung, vorerst keine Sexualität zu leben, kann heilsam sein. Sie schenkt Raum zum Spüren, zum Atmen, zum Ankommen bei Dir selbst – ohne Druck, ohne Bewertung.
In folgendem Beitrag berichte ich davon, welche heilsamen Effekte ein zeitweiser Verzicht auf mich hatte

Sexuelle Auszeit

Sexuelle Auszeit – Heilung für Körper, Geist und Sexualität

Entdecke, wie eine sexuelle Auszeit Dir helfen kann, Deine Bedürfnisse und Konditionierungen zu hinterfragen und finde heraus, warum eine Pause ein wichtiger Schritt für Deine Heilung sein kann.

3. Schoßraumarbeit zur Heilung Deiner Sexualität nach Missbrauch

Der Schoßraum ist nicht nur biologisch gesehen der Ort, an dem neues Leben entsteht, sondern er trägt auch das Potenzial, kreative Projekte und Vorhaben in die Welt zu gebären. Er ist der ganz individuelle Bereich einer Frau, der sich als Raum offenbart, in dem verdeckte, einschränkende Erfahrungen und Konditionierungen sichtbar werden können, sowie auch geistige, emotionale und körperliche Folgen von Missbrauch.

Die Schoßraumarbeit ist ein körperorientierter Ansatz, der darauf abzielt, diesen Bereich wieder liebevoll zu bewohnen. Sie kann helfen, alte Muster zu lösen, die Verbindung zu Deiner inneren Stimme zu stärken und Deine sexuelle Kraft in etwas Neues zu verwandeln.

Elemente der Schoßraumarbeit können sein:

  • Gebärmuttergespräche und geführte Meditationen
  • Liebevolle und achtsame Berührungen und Massagen
  • Tönen, Schütteln, Tanzen, um Erstarrung in Bewegung zu verwandeln
  • Yoni-Steaming (reinigende und entspannende Dampfbäder)
  • Fachliteratur zum Thema und Frauenkreise

Bei der Schoßraumarbeit geht es nicht um „Heilung auf Knopfdruck“, sondern um einen Prozess des Wieder-Vertraut-Werdens. Um die Schaffung eines Raumes, in dem Du Deine Grenzen spüren, Deine Wünsche formulieren und Dein Körpergedächtnis liebevoll neu schreiben darfst.

Ich möchte Dir an dieser Stelle zwei verschiedene Ansätze empfehlen, die mir bereits sehr geholfen haben – und es weiterhin tun:

  • Schoßraum®-Prozessbegleitung nach Tatjana Bach

Dieser Ansatz berücksichtigt die geistige, emotionale und körperliche Ebene einer Frau – mit einem besonderen Fokus auf den Körper. Die Arbeit umfasst drei klar voneinander getrennte Schritte:

    1. Schoßraum®-Beratung und Annäherung
    2. Schoßraum®-Berührung I (Hand auf bekleidetem Körper)
    3. Schoßraum®-Berührung II (Hand auf unbekleidetem Körper)

Im Prozess empfundene Anspannung signalisiert innere Grenzen, die – vielleicht sogar erstmals im Leben – wahrgenommen und vor allem respektiert werden. Der angestrebte Zustand während des gesamten Prozesses ist ein ruhiges, entspanntes Nervensystem. Auf diese Weise findet eine entschleunigte, sanfte Annäherung an den Schoßraum statt. Ich persönlich erlebe bei dieser Arbeit auch ganz neue Bindungserfahrungen: Echter Kontakt, bei dem meine Bedürfnisse und Grenzen oberste Priorität haben. 

  • Schoßraumarbeit nach Ilan Stephanie

Die Arbeit der Körperforscherin, Traumaheilerin und Autorin schafft es, einem schweren und schmerzhaften Thema eine überraschende Leichtigkeit zu geben. Durch ihre Impulse und Übungen konnte ich – nach jahrelanger Vermeidung – wieder eine freudvolle Verbindung zu meiner Sexualität aufbauen, die sich sicher, lebendig und ekstatisch anfühlt. Und das nachdem ich jahrelang überhaupt keine Lust auf Sex hatte.

Wenn Du neugierig auf die Arbeit von Ilan Stephanie bist, findest Du hier eins ihrer *Angebote im  Onlineformat: 

Heilung ist möglich – in Deinem Tempo, auf Deine Weise

Du hast jetzt einen Einblick bekommen, wie sich Missbrauch auf Deine Sexualität auswirken kann – und welche Folgen damit verbunden sind.
Ich hoffe, dass Du auch eine Idee davon mitnehmen konntest, welche Schritte hilfreich sein können, um diese Erfahrungen zu integrieren und Heilung zu ermöglichen.

Heilung bedeutet hier nicht, dass Du irgendwann wieder „sexuell funktionierst“. Heilung bedeutet, dass Du mit Dir selbst verbunden bist – und frei entscheiden kannst, was Du willst und was nicht. Dass Du in der Lage bist, gut für Dich zu sorgen, indem Du jederzeit Nein sagen kannst. Denn nur, wenn es wirklich ein Nein geben darf, kann es auch ein echtes Ja geben – ein Ja zu Dir selbst. 

Deine Sexualität gehört Dir. Und sie darf wieder ein Ort werden, an dem Du Dich sicher, lebendig und ganz fühlst. ♥

Gab es etwas in diesem Beitrag, das Dich berührt oder zum Innehalten gebracht hat? Ich freue mich über Deine Gedanken in den Kommentaren.

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Quellenverweise: 

Bass, Ellen & Davis, Laura (1990): Trotz allem. Wege zur Selbstheilung für sexuell missbrauchte Frauen, 1. Ausgabe, Berlin

Richardson, Diana (2013): Zeit für die Liebe: Sex, Intimität und Extase in Beziehungen, Köln

Ruppert, Franz (2019): Liebe, Lust und Trauma: Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität, 1. Aufl., München

Stahl, Stefanie (2015 ): Das Kind in Dir muss Heimat finden: Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme, Originalausgabe, München

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Slow Sex zur Heilung Deiner Sexualität

Slow Sex zur Heilung Deiner Sexualität

Slow Sex soll Paaren dazu verhelfen, ihre Sexualität dauerhaft spannend und intensiv zu erleben. Außerdem ermöglicht er Heilung auf mehreren Ebenen. Was Slow Sex ist, wie er sich von konventionellem Sex unterscheidet und wie er zur Heilung Deiner Sexualität beitragen kann, erfährst Du in diesem Beitrag. Außerdem bekommst Du eine Kurzanleitung für Slow Sex, damit Du mit Deinem Partner oder Deiner Partnerin direkt die Vorzüge dieses Ansatzes kennenlernen kannst.   

Was ist konventioneller Sex?

Bevor wir uns anschauen, was es mit Slow Sex auf sich hat, widmen wir uns erst mal der Frage, was überhaupt unter konventionellem Sex verstanden wird.
Je nach kulturellen und subkulturellen Normen gibt es nämlich unterschiedliche Auffassungen.

In der westlichen Welt wird Geschlechtsverkehr in der Missionarsstellung bei heterosexuellen Paaren als konventionell bezeichnet. Viel treffender formuliert es die Sex-Expertin Yella Cremer in ihrem Buch *Liebe würde Slow Sex machen. Sie schreibt darin, dass es sich bei konventionellem Sex um den Stoff handelt, aus dem Hollywood-Filme, Porno- und Erotikromane, aber auch sexuelle Fantasien, Fetische und gesellschaftliche Normen gemacht sind. (Yella & Samuel Cremer, 2019).

Konventioneller Sex folgt eigentlich immer einem gleichen Muster, das man in drei Worten zusammenfassen kann: Aufladung – Bewegung – Entladung. So sind die meisten von uns sexuell darauf konditioniert, dass guter Sex mit einem Orgasmus (der Entladung) endet. Sobald dieses vermeintliche Ziel erreicht ist, sprechen wir von gelungenem Sex. 

Sex als Stressfaktor

Aber ist Sex wirklich nur dann gelungen, wenn er mit einem Orgasmus endet? Was ist denn, wenn wir mal nicht so funktionieren? Können wir dann keinen guten Sex haben?

In sämtlichen Lebensbereichen sind wir Leistungs- und Erfolgsdruck ausgesetzt. Und jetzt sollen wir auch noch im Bett ein Ziel erreichen? Wen verwundert es da, dass Impotenz, Frigidität und sexuelles Desinteresse immer weiter zunehmen.

Sexuelles Desinteresse

Trotzdem eifern viele von uns noch immer dem Orgasmus-Ziel hinterher und scheuen dabei keine Mittel. Spielzeuge, Rauschmittel, wechselnde Partner/innen oder nicht konventionelle Sexpraktiken kommen zum Einsatz. Aber irgendwas scheint dennoch zu fehlen, denn statt mehr spüren wir eher immer weniger.

Die Begründerin des Slow Sex Diana Richardson verrät uns in zahlreichen Büchern, was neben dem Orgasmus-Stress weitere Ursachen für unseren Gefühlsverlust sind. Zum einen ist es eine fehlende Verbindung zwischen den Paaren und zum anderen eine körperliche Überreizung

Fehlende Verbindung und Überreizung 

Fragst Du Dich jetzt, wie es an Verbindung fehlen kann, wenn man sich wortwörtlich voreinander nackig macht?
Neben der körperlichen Verbindung spielt besonders bei Frauen auch eine emotionale Nähe eine wesentliche Rolle für intensive Gefühle. Eine offene und ehrliche Kommunikation, Blickkontakt und körperliche Nähe, die nicht an Sex gekoppelt ist, fördern die Fähigkeit, sich beim Sex fallen zu lassen und Lust zu empfinden.

Das wir immer weniger spüren, weil unsere empfindlichsten Bereiche beim konventionellen Sex völlig überreizt werden, ist den wenigsten bewusst. Der männliche und der weibliche Geschlechtsbereich sowie die Brüste (vor allem die Brustperlen) der Frau sind sehr sensitiv und verletzlich. Durch intensives Reiben, Rubbeln, Beißen und heftige Stoßbewegungen werden diese Körperbereiche regelrecht traumatisiert. Auch bei der Selbstbefriedigung finden häufig sehr grobe, lieblose und vor allem einseitige Bewegungsabläufe statt. Mit Selbstliebe hat das oft nichts zu tun. Indem unsere intelligenten Körper weniger empfindsam werden, versuchen sie sich eigentlich nur vor diesen groben Einflüssen zu schützen.

Sex neu begreifen

Hast Du Dich schon mal gefragt, wie Dein Sexleben aussehen würde, wenn Du nie die Bilder aus Film- und Fernsehen, vor allen aus Pornos gesehen hättest?
Weil Sex so fehlverstanden und schambesetzt ist, wurde uns weder in der Schule noch von unseren Eltern erklärt, worum es dabei geht, geschweige denn wie er funktioniert. Also haben wir irgendwann angefangen, das zu imitieren, was wir darüber aufgeschnappt haben.

Sobald wir uns von unseren Konditionierungen lösen und mutig hinterfragen, was wir da beim Sex eigentlich tun, können wir uns einem völlig neuen Verständnis von Sexualität öffnen.

„Meine Reise in den Slow Sex bewirkte, dass ich mein Erwarten und Wollen verlernte. Slow Sex tauchte mich tief in eine Phase der sexuellen Wandlung, ich würde sagen: Meine ursprüngliche Sensibilität und Sinnlichkeit öffneten sich wieder. Statt Langeweile erlebte ich: Slow Sex ist Highspeed für sexuelle Transformation!“ (Ilan Stephanie, 2019)

Genaugenommen ist sexuelle Energie doch reinste Lebensenergie. Aus dieser Energie heraus können ein Mann und eine Frau gemeinsam neues Leben erschaffen. Wir alle sind aus dieser Energie entstanden und tragen sie ein Leben lang in uns.
Konventionell gelebte Sexualität ist zielgerichtet, angespannt und einseitig. Sie blockiert den Energiefluss in uns. Das ist der Grund dafür, weshalb die wenigsten von uns eine langfristig erfüllte Sexualität haben.  Es gilt also die sexuelle (Lebens-) Energie wieder in einen harmonischen Fluss zu bringen. Slow Sex ist dafür ein guter Ansatz.

Tantra Zitat - Osho

Slow Sex - was ist das?

Der Begriff Slow Sex wurde von der bereits kurz erwähnten Tantra-Lehrerin Diana Richardson geprägt. Sie und ihr Mann lehren Slow Sex in Workshops, haben bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht und für den Film „Slow Sex – Wie Sex glücklich macht“ einen Filmpreis gewonnen.

Entgegen der weitläufigen Annahme handelt es sich beim Slow Sex nicht nur um langsameren oder gar langweiligen Sex, sondern um einen völlig neuen Zugang zur Sexualität. Durch Entschleunigung wird der Sex aufmerksam und bewusst erlebt, sodass er über das reine Miteinanderschlafen hinausgeht.

„Slow Sex eröffnet einen Weg für alle Liebenden, um ihre Sexualität dauerhaft spannend und intensiv, auch bis ins hohe Alter, zu erleben: sich Zeit für die Liebe nehmen, den Körper spüren, sich mit dem Partner verbinden, jeden Moment und jede Berührung bewusst wahrnehmen und genießen. So wird die heilende und spirituelle Kraft der Erotik freigesetzt und Sex zu einem wirklichen Akt der Liebe.“ (Diana Richardson, 2013)

Slow Sex kommt der Ausdrucksweise „Liebe machen“ viel näher. Er ist ein entspanntes aufeinander einlassen zweier Menschen, ohne Vorgaben und Ziele. In vollkommener Präsenz schenkt Slow Sex allem Erlaubnis, was gerade da sein will. Mithilfe dieses Ansatzes spüren wir eine tiefe Nähe und Verbindung zu unserem Geliebten oder unserer Geliebten die uns nährt und energetisiert.

„Die Magie des Slow Sex liegt nicht darin, dass er der bessere Sex wäre, der richtige oder der heiligste. Im Prinzip geht es beim Slow Sex gar nicht um Slow Sex, es geht um einen Weg, die ureigene Sexualität wiederzufinden – in ihrer individuellen, unverwechselbaren, einzigartigen und reichen Schönheit.“ (Ilan Stephanie, 2020)

Slow Sex - Heilung der Sexualität

Was unterscheidet Slow Sex von konventionellem Sex?

1. Es gibt kein Ziel zu erreichen
Während konventioneller Sex das Ziel verfolgt, zum Orgasmus zu kommen, gibt es beim Slow Sex kein Ziel. Es geht dabei viel mehr um den Genuss intimer Zweisamkeit und Nähe.

2. Entspannt euch!
Slow Sex ist ein langsamer und achtsamer Ansatz. Es geht um vollkommene Entspannung und nicht, wie beim konventionellem Sex um Stimulierung oder Sensation. Beim Ansteuern des Orgasmus ist jede Menge körperliche und geistige Anstrengung erforderlich, was dazu führt, dass unser Körper verspannt. Slow Sex ermöglicht uns den Zugang zu unserer natürlichen Ekstase, während wir uns vollkommen entspannen.

3. Lust ist kein Muss
Konventioneller Sex setzt voraus, dass zumindest der Mann Lust verspürt und eine Erektion hat. Beim Slow Sex gibt es diese Voraussetzung nicht. Wir verbinden uns achtsam mit unserem Körper und lassen uns von ihm führen. Lust entsteht von ganz allein, wenn wir loslassen, während wir beim konventionellen Sex häufig den Kopf einsetzen müssen, um Lust durch Fantasien oder Worte zu erzeugen.

4. Schaut euch in die Augen
Beim Slow Sex gehen wir eine tiefe Verbindung mit unserem Geliebten oder unserer Geliebten ein, die durch Blickkontakt noch intensiviert wird. Die Blicke beim konventionellen Sex richten sich eher auf äußere Reize oder weichen auf innere Bilder und Fantasien aus. 

5. Zeit spielt keine Rolle
Konventioneller Sex kann eine Sache von ein paar Minuten sein. Slow Sex hingegen hat kein Zeitlimit. Es ist wie ein warmes Entspannungsbad nach einem stressigen Tag, bei dem Du ganz loslässt und Zeit keine Rolle spielt.

6. Ladet euch auf
Während wir nach konventionellem Sex tendenziell eher erschöpft sind, schenkt Slow Sex uns langfristig Energie. Nicht nur, weil wir uns weniger bewegen und mehr entspannen, sondern weil wir die Energieblockaden auflösen, die durch Anspannung und Leistungsdruck beim konventionellen Sex entstanden sind.

Slow Sex vs normaler Sex

Wie kann Slow Sex heilen?

Heilung geschieht beim Slow Sex auf mehreren Ebenen. Auf der körperlichen Ebene, weil wir uns und unseren Körper achtsamer und liebevoller wahrnehmen lernen. Auf emotionaler Ebene, weil wir mithilfe von Slow Sex Zugang zu unseren tiefsten Wunden erhalten können, in denen unsere gesamte Gefühlswelt gebunden ist. Und auf der Beziehungsebene, weil wir mit unserem Partner oder unserer Partnerin eine echte und tiefe Verbindung eingehen.

Du erfährst körperliche Nähe, sanfte Berührungen und Streicheleinheiten, ohne etwas geben oder erfüllen zu müssen. Gerade als Betroffene/r von sexuellen Missbrauch kann das eine ganz neue und äußerst heilsame Erfahrung sein, weil Nähe und Sexualität bisher vielleicht nicht getrennt voneinander erlebt werden konnten.

Heilung bedeutet aber auch, unangenehme Gefühle einzuladen und zu erlauben. In vielen Schlafzimmern werden aus Angst und Scham die eigenen Bedürfnisse und Gefühle zurückgehalten, was natürlich unweigerlich zu Frustration führt. Wenn Du Dich mit Deinem Geliebten oder Deiner Geliebten auf Slow Sex einlässt, eröffnet ihr den Raum für alles, was euch menschlich macht. Dazu gehören eure Körperempfindungen, eure Gedanken und eure Gefühle. 

Vielleicht bemerkst Du, wie schwer es Dir fällt diese intensive Nähe überhaupt auszuhalten, wenn ohne das gewohnte Orgasmus-Ziel kein Ende in Sicht ist. Womöglich kommen Verlustängste oder ein Gefühl der Wertlosigkeit auf, weil Du glaubst, Deinem Partner oder Deiner Partnerin im Bett etwas bieten zu müssen. Wenn bei Dir als Mann Deine Erektion nachlässt, weil Du tief entspannt bist, steigen eventuell Scham auf oder die Befürchtung kein richtiger Mann zu sein.

Was zunächst beängstigend wirkt, wird euer Sexleben langfristig transformieren. All die limitierenden und begrenzenden Glaubensmuster und die damit einhergehenden Gefühle, die sich jetzt zeigen, sind das Fundament für die Heilung eurer Sexualität.  

Wo immer zwei Menschen in Freiheit und Vertrauen zusammenkommen und den universellen Charakter ihrer Vereinigung erkennen, lösen sich alte Begrenzungen auf. In angstfreier Sexualität liegt eine große Heilkraft. Sie verbindet uns mit den Vital- und Seelenkräften des Lebens. Wir erleben das, wenn immer wir die Muster der Angst, des Ekels und der Scham hinter uns lassen können. Wer volle erotische Liebe erfahren hat, kann anderen Wesen keine Gewalt mehr antun. Sinnliche Liebe ist das verlässlichste Fundament echter Gewaltfreiheit (Tamera.org).

Slow Sex - Kurzanleitung

Diese Kurzanleitung orientiert sich an dem Ansatz von *Yella Cremer aus dem Buch „Liebe würde Slow Sex machen“. Sie beschreibt darin drei Übungsphasen zum Erlernen dieses neuen Ansatzes. Mithilfe bestimmter Regeln sollen alte Konditionierungen losgelassen werden, um eine absichtslose und achtsame Haltung zu üben. In der ersten Phase wird geübt, gemeinsam ganz entspannt zu sein, ohne sich zu bewegen. Keine Sorge, langweilig wird das nicht!

Vorbereitung

Zur Vorbereitung auf Slow Sex solltet ihr sicherstellen, dass der Raum in dem ihr euch befindet, angenehm warm ist. Schaltet unbedingt eure Handys aus und stellt sicher, dass ihr nicht gestört werden könnt. Wenn ihr wollt, könnt ihr das Licht dimmen, Kerzen anzünden und sanfte Hintergrundmusik einschalten. Schaut, wie ihr euch wohlfühlt.

Macht euch noch mal bewusst, dass es beim Üben von Slow Sex darum geht euch miteinander zu verbinden und zu entspannen. Beschließt gemeinsam, dass ein Orgasmus in dieser Übungsphase ausgeschlossen ist. Beim Üben werdet ihr merken, warum das so wichtig ist, denn die Konditionierung sitzt sehr tief. Doch in den nächsten Stunden gib es nichts, was ihr leisten oder erfüllen müsst.

Zieht euch nun gerne nackt aus und begebt euch in eine für euch bequeme Haltung, am besten in den Schneider oder Fersensitz. Setzt euch gegenüber voneinander, sodass ihr euch anschauen könnt. Wenn ihr möchtet, schließt für einen Moment die Augen und spürt in eure Körper hinein. Kommt ganz im Hier und Jetzt an, atmet durch die Nase tief in den Bauch ein und aus und lasst den Alltag bewusst hinter euch.

Einstimmung

Öffnet nun eure Augen und schaut euch für einige Momente liebevoll in die Augen. Ihr werdet feststellen, wie selten ihr das macht und das das allein das schon viel bewirkt. Vertieft eure Verbindung, indem ihre Eure Hände haltet. Ihr sitzt also voreinander da, haltet euch an den Händen und schaut euch in die Augen. Alternativ könnt ihr auch jeweils eine Hand auf den Herzbereich des anderen legen und einfach einige Minuten so da sitzen.

Beginnt dann, ganz langsam und achtsam den Körper des Geliebten oder der Geliebten mit streichelnden Bewegungen zu erkunden. Denkt aber dran, dass es nicht darum geht Erregung zu erzeugen. Am besten widmet ihr euch den Stellen, die sonst wenig Aufmerksamkeit erhalten und schenkt ihnen jetzt sanfte und liebevolle Berührungen.

Bitte gebt euch gegenseitig auch Feedback darüber, was sich gut anfühlt und was vielleicht nicht und bleibt dabei aufgeschlossen und wohlwollend. Auf diese Weise erfahrt ihr vielleicht ganz neu, welche Berührungen Dein Geliebter oder Deine Geliebte überhaupt mag.

Praxisteil

Wenn ihr möchtet, könnt ihr euch nun hinlegen. Für die ersten Runde ist es empfehlenswert, keine spezielle Stellung einzunehmen, sondern euch auf die Seite zu legen, sodass ihr euch weiterhin anschauen könnt. Macht es euch so gemütlich wie möglich und stellt sicher, dass ihr euch warm und wohl fühlt. Streichelt euch gerne weiter und teilt euch weiterhin mit, was euch gefällt und was nicht. Wenn ihr euch küsst, achtet darauf, dass es ruhig bleibt. Ihr wollt als Beginner keine übermäßige Lust erzeugen. Vermutlich werdet ihr merken, wie ihr alten Konditionierungen folgen wollt. Sprecht darüber und lasst alle Anspannung in Körper und Geist immer wieder los.

Slow Sex

Ihr könnt dann eure Genitalien zusammenbringen. Entweder lasst ihr sie so eine Weile zusammenliegen und beobachtet, was geschieht oder ihr führt den Penis in die Vagina ein. Macht das ganz achtsam und langsam und versucht zu spüren, wie sich der Körper dabei anfühlt. Solltest Du als Mann keine Erektion haben, ist das beim Slow Sex kein Problem. Das mag vielleicht ungewohnt sein, aber es funktioniert! Liebkost euch gerne weiter, wenn euch danach ist aber versucht dem Drang euch zu bewegen zu widerstehen.

Wenn ihr merkt, dass eure Gedanken abschweifen, könnt ihr euch auf euren Atem oder die körperlichen Empfindungen konzentrieren und diese beobachten, um wieder im Moment anzukommen. Auch der Blickkontakt holt euch zu jeder Zeit zurück in den Augenblick.
Genießt und beobachtet einfach, was geschieht. Wie fühlt ihr euch? Welche Gedanken kommen auf? Welche körperlichen Empfindungen?

Ausklang

Beim Slow Sex gibt es kein Ende im Sinne des Orgasmus, deshalb seid ihr vielleicht unsicher, wann ihr aufhören sollt. Das liegt ganz in eurer Hand. Slow Sex kann sich aufgrund des Entspannungs- und Wohlfühlfaktors über Stunden hinwegziehen. Solange es sich gut anfühlt, macht weiter. Ihr könnt auch in dieser eng umschlungenen Position gemeinsam einschlafen, wenn ihr wollt. Solltet ihr wach bleiben wollen, beschließt gemeinsam den Endzeitpunkt und lasst die Übung genauso achtsam ausklingen, wie ihr begonnen habt. Wie genau das aussieht, könnt ihr euch selbst überlegen.

Wenn euch die Übung gefallen hat und ihr neugierig auf die übrigen Lernphasen geworden seid, empfehle ich euch den Kauf des Buchs *„Liebe würde Slow Sex machen von Yella und Samuel Cremer, weil es eine detaillierte Übungsanleitung und wertvolle Tipps enthält. Für eine vertiefende Beschäftigung mit den Themen Tantra und Slow Sex, solltet ihr meiner Meinung nach zu den *Büchern von Diana Richardson greifen. Oder ihr bucht den *Online-Kurs #MovingSlowSex von der Körperforscherin und Bestseller-Autorin Ilan Stephanie.

Gerne darfst Du den Beitrag teilen und weiterempfehlen, wenn er Dir gefallen hat! Vielleicht magst Du auch einen Kommentar hinterlassen und mich an Deinen Erfahrungen mit Slow Sex teilhaben lassen. Ansonsten wünsche ich viel Spaß beim Üben! 

Schön, dass Du da bist!

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Quellenverweise: 

Cremer, Yella & Samuel (2019): Sex, der Männer und Frauen wirklich glücklich macht – endlich konkret erklärt. Mit einem Vorwurt von Ilan Stephanie. 1. Edition, Hamburg

Richardson, Diana (2013): Zeit für die Liebe: Sex, Intimität und Extase in Beziehungen, Köln

Tamera (Autor unbekannt): Sexualität als heilige Kraft. Abgerufen am 20.05.22, von https://www.tamera.org/de/sexualitaet-als-heilige-kraft/

Tuba, Frank (2018): Langeweile im Bett oder Probleme, einen Orgasmus zu bekommen? Probiere es mit Slow Sex. Abgerufen am 10.05.2022, von https://www.refinery29.com/de-de/slow-sex-die-anleitung-zum-neuesten-trend


Bildnachweise: 

Schönes Paar im Bett unter der Decke:
Menschen Foto erstellt von Racool_studio – de.freepik.com

Dieser Moment, wenn wir zusammen sind:
Frau Foto erstellt von gpointstudio – de.freepik.com

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