Sexualität nach Missbrauch – Und wie Heilung gelingen kann
Sexualität kann das Schönste sein, was wir erleben können – sie ist pure Lebensenergie, Verbindung und Lebendigkeit. Doch wenn Du, wie ich in Deiner Kindheit sexualisierte Gewalt erfahren hast, kann sie mit schmerzhaften Gefühlen oder körperlichen Beschwerden einhergehen. Die Sexualität nach Missbrauch wird oft tief im verborgenen beeinflusst. Die Folgen zeigen sich in unserer Beziehung zum eigenen Körper, unserem sexuellen Empfinden und unserer Intimität mit anderen.
Womöglich vermeidest Du Nähe oder erträgst sie nur mit innerer Anspannung. Oder Du sehnst Dich nach erfülltem Sex, fühlst Dich dabei aber gleichzeitig wie abgeschnitten. Vielleicht spürst Du, dass „etwas nicht stimmt“, kannst es aber nicht genau benennen.
Dieser Beitrag will Dir helfen, Zusammenhänge zu erkennen – liebevoll und ohne Druck. Ich teile mit Dir, wie die sexuellen Folgen nach Missbrauch aussehen können und wie Heilung möglich werden kann.
Wie Missbrauch die Sexualität beeinflussen kann
Unsere Sexualität ist nichts rein Körperliches. Sie ist zutiefst verbunden mit unseren Erfahrungen, unserer Identität, unseren Gefühlen und Beziehungen. Sexualität entwickelt sich nicht einfach „von selbst“ – sie wird geprägt. Von Vorbildern, Beziehungen, Berührungen, von unserer Kultur, unseren Erlebnissen. Und leider auch von Übergriffen, Grenzverletzungen und Missbrauch.
Wenn Du in Deiner Kindheit sexualisierte Gewalt erlebt hast, dann ist es möglich, dass diese Erfahrungen sich tief in Deine Sexualität eingeschrieben haben – auch wenn Du sie vielleicht jahrelang verdrängt oder gar vergessen hast. Solche Prägungen verankern sich meist auf körperlicher und emotionaler Ebene und bleiben häufig unbewusst.
Die Auswirkungen von Missbrauch wirken deshalb oft unterschwellig – und gleichzeitig sehr machtvoll. Sie können Deine Lust, Deinen Körper, Deine Beziehungen, Dein Erleben von Nähe und Intimität beeinflussen. Manche dieser Spuren sind deutlich spürbar, andere zeigen sich erst in bestimmten Situationen: im Bett, in Beziehungen oder in der Begegnung mit Deinem eigenen Körper.
Ich halte es für wichtig, offen darüber zu sprechen. Nicht, um in der Vergangenheit zu verharren – sondern um zu verstehen, was da wirkt und, dass wir damit nicht alleine sind. Um zu erkennen, dass Du nicht „komisch“ oder „kaputt“ bist, sondern dass viele Deiner Empfindungen, Reaktionen und Muster Sinn ergeben, wenn man ihre Wurzeln kennt. Und vor allem: um wieder handlungsfähig zu werden. Um Dich selbst liebevoller zu verstehen – und um Dir Deine Sexualität Stück für Stück zurückzuerobern.
Körperliche Folgen nach Missbrauch
Die Spuren von sexualisierte Gewalt in der Kindheit sind meist irgendwann nicht mehr sichtbar, aber auf körperlicher Ebene trotzdem vorhanden. Selbst wenn die Erinnerungen an das Erlebte verblasst oder ganz abgespalten sind, speichert der Körper die Erfahrungen. Er erinnert sich – manchmal in Form von Schmerzen, manchmal durch Taubheit oder durch scheinbar unerklärliche Reaktionen auf Berührung und Nähe.
Physische Schmerzen und Beschwerdebilder
Viele Betroffene leiden zum Beispiel unter chronischen Beschwerden, für die sich keine eindeutige medizinische Ursache finden lässt – oder bei denen schulmedizinisch keine Verbindung zu seelischen Traumata hergestellt wird. Häufig betroffen sind:
- Wiederkehrende Blasenentzündungen
- Menstruationsbeschwerden, starke Schmerzen oder unregelmäßige Zyklen
- Endometriose, die nicht selten mit seelischen Traumata in Verbindung gebracht wird
- Schmerzen beim Sex (z. B. Vaginismus, Vulvodynie, Penetrationsschmerz)
- Beckenbodenverspannungen, Rückenschmerzen oder ein dauerhaft angespannter Unterleib
- Verdauungsprobleme, Reizdarm oder Übelkeit in Verbindung mit Nähe
Dies sind nur einige Symptome, die Signale des Körpers darstellen, der das Geschehene auf seine Weise verarbeitet oder nach Aufmerksamkeit ruft. Oft sprechen sie eine Sprache, die unser Verstand nicht mehr erinnert, aber die Zellen umso deutlicher.
Körperliche Taubheit und Dissoziation
Ein Schutzmechanismus, der sich häufig schon in der Kindheit entwickelt, ist die Dissoziation – das Abspalten vom Körper, um seelisch zu überleben. Als Erwachsene erleben viele Betroffene dann eine Art körperliche Taubheit: Sie spüren wenig bis gar nichts bei Berührungen, fühlen sich „wie weggetreten“ oder innerlich leer.
Diese Taubheit betrifft nicht immer den ganzen Körper. Oft sind es bestimmte Körperbereiche, wie der Schoßraum, die Brüste, der Bauch oder auch der Mund, die besonders stark von der Abspaltung betroffen sind. Körperliche Nähe oder sexuelle Berührung wird dann nicht als angenehm oder lustvoll erlebt, sondern als unklar, überfordernd oder gar bedrohlich.
Taubheit ist kein Zeichen von „Kälte“ oder „Unfähigkeit“, sondern ein Ausdruck des Körpers, der gelernt hat, sich auf diese Weise selbst zu schützen.
Körperliche Erinnerungen und Flashbacks
Manchmal meldet sich der Körper auch durch plötzliche Reaktionen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchen: Zittern, Erstarren, Atemnot, Übelkeit, ein Engegefühl im Hals oder Brustbereich – oder eine unerklärliche Panik in bestimmten Situationen. Auch Gerüche, Stimmen, Berührungen oder bestimmte Körperhaltungen können sogenannte körperliche Flashbacks auslösen – Erinnerungen, die nicht im Kopf, sondern im Körper gespeichert sind.
Verwirrend und oft sehr beschämend ist es, wenn in bestimmten Momenten sexuelle Erregung auftritt, obwohl keinerlei bewusste Lust da ist. Das kann zum Beispiel passieren bei:
- Gewalt- oder Vergewaltigungsszenen in Filmen
- bestimmten Stimmen, Gerüchen oder Berührungsarten
- dominanten oder übergriffigen Verhaltensweisen im Alltag
- medizinischen Untersuchungen (z. B. gynäkologischen Eingriffen)
- Berührung bestimmter Körperstellen – selbst in einem sicheren Kontext
Solche Reaktionen fühlen sich für viele Betroffene „falsch“ oder verstörend an. Sie fragen sich, ob mit ihnen etwas nicht stimmt. Doch auch hier gilt: Der Körper hat in der Vergangenheit gelernt, auf bestimmte Reize mit Erregung zu reagieren – als Überlebensstrategie. Es ist eine Form von konditionierter Reaktion, nicht von tatsächlicher Lust.
Das Nervensystem unterscheidet dabei nicht zwischen dem Damals und dem Heute. Erst durch Bewusstwerdung, Achtsamkeit und traumasensible Körperarbeit kann diese Verknüpfung nach und nach gelöst und neu verankert werden – sodass Du Deinen Körper wieder als sicheren und verbündeten Ort erleben kannst.
Emotionale Folgen nach Missbrauch
Die tiefen emotionalen Auswirkungen von Missbrauch auf die Sexualität werden häufig erst im höheren Lebensalter sichtbar. Viele Betroffene funktionieren nach außen lange gut – aber innerlich tragen sie eine kaum greifbare Schwere, ein diffuses Gefühl von Angst, Wut Scham oder Ekel, Schwierigkeiten mit Nähe oder ein tiefes Misstrauen sich selbst und anderen gegenüber. Diese emotionalen Spuren sind nicht weniger real als körperliche Narben – sie wirken im Innersten und beeinflussen das Selbstbild, Beziehungen und natürlich auch die Sexualität.
Verletzter Selbstwert
Wer in der Kindheit Missbrauch erlebt hat, wurde oft auf seinen Körper und seine Sexualität reduziert – statt als Mensch mit Gefühlen, Bedürfnissen und Würde gesehen zu werden. Diese Reduktion kann sich tief ins Selbstbild einprägen: Viele Betroffene entwickeln die Überzeugung, nur durch ein „schönes“ oder „begehrenswertes“ Aussehen etwas wert zu sein.
Das kann sich äußern in einem starken Bedürfnis, attraktiv zu wirken, gleichzeitig aber in Unsicherheit, Ablehnung oder Scham gegenüber dem eigenen Körper. Dahinter steckt oft der verzweifelte Versuch, auf einer Ebene Kontrolle zurückzugewinnen, auf der einst jede Selbstbestimmung verloren ging.
Gefühle von Angst, Wut, Scham und Ekel
Angst ist eine der häufigsten emotionalen Reaktionen nach Missbrauch. Sie kann sich auf Nähe, Intimität oder das „sich zeigen“ beziehen – aber auch auf das Empfinden von Lust. Oft taucht sie genau dann auf, wenn eigentlich Verbindung entstehen könnte. Das Nervensystem reagiert dabei nicht auf die aktuelle Situation, sondern auf tief eingegrabene Erinnerungen an Unsicherheit oder Bedrohung.
Wut ist ebenso zentral – auch wenn sie lange unterdrückt oder gar nicht erst wahrgenommen wurde. Sie kann sich gegen die Täter*innen richten, aber auch gegen sich selbst: für das sich nicht wehren, das Schweigen, das Spüren oder Nichtspüren. Häufig projiziert sich diese Wut auch auf die Partnerin oder den Partner – obwohl sie eigentlich den ursprünglichen Täter meint. Diese Dynamik kann belastend sein, wenn sie nicht erkannt und liebevoll benannt wird. Wut zeigt sich manchmal auch als innere Härte, Ablehnung oder Rückzug – oder verlagert sich ins Körperliche, wenn sie keinen Raum bekommt.
Ekel ist ein Gefühl, das selten offen ausgesprochen wird, aber tief wirken kann. Er kann sich in körpernahen Situationen zeigen – z. B. bei bestimmten Gerüchen, Geräuschen, Körperflüssigkeiten oder optischen Reizen. Auch scheinbar harmlose Auslöser wie bestimmte Lebensmittel können intensive Abwehr hervorrufen. Ekel ist oft Ausdruck eines inneren Schutzmechanismus, der sich in überflutenden Momenten von Grenzverletzung gebildet hat – eine Reaktion des Körpers, um sich abzugrenzen.
Scham schließlich ist häufig das Gefühl, das sich über alles legt – leise, aber durchdringend. Über den Körper, die Sexualität, die Bedürfnisse. Es ist oft eine übernommene Scham, nicht die eigene – entstanden aus der Erfahrung, benutzt, entwertet oder übergangen worden zu sein. Diese Scham verhindert oft, sich ganz zu zeigen, und nährt die Angst, „falsch“ oder „zu viel“ zu sein.
Schuldgefühle als Reaktion auf Lust
Viele Betroffene erleben sexuelle Lust als widersprüchlich oder sogar bedrohlich. Einerseits ist die Sehnsucht nach Nähe, Verbindung und Ekstase da – andererseits taucht mit der Erregung oft ein Gefühl von Schuld, Scham oder innerem Rückzug auf.
Sexuelle Lust wurde in der Vergangenheit vielleicht mit Überforderung, Verwirrung oder sogar „Bestrafung“ verknüpft – und so schaltet sich heute das Nervensystem in genau diesen Modus zurück, sobald Erregung entsteht. Lust wird dann nicht als freudvoll, sondern als gefährlich erlebt.
Besonders schwer wiegt es, wenn der eigene Körper während des Missbrauchs mit sexueller Erregung reagiert hat. Viele Betroffene empfinden genau das als unerträglich – als etwas, das sie „mitschuldig“ macht. Dabei ist diese körperliche Reaktion rein reflexhaft. Nur weil der Körper reagiert hat, heißt das nicht, dass man einverstanden war. Und doch bleibt genau das oft als tief sitzendes Trauma zurück: die Frage „Habe ich es gewollt?“, „War es meine Schuld?“
Diese inneren Zweifel gehören zu den größten Hürden auf dem Heilungsweg – denn sie greifen den Selbstwert an der empfindlichsten Stelle an. Der Weg heraus führt über Wissen, Mitgefühl und das Wiederlernen von Körpervertrauen. Dein Körper hat nichts falsch gemacht. Und Du schon gar nicht.
Die Täter-Opfer-Umkehr spielt hier auch häufig eine Rolle: Viele Betroffene glauben insgeheim, „mitgemacht“ zu haben – besonders, wenn der Körper erregt reagiert hat. Doch nochmal: Sexuelle Reaktionen sind keine Zustimmung! Sie sind automatische Reaktionen des Körpers auf Reize, und sie dürfen nicht mit dem eigenen Wollen verwechselt werden.
Übersexualisierung als Überlebensstrategie
Manche Betroffene entwickeln auch ein stark sexualisiertes Verhalten – nicht aus freier Lust, sondern unbewusst als Strategie, um sich selbst zu regulieren, Nähe zu kontrollieren oder emotionales Chaos zu überdecken. Sex kann dann zur Bühne werden, auf der Macht, Kontrolle oder scheinbare Selbstbestimmung inszeniert werden – während darunter oft ein tiefer Schmerz liegt.
Aber auch diese Muster sind nicht „falsch“ oder „übertrieben“ – sie sind Ausdruck eines verletzen Systems, das gelernt hat, auf ihre ganz eigene Weise mit dem Unfassbaren umzugehen. Auch sie verdienen Mitgefühl und ein neugieriges Hinsehen – ganz ohne Urteil.
Sexualität nach Missbrauch und die Folgen in Beziehungen
Viele Menschen, die in der Kindheit sexualisierte Gewalt erfahren haben, erleben im Erwachsenenalter eine schmerzhafte Spaltung: Liebe und Sexualität fühlen sich an wie zwei getrennte Welten.
Während sie sich in einer liebevollen, sicheren Beziehung oft sexuell blockiert oder abwesend fühlen, taucht sexuelle Erregung manchmal in Kontexten auf, die wenig mit Nähe oder Vertrauen zu tun haben – zum Beispiel bei distanzierten, abwertenden oder sogar übergriffigen Personen.
Diese paradoxe Erfahrung ist kein Zeichen von Beziehungsunfähigkeit, sondern eine Folge früher Prägungen: Das Nervensystem hat durch den Missbrauch gelernt, Sexualität mit Gefahr, Spannung oder emotionaler Abwesenheit zu verknüpfen – und nicht mit echter, liebevoller Verbindung.
Bindungssicherheit und sexuelle Abwehr
In einer Beziehung, die von echter Nähe, Fürsorglichkeit und Vertrauen geprägt ist, wird oft ein tieferliegender Schutzmechanismus aktiviert: Das Nervensystem erinnert sich an die Bedrohung, die mit Nähe einst verbunden war. Die Folge kann emotionale Taubheit, Rückzug oder sexuelle Abwehr sein – gerade dann, wenn eigentlich ein sicherer Raum entstanden ist.
Das Gegenüber fühlt sich dadurch möglicherweise abgelehnt, obwohl es genau das Gegenteil ist: Die Sicherheit selbst löst die alte Angst aus. Denn früher bedeutete Nähe nicht Schutz, sondern Schmerz.
Wiederholung alter Dynamiken
Gleichzeitig kann es sein, dass sich sexuelle Anziehung vor allem in Beziehungen zeigt, die unberechenbar, dominant oder distanziert sind. Auch das ist kein „Fehlverhalten“, sondern Ausdruck eines inneren Wiederholungszwangs: Das Nervensystem sucht vertraute Muster – selbst dann, wenn sie verletzend sind.
Manche Betroffene fühlen sich deshalb zu Menschen hingezogen, bei denen sie sich unterlegen oder unsicher fühlen. Andere sabotieren liebevolle Partnerschaften unbewusst, weil innere Anteile die Intensität von Nähe nicht aushalten.
Diese Muster zu erkennen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer gesunden Sexualität in Beziehung. Nicht, um sich zu verurteilen – sondern um mitfühlend zu verstehen, was der Körper und das innere System zu schützen versucht.
Wie das innere Kind die Sexualität nach Missbrauch beeinflusst
Wir haben gesehen, dass sexualisierte Gewalt in der Kindheit nicht nur Spuren im Körper hinterlässt, sondern auch das emotionale Erleben tief prägt und Einfluss auf unsere Beziehungen nehmen kann. Eine zentrale Rolle spielt hier das innere Kind. Während ein Teil der Persönlichkeit erwachsen wird, Beziehungen eingeht und sich vielleicht sogar der eigenen Sexualität annähert, bleibt ein anderer Teil innerlich stehen – eingefroren in dem Moment, in dem Sexualität bedrohlich, überfordernd oder beschämend erlebt wurde. Dieser kindliche Anteil trägt das alte Erleben weiter in sich – und meldet sich oft genau dann, wenn Nähe entsteht.
Ambivalenz zwischen Sehnsucht und Abwehr
Dieses Kind in uns erinnert sich an die Unsicherheit, das Ausgeliefertsein und die Überforderung. Es hat gelernt: Sexualität ist gefährlich. Sie bedeutet Schmerz, Kontrollverlust oder Scham. Für diesen Anteil ist es völlig logisch, sich gegen Sexualität zu wehren – mit Rückzug, Ablehnung oder Abwertung.
Die Folge ist oft ein innerer Konflikt: Der erwachsene Anteil wünscht sich Nähe, Lust und Verbindung – doch sobald es intim wird, übernimmt der Kind-Anteil und löst starke Gefühle oder sogar Körperreaktionen aus. Dieser innere Widerspruch ist kein Zeichen von „Störung“, sondern Ausdruck eines noch nicht integrierten Anteils, der Schutz braucht.
Auch das Erleben von Lust oder Erregung kann den inneren Konflikt verstärken, wenn es in einem Moment geschieht, der vom Kind-Anteil als unsicher oder überfordernd empfunden wird. Hier entsteht oft eine tiefe innere Ambivalenz, die viele Betroffene lange nicht verstehen – und sich selbst dafür verurteilen.
Das innere Kind in Sicherheit bringen
Um die eigene Sexualität nach Missbrauch wieder als etwas Sicheres und Lustvolles erleben zu können, braucht es Zeit – und eine liebevolle Beziehung zu dem inneren Kind. Dieser Anteil möchte gesehen, gehört und ernst genommen werden. Vor allem aber braucht er Sicherheit: die Gewissheit, dass er heute nicht mehr in Gefahr ist und jederzeit „Nein“ sagen darf. Da das innere Kind von Dir als erwachsener Person abhängig ist, bist Du es demnach, die oder der das Kind und seine Grenzen schützen muss.
Wenn dieser Anteil lernt, dass heute ein anderer Umgang möglich ist – ein achtsamer, grenzwahrender und liebevoller –, dann kann langsam ein neues Vertrauen entstehen. Mit der Unterstützung des erwachsenen Selbst kann das innere Kind Stück für Stück mitwachsen, eigene Erfahrungen sammeln und ein neues Bild von Sexualität entwickeln. Nicht aus Zwang. Sondern in seiner Zeit. In seinem Tempo. Und mit eigener Neugier und echter Zustimmung.
Wie wir Sex wieder als sicher erleben können
Wenn die eigene Sexualität als Folge von Missbrauch mit körperlichen und emotionalen Symptomen verbunden ist, geht es nicht darum, möglichst schnell wieder „normal“ zu funktionieren. Es geht vielmehr darum, neue Erfahrungen zu ermöglichen. Erfahrungen von Selbstbestimmung, Entspannung, innerer Zustimmung und Freude.
Doch solche Erfahrungen lassen sich nicht auf Knopfdruck herbeiführen. Sie entstehen, wenn unser Nervensystem zu der Einschätzung von Sicherheit kommt. Sicherheit ist das Fundament, auf dem sich Lust und Verbindung überhaupt erst wieder entwickeln können. Und sie ist der Schlüssel, um alte sexuelle Muster zu verwandeln.
Nachstehend erläutere ich Dir drei wesentliche Schritte oder Ansätze, die Du liebevoll, achtsam und in Deinem Tempo ausprobieren kannst, um Sex wieder als sicher erleben zu können:
1. Traumasensible Sexualität
Für viele Betroffene beginnt Heilung damit, Sexualität innerlich von Gefahr zu entkoppeln. Das Nervensystem hat gelernt, Berührung mit Überforderung, Erregung mit Kontrollverlust oder Intimität mit Schmerz zu verbinden. Deshalb brauchen Körper und Seele neue, sichere Erfahrungen mit echter Freiwilligkeit, Achtsamkeit und Präsenz.
Echte Sicherheit in der Sexualität entsteht nicht durch Anpassung, sondern durch Verbindung mit Dir selbst. Sie zeigt sich nicht daran, dass Du „wieder Sex haben kannst“, sondern daran, dass Du Dich frei fühlst, selbst zu entscheiden, was Du willst und was nicht.
Ein zentrales Element dabei ist die Fähigkeit, Grenzen wahrzunehmen und zu kommunizieren. Viele Betroffene haben gelernt, sich besonders in intimen Situationen zu übergehen. Deshalb ist es wichtig folgendes zu üben:
- Innezuhalten und zu spüren: Bin ich wirklich einverstanden?
- Körperliche Reaktionen (wie Schmerzen oder Anspannungen) als wichtige Hinweise ernst zu nehmen.
- Gut für Dich sorgst, indem Du schaust, was Du gerade brauchst.
- Klar Nein zu sagen, wenn sich etwas nicht gut anfühlt – auch mitten in einer Begegnung!
Sicherheit bedeutet auch, dass jederzeit alle Deine Gefühle willkommen sind. Du musst nicht „gut drauf“ sein oder „funktionieren“. Du darfst zögern, weinen, taub sein oder nichts fühlen. Alles, was sich zeigt, gehört zum Heilungsweg dazu und darf ausgedrückt werden.
2. Sexualität nach Missbrauch neu erforschen
Wenn Sicherheit durch mehr Traumasensibilität gewachsen ist, darf ein neuer Erfahrungsraum entstehen: Ein Raum, in dem Du Dich mit Deiner Sexualität neu verbinden darfst – neugierig, langsam und ohne Erwartungen.
Dabei geht es nicht um Techniken oder Leistung, sondern um Forschen. Um das Entdecken dessen, was sich für Dich gut anfühlt – heute, in diesem Moment. Einige hilfreiche Prinzipien auf diesem Weg der Neukonditionierung sind:
- Langsamkeit statt Leistungsdruck
Viele Menschen erleben inneren Druck, in sexuellen Begegnungen „mithalten“ oder gefallen zu müssen. Doch echte Verbindung entsteht nicht durch Tempo, sondern durch Präsenz. Slow Sex ist ein liebevoller Zugang, der Tiefe statt Zielorientierung ermöglicht – allein oder mit Partner*in. - Präsenz statt Funktionieren
Ein Ja sollte wirklich ein Ja sein. Nicht weil es erwartet wird, sondern weil Du es fühlst. Das bedeutet auch: zu erkennen, wenn sich während des Sex plötzlich etwas verändert – und liebevoll damit umzugehen. - Selbstbestimmte Berührung
Berühre Dich – oder lass Dich berühren – auf neue Weise. Ohne ein Ziel. Ohne „das Übliche“. Liebevolle, absichtslose Berührungen können heilsam sein, weil sie einen neuen Zugang zu Sexualität ermöglichen.
Du kannst Deinen inneren Prozess der Neukonditionierung auch mit Fragen, wie diesen begleiten:
- Was bedeutet Sexualität für mich – jenseits von dem, was ich gelernt habe?
- Was wünsche ich mir wirklich in intimen Momenten – körperlich, emotional, energetisch?
- Welche Berührungen tun mir gut – und welche lösen Spannung oder Widerstand aus?
- Lasse ich mich wirklich nur auf Intimität ein, wenn ich es will?
Auch die bewusste Entscheidung, vorerst keine Sexualität zu leben, kann heilsam sein. Sie schenkt Raum zum Spüren, zum Atmen, zum Ankommen bei Dir selbst – ohne Druck, ohne Bewertung.
In folgendem Beitrag berichte ich davon, welche heilsamen Effekte ein zeitweiser Verzicht auf mich hatte
3. Schoßraumarbeit zur Heilung Deiner Sexualität nach Missbrauch
Der Schoßraum ist nicht nur biologisch gesehen der Ort, an dem neues Leben entsteht, sondern er trägt auch das Potenzial, kreative Projekte und Vorhaben in die Welt zu gebären. Er ist der ganz individuelle Bereich einer Frau, der sich als Raum offenbart, in dem verdeckte, einschränkende Erfahrungen und Konditionierungen sichtbar werden können, sowie auch geistige, emotionale und körperliche Folgen von Missbrauch.
Die Schoßraumarbeit ist ein körperorientierter Ansatz, der darauf abzielt, diesen Bereich wieder liebevoll zu bewohnen. Sie kann helfen, alte Muster zu lösen, die Verbindung zu Deiner inneren Stimme zu stärken und Deine sexuelle Kraft in etwas Neues zu verwandeln.
Elemente der Schoßraumarbeit können sein:
- Gebärmuttergespräche und geführte Meditationen
- Liebevolle und achtsame Berührungen und Massagen
- Tönen, Schütteln, Tanzen, um Erstarrung in Bewegung zu verwandeln
- Yoni-Steaming (reinigende und entspannende Dampfbäder)
- Fachliteratur zum Thema und Frauenkreise
Bei der Schoßraumarbeit geht es nicht um „Heilung auf Knopfdruck“, sondern um einen Prozess des Wieder-Vertraut-Werdens. Um die Schaffung eines Raumes, in dem Du Deine Grenzen spüren, Deine Wünsche formulieren und Dein Körpergedächtnis liebevoll neu schreiben darfst.
Ich möchte Dir an dieser Stelle zwei verschiedene Ansätze empfehlen, die mir bereits sehr geholfen haben – und es weiterhin tun:
- Schoßraum®-Prozessbegleitung nach Tatjana Bach
Dieser Ansatz berücksichtigt die geistige, emotionale und körperliche Ebene einer Frau – mit einem besonderen Fokus auf den Körper. Die Arbeit umfasst drei klar voneinander getrennte Schritte:
- Schoßraum®-Beratung und Annäherung
- Schoßraum®-Berührung I (Hand auf bekleidetem Körper)
- Schoßraum®-Berührung II (Hand auf unbekleidetem Körper)
Im Prozess empfundene Anspannung signalisiert innere Grenzen, die – vielleicht sogar erstmals im Leben – wahrgenommen und vor allem respektiert werden. Der angestrebte Zustand während des gesamten Prozesses ist ein ruhiges, entspanntes Nervensystem. Auf diese Weise findet eine entschleunigte, sanfte Annäherung an den Schoßraum statt. Ich persönlich erlebe bei dieser Arbeit auch ganz neue Bindungserfahrungen: Echter Kontakt, bei dem meine Bedürfnisse und Grenzen oberste Priorität haben.
- Schoßraumarbeit nach Ilan Stephanie
Die Arbeit der Körperforscherin, Traumaheilerin und Autorin schafft es, einem schweren und schmerzhaften Thema eine überraschende Leichtigkeit zu geben. Durch ihre Impulse und Übungen konnte ich – nach jahrelanger Vermeidung – wieder eine freudvolle Verbindung zu meiner Sexualität aufbauen, die sich sicher, lebendig und ekstatisch anfühlt. Und das nachdem ich jahrelang überhaupt keine Lust auf Sex hatte.
Wenn Du neugierig auf die Arbeit von Ilan Stephanie bist, findest Du hier eins ihrer *Angebote im Onlineformat:
Heilung ist möglich – in Deinem Tempo, auf Deine Weise
Du hast jetzt einen Einblick bekommen, wie sich Missbrauch auf Deine Sexualität auswirken kann – und welche Folgen damit verbunden sind.
Ich hoffe, dass Du auch eine Idee davon mitnehmen konntest, welche Schritte hilfreich sein können, um diese Erfahrungen zu integrieren und Heilung zu ermöglichen.
Heilung bedeutet hier nicht, dass Du irgendwann wieder „sexuell funktionierst“. Heilung bedeutet, dass Du mit Dir selbst verbunden bist – und frei entscheiden kannst, was Du willst und was nicht. Dass Du in der Lage bist, gut für Dich zu sorgen, indem Du jederzeit Nein sagen kannst. Denn nur, wenn es wirklich ein Nein geben darf, kann es auch ein echtes Ja geben – ein Ja zu Dir selbst.
Deine Sexualität gehört Dir. Und sie darf wieder ein Ort werden, an dem Du Dich sicher, lebendig und ganz fühlst. ♥
Gab es etwas in diesem Beitrag, das Dich berührt oder zum Innehalten gebracht hat? Ich freue mich über Deine Gedanken in den Kommentaren.
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Quellenverweise:
Bass, Ellen & Davis, Laura (1990): Trotz allem. Wege zur Selbstheilung für sexuell missbrauchte Frauen, 1. Ausgabe, Berlin
Richardson, Diana (2013): Zeit für die Liebe: Sex, Intimität und Extase in Beziehungen, Köln
Ruppert, Franz (2019): Liebe, Lust und Trauma: Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität, 1. Aufl., München
Stahl, Stefanie (2015 ): Das Kind in Dir muss Heimat finden: Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme, Originalausgabe, München