Interview

Borderline-Persönlichkeit - mehr, als eine Diagnose

Borderline-Persönlichkeit – Du bist mehr als eine Diagnose!

An was denkst Du, wenn Du den Begriff Borderline-Persönlichkeit hörst? Vielleicht geht es Dir ähnlich wie mir und Du reduzierst ihn auch auf selbstzerstörerisches Verhalten. Vor einiger Zeit habe ich Dario Lombardi über Instagram kennengelernt, der sich in seinen Beiträgen diesem Thema zuwendet, weil er im Alter von 23 Jahren selbst die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung bekommen hat. Im Interview verrät er uns unter anderem, welchen Herausforderungen er durch diese Diagnose begegnet ist, warum er es für notwendig hält, den Begriff zu entstigmatisieren und welche Therapieformen ihm bisher geholfen haben. Egal, ob Du selbst betroffen bist oder nicht. Es lohnt sich, dieses Interview zu lesen!

Was ist eine Borderline-Persönlichkeit?

Lieber Dario, magst Du kurz erklären, was klassischerweise unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung verstanden wird?

Es gibt verschiedene Klassifikationen für psychische Störungen die das Störungsbild unterschiedlich beschreiben. In dem aktuellen Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (DSM-5) handelt es sich bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) um ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität.

International gilt das ICD-10, aber ich entscheide mich für das amerikanische Klassifikationssystem DSM-5, weil es in meiner Wahrnehmung die Kriterien der BPS präziser widerspiegelt. Laut diesem Klassifikationssystem müssen fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein, um von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auszugehen:

  1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.
  2. Ein Muster instabiler und intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
  3. Störung der Identität: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.
  4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen, z.  Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Essanfälle“. 
  5. Wiederholtes suizidales Verhalten, Suizidandeutungen oder -Drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.
  6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung, z.  hochgradige episodische Misslaunigkeit, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern.
  7. Chronische Gefühle von Leere.
  8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren, z.  häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen.
  9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative  Symptome.

Wie würdest Du mit eigenen Worten die klassischen Merkmale der BPS beschreiben?

Zu den klassischen Symptomen zählen starke Emotionen, die nur schwer regulierbar sind, häufige Stimmungsschwankungen, Schwarz-weiß-Denken, destruktives/selbstschädigendes Verhalten, massive Ängste vor dem Verlassenwerden mit einer gleichzeitigen Angst vor dem Verschlungenwerden (Selbstverlust), innere Leere und Dissoziation.

Betroffene leiden unter einer hohen inneren Anspannung, die gerade am Anfang des eigenen Genesungswegs häufig durch dysfunktionales Verhalten abgebaut wird. Dazu zählen zum Beispiel Drogenkonsum oder selbstverletzendes Verhalten.

Das Gefühl, anders als alle anderen zu sein und sich auch in Gruppen einsam und nicht zugehörig zu fühlen, spielt auch eine Rolle. Menschen mit einer BPS haben eine wahnsinnige Sehnsucht nach einer emotional sättigenden Bindung und seelischer Verschmelzung (Symbiose) und gleichzeitig halten sie diese Nähe und Intensität nicht lange aus (Nähe–Distanz Problematik). 

Das Alleinsein mit sich selbst erscheint Betroffenen als existenziell bedrohlich. Die Instabilität des eigenen Selbstbildes zeigt sich darin, dass sie häufig nicht wissen, wer sie eigentlich wirklich sind. Es bestehen Unsicherheiten bei Themen wie den eigenen Zielen, Werten, dem Berufswunsch oder der sexuellen Orientierung.

Wenn Du Dich in den genannten Merkmalen wiederfindest, muss es nicht bedeuten, dass Du automatisch unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidest. Auch andere Ursachen können zu derartigen Ausprägungen führen. Zudem ist es an dieser Stelle wichtig, Dir vor Augen zu führen, dass es für alles Hilfe gibt und Du nicht ein Leben lang darunter leiden musst.

Wie kann man die BPS von anderen Diagnosen z.B. Suchtkrankeiten, die ja auch selbstzerstörerisch sind, abgrenzen?

Meines Wissensstandes nach sind Suchterkrankungen immer eine Bewältigungs- und Kompensationsstrategie für eine innere seelische Not.

Eine klare Abgrenzung der Diagnosen kann in meinen Augen nicht erfolgen, weil das Suchtverhalten zu den Merkmalen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zählen kann. Menschen mit einer BPS haben häufig eine gewisse Neigung zu Suchtverhalten, um ihre Bedürftigkeit nach emotionaler Nähe zu kompensieren. Besonders dann, wenn die gewünschte Nähe durch zwischenmenschliche Beziehungen nicht erreichbar ist.

Umgang mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung

Willst Du mit den Leser/innen teilen, wann und wie es zu Deiner Diagnose gekommen und wie es Dir damit ergangen ist?

Ja, gerne. Ich befinde mich bereits seit 2011 in therapeutischer Behandlung, weil ich unter Abhängigkeit, Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen, Schwierigkeiten in der Ausbildung, Wutausbrüchen, Ängsten und depressiven Symptomen gelitten habe. Im Jahr 2015 entschied ich mich zu einem Klinikaufenthalt in der Parlandklinik in Bad Wildungen, um mich zu stabilisieren und meine anhaltenden, belastenden Symptome abklären zu lassen. Dort bekam ich relativ schnell die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Im ersten Moment war mir das ziemlich gleichgültig, weil ich in den Jahren davor schon alle möglichen Diagnosen bekommen hatte. 

Als ich mich in Internetforen zu diesem Störungsbild informierte, wurde ich dann aber sehr instabil. In den Berichten von Angehörigen oder Menschen, die gefährliches Halbwissen verbreiten, fand ich nur negative Beschreibungen zu dieser Diagnose. Es gab Warnungen davor, mit sogenannten „Borderlinern“ in Beziehung zu treten, weil sie anderen emotional schaden würden. Es wurde oftmals verallgemeinert mit Manipulation, emotionaler und/oder körperlicher Gewalt, Untreue, Promiskuität und Übergriffigkeit. Ich war schockiert darüber, dass Borderline fast ausschließlich mit einem radikalen negativen Bild assoziiert wurde.

Ich fing an zu glauben, dass alles in mir und meiner gesamten Persönlichkeit falsch und nicht erwünscht sei. Ich dachte unheilbar krank zu sein und dass für mich kein lebenswertes Leben mehr möglich ist. Das führte bei mir zu großer Hoffnungslosigkeit und am Ende zu einer Krise mit Selbstabwertung und Selbsthass. 

Borderline-Persönlichkeit - Ganzwerdung

Auch in Gesprächen mit Fachärzten habe ich erlebt, dass ich allein durch die Diagnose anders und negativ wahrgenommen wurde. Es gab Therapeut/innen, die mir gesagt haben, dass sie keine „Borderliner“ aufnehmen wollen.
Sowohl im persönlichen Kontakt als auch in Medienberichten oder Youtube-Videos wurde ich mit Sätzen wie diesen konfrontiert: „Borderline hat man nicht, Borderline ist man.“ Oder auch „Borderline hat man ein Leben lang.“ Mir schien es so zu sein, dass von diesen Personen gar nicht mehr der Mensch hinter der Diagnose gesehen wird, der selbstverständlich auch positive Eigenschaften hat. Es hat lange gedauert, bis ich mir neues Wissen angeeignet habe, durch das ich mich neu orientieren und von solchen Stigmatisierungen abgrenzen konnte.

Hilfe für Betroffene einer Borderline-Persönlichkeitsdiagnose

Wie können Betroffene von Borderline Hilfe finden? Welche Therapiemethoden haben Dir besonders geholfen und welche Schritte würdest Du empfehlen?

Ich denke, man kann keine pauschalen Empfehlungen aussprechen. Betroffene mit Borderline haben jedoch in der Regel massive negative Beziehungserfahrungen gemacht, wodurch sie negative Schemata entwickelt haben. Wie zum Beispiel: „In Beziehungen werde ich immer verletzt und deshalb lohnen sie sich nicht“ oder „So wie ich wirklich bin, kann mich niemand lieben“. Ich selbst bin deshalb ein großer Fan der Schematherapie. Diese wurde von Jeffrey E. Young entwickelt und gehört neben der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) und der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) zur dritten Welle der Verhaltenstherapie, also um eine weiterentwickelte Form der klassischen Verhaltenstherapie.

In der Schematherapie spielt die Beziehungsebene eine entscheidende Rolle. Die Bedürfnisse der Betroffenen, die in der Kindheit frustriert wurden, erfahren in der Therapiebeziehung mithilfe des sogenannten „limited reparenting“ häufig zum ersten Mal Wahrnehmung, Anerkennung und eine positive Antwort. Dadurch sind korrigierende Beziehungserfahrungen, also die Veränderung negativer Beziehungsschemata möglich.

Borderline-Persönlichkeit - Therapie
Wenn man diese Form der Zuwendung und Akzeptanz nicht gewohnt ist, kann das am Anfang sehr herausfordernd und triggernd sein. Dranbleiben lohnt sich aber. Für mich kam hier zum ersten Mal in meinem Leben eine gute zwischenmenschliche Beziehung zustande, in der ich mich akzeptiert fühlte, so wie ich bin.

Durch die Arbeit mit den eigenen Persönlichkeitsanteilen, die in der Schematherapie Modi genannt werden, entwickelt man ein besseres Verständnis für sich selbst und schafft es, sich mit einer wohlwollenden Haltung zu begegnen. Auf lange Sicht schafft man es so sich irgendwann selbst eine gute Mutter und/oder ein guter Vater zu sein (Selbstbeelterung). Seine bedürftigen inneren Kind-Anteile auf diese Weise nachnähren zu können, ist ein wichtiger Schritt auf dem eigenen Genesungsweg. Dadurch gelingt es einem, die starke Abhängigkeit von externen Faktoren (z.B. anderen Menschen) zu verringern.

Dario`s Buchempfehlungen zur Schematherapie

Seit ein paar Jahren arbeite ich auch mit körperorientierten Ansätzen wie dem Somatic Experiencing (SE) und dem Neuroaffektiven Beziehungsmodell (NARM). Insbesondere Übungen zur Selbstregulation des Nervensystems, zur Stärkung der Selbstwahrnehmung und zur Steigerung des Körpergewahrseins helfen mir sehr. Auch das Erarbeiten und Setzen von Grenzen sowie das Schaffen innerer und äußerer Ressourcen ist erlernbar.

Der erste Schritt ist auf jeden Fall die Bereitschaft, sich selbst kennen und reflektieren zu lernen. Auch wenn einem in der Vergangenheit eventuell Schlimmes widerfahren ist, trägt man jetzt trotz allem selbst die Verantwortung für das eigene Leben. Diese Verantwortung zu übernehmen, bedeutet natürlich auch Arbeit.

Warum gehst Du seit einiger Zeit mit dem Thema in die Öffentlichkeit? Was ist Dein Herzensanliegen dabei?

Ich war in der Vergangenheit einige Zeit als Co-Moderator einer Borderline-Selbsthilfegruppe tätig und wollte mit meinen Instagram-Beiträgen Aufmerksamkeit auf unsere Gruppe lenken. Zudem geht es mir darum, zu einem differenzierteren Bewusstsein anzuregen. Ich möchte zur Entstigmatisierung des Störungsbildes BPS beitragen.

Ebenso möchte ich dazu anzuregen, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und die Mechanismen zu verstehen, die hinter den belastenden Gefühlen und Verhaltensweisen stehen. Ich will dazu appellieren, dass die Bezeichnung „Borderliner“ durch „Mensch“ ersetzt wird – ein Mensch, der sich seine Geschichte nicht ausgesucht hat und mit der Lebensaufgabe konfrontiert ist, seine Gefühle und Gedanken neu zu definieren, um ein selbsterfüllendes Leben führen zu können, das jeder von uns verdient hat.

Gibt es noch etwas, den Du meinen Leser/innen und/oder Betroffenen gerne mit auf den Weg geben möchtest?

Ja, Du bist MEHR als deine Diagnose(n)! Du bist MEHR als deine Symptome! Du bist MEHR als deine Emotionen! Du bist MEHR als deine Verletzungen und Traumata! Du bist MEHR als deine Unzulänglichkeiten! Du bist MEHR als deine Geschichte! Du bist MEHR als das, was andere über dich reden und denken! Du bist MEHR als du in dir siehst! Alles Liebe Dario

Borderliner-Persönlichkeit - Du bist genug

Danke lieber Dario für dieses aufschlussreiche Interview und Deinen Mut, Dich mit Deiner persönlichen Geschichte zu zeigen.

Wie einleitend bereits erwähnt, habe auch ich den Begriff Borderline-Persönlichkeit immer ganz pauschal mit selbstzerstörerischen Verhalten gleichgesetzt.  Durch Deine Beiträge auf Instagram wurde mir klar, wie komplex dieses Themengebiet ist und dass ich selbst noch vor einigen Jahren wahrscheinlich diesem Störungsbild entsprochen hätte. Demnach sehe ich da auch eine Verbindung zum  Entwicklungs- und Bindungstrauma. In diesem Zusammenhang finde ich auch Deine Erläuterungen zur Schematherapie wertvoll, weil sie mir und vielleicht auch anderen noch eine weitere Möglichkeit für den eigenen Heilungsweg aufzeigen.

Für Deinen weiteren Weg der Heilung sowie für Deine berufliche Entwicklung wünsche ich Dir alles Liebe. Ich bin sicher, dass Du noch vielen Menschen helfen wirst.,

Sucht und Trauma

Ist Sucht eine Folge von Trauma und kann man sich nachhaltig davon befreien?

Sucht und Trauma – beides Themen, die mich betreffen und beschäftigen. Viele Jahre meines Lebens war ich süchtig nach Rausch- und Betäubungsmitteln. Ich kenne die inneren Leidenszustände, die damit einhergehen: Der verzweifelte Kampf davon loszukommen sowie Gefühle von Wertlosigkeit und Scham, weil man es trotz fester Vorsätze nicht schafft.

Vor inzwischen genau 10 Jahren hatte ich großes Glück, weil ich eine Therapeutin fand, die trotz meiner Sucht mit mir zusammenarbeiten wollte und mir half, davon loszukommen. Leider ist das jedoch keine Selbstverständlichkeit, denn in der klassischen Psychologie und Psychotherapie werden Sucht und Trauma meist immer noch getrennt voneinander betrachtet. Lassen sich die hohen Rückfallquoten bei Menschen mit Suchtverhalten darauf zurückführen? Ist Sucht etwas, womit man ein Leben lang „kämpfen“ muss oder gibt es Möglichkeiten, sich nachhaltig davon zu befreien?

Ich freue mich sehr, dass ich Prof. Dr. Franz Ruppert zu all meinen Fragen rund um dieses Thema interviewen durfte. Er ist als Autor zahlreicher Bücher und durch die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) bekannt, mit der ich in den letzten fünf Jahren große Fortschritte auf meinem Weg der Ganzwerdung gemacht habe.

Allgemeines zu Sucht

Lieber Herr Ruppert, begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit mit traumatisierten Menschen häufig Suchtthematiken?

Franz Ruppert: Ja, es kommt ab und zu vor, dass ich mit Menschen arbeite, die unter Sucht oder süchtigen Verhaltensweisen leiden. Einige der zahlreichen Fallbeispiele in meinen Büchern, in denen Menschen das Anliegen äußern, von Zigaretten-, Alkohol- oder Spielsucht loszukommen, spiegeln das wieder.

Welche Formen von Sucht sind Ihnen bekannt und was kennzeichnet diese Süchte?

Franz Ruppert: Sucht gibt es meiner Meinung nach in zweierlei Formen:

  • Als ungehemmten Konsum von Getränken, Nahrungsmitteln, Tabak, Medikamenten oder Chemikalien und
  • Als exzessive Verhaltensweisen wie Arbeiten, Spielen, sexuelle Betätigung, Sport treiben, Fernsehen, Einkaufen und anderes mehr.
Suchtformen - Ganzwerdung

Gekennzeichnet werden süchtige Verhaltensweisen meiner Meinung nach durch:
  • Zwanghaftigkeit,
  • Toleranzentwicklung,
  • Dosissteigerung,
  • Entzugserscheinungen,
  • Weitermachen, trotz negativer Konsequenzen,
  • Verschleierung der Realität des Süchtigseins,
  • Völligen Kontrollverlust.

In all diesen Fällen verhalten sich Menschen konträr zu ihren eigenen existentiellen Interessen. Sie achten nicht darauf, gut und ausreichend zu essen, saubere Luft zu atmen, ihren Körper vor Schädigungen zu schützen, Daseinsfreude zu empfinden und ihr Leben wirklich zu genießen. Statt aus vollem Herzen zu leben und zu lieben, über-leben sie.

Der Zusammenhang von Sucht und Trauma

Gibt es Ihrer Beurteilung nach einen Zusammenhang zwischen Sucht und Trauma und wenn ja, welchen?

Franz Ruppert: Ja, meiner Meinung nach ist Sucht eine Form von Überlebensstrategie, um sich mit den unangenehmen Gefühlszuständen nicht auseinandersetzen zu müssen, die aus abgespaltenen Traumagefühlen herrühren.

Negative Gefühlslagen wie Ängste, Schamgefühle oder Schmerzen werden von süchtig gewordenen Menschen, sobald sie spürbar werden, sofort durch den Konsum von Alltagsdrogen (Alkohol, Zigaretten, Kaffee, Zucker etc.), Medikamente (Schlaf- und Beruhigungsmittel), die Zufuhr gesetzlich verbotener narkotisierender Drogen (Marihuana, Heroin) oder aufputschender chemischer Substanzen (Amphetamine, Kokain) überlagert.

Wie bereits erwähnt sind auch bestimmte Verhaltensweisen geeignet, um hochkommende Traumagefühle wegzudrücken. Zum Beispiel versuchen Soldaten durch Bordellbesuche ihre Ängste durch sexuelle Stimulation zu übertönen.

Das Abspalten der eigenen Gefühle führt wiederum zu innerer Leere, die dann durch künstlich erzeugte Körpersensationen und durch Überaktivität gefüllt wird. Weil der innere Bezug fehlt, gibt es bei alledem keine natürliche Sättigung und kein inneres Empfinden dafür, wann es genug ist.

Sucht und Trauma - Alkohol und Medikamente

Viele Menschen setzen mit ihrer Sucht ihre ursprünglichen Traumatisierungen erneut in Szene. Sie verletzen und vergiften sich selbst, sie nehmen keine Rücksicht auf ihren Körper, sie versuchen, den Dauerstress, unter dem sie in Folge ihrer Traumatisierungen stehen, mit Hilfe der Drogen auszuhalten.

Manche Süchtige erinnern nicht zufällig an kleinkindhaftes Verhalten in der Forderung, Bedürfnisse von außen und ohne Aufschub befriedigt zu bekommen. Die Motive des Suchtverhaltens haben ihre Wurzeln in vielen Fällen in einem Symbiosetrauma, weil die ursprünglichen symbiotischen Bedürfnisse nach Wärme, Geborgenheit und Umsorgtsein niemals befriedigt wurden. Daher sind Alkohol, Cannabis und Heroin beliebte Drogen bei symbiotisch bedürftigen Menschen. Sie können sie kurzfristig wärmen und in Watte packen.

Welchen Nutzen hat die Sucht noch für ein traumatisiertes Nervensystem und was für negative Auswirkungen sind Ihnen bekannt?

Franz Ruppert: Für ein traumatisierendes Nervensystem kann ein Suchtmittel angstlösend, schmerz- und angstbetäubend sein. Die Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein, unter dem die meisten Traumatisierten leiden, werden überlagert. Drogen (von Alkohol bis Zucker) vermitteln, zumindest für kurze Zeit die Illusion, alles wäre gut oder zumindest halb so schlimm. Sie erzeugen eine emotionale Scheinwelt von innerer Harmonie.

Jede Droge oder süchtige Verhaltensweise hat jedoch auch vielfältige und langfristige negative Auswirkungen auf den Körper, das Gehirn, die psychischen Leistungen und die sozialen Beziehungen. Die Überlebensstrategien wollen diese Zusammenhänge nicht anerkennen und bringen die negativen Folgen nicht in einen Zusammenhang mit dem Drogenkonsum oder ihren süchtigen Verhaltensweisen. Im Gegenteil, die Droge oder das süchtige Verhalten wird als das Heilmittel für die unerträglichen emotionalen und körperlichen Zustände benutzt, die jedoch immer mehr von der Droge selbst hervorgerufen werden, je länger der Suchtprozess voranschreitet.

Dadurch entstehen die bekannten Aufschaukelungsprozesse, die zwangsläufig zu einer Dosissteigerung des Konsums und der süchtigen Handlungen führen, die im Endstadium dann nur noch die Entzugserscheinungen überdecken können.

Süchtiges Verhalten ist somit eine Überlebensstrategie, die bis an die Grenzen der seelischen, körperlichen und sozialen Ressourcen eines Menschen geht und zuweilen weit darüber hinaus. Dies belegen die vielen körperlich schwer kranken Alkoholiker und nikotinabhängigen Raucher und die zahlreichen Herointoten.

Können anhand des Ausmaßes einer Sucht Rückschlüsse auf die Schwere der erlebten Traumata gezogen werden?

Franz Ruppert: Je schwerwiegender die ursprünglichen Traumatisierungen sind, desto „härter“ sind die von einem Süchtigen verwendeten Drogen und desto intensiver ist ihr Konsum. Auch bei den süchtigen Verhaltensweisen ist ein Rückschluss zwischen dem Ausmaß der zwanghaft durchgeführten Handlungen und der Schwere der Traumatisierung möglich.

Man kann das Ausmaß einer der Sucht zugrundeliegenden Traumatisierung auch daran abschätzen, wie schwer oder leicht es jemandem fällt, seinen Drogenkonsum oder sein Suchtverhalten aufzugeben. Wer z.B. aus einer schlechten Angewohnheit heraus zum Zigarettenraucher geworden ist, kann relativ schnell auf das Rauchen wieder verzichten. Wer hingegen mit dem Nikotin seine Übererregungszustände kontrolliert, sich betäubt und ablenkt, um seine negativen Gefühle nicht spüren zu müssen, seine innere Leere aufzufüllen versucht oder darüber Gefühle erzeugt, die seine symbiotische Verstrickung in seiner Familie widerspiegeln, steht unter dem Einfluss eines schweren Traumas.

Sucht und Trauma in der klassischen Psychotherapie

In der Psychologie und Psychotherapie werden Sucht und Trauma häufig isoliert voneinander betrachtet und es wird behauptet, dass zunächst die Sucht bewältigt werden muss, bevor man sich seinen Traumata zuwenden kann.

1. Liegt hier Ihrer Meinung nach eine fundamentale Fehleinschätzung vor?

Franz Ruppert: Sucht und Trauma sind miteinander verwoben und können meiner Meinung nach nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Folgesymptome müssen deshalb immer im Zusammenhang gesehen und therapiert werden.

2. Kann die hohe Rückfallquote bei traumatisierten Abhängigen dadurch erklärt werden?

Franz Ruppert: Meiner Meinung nach ja. Solange unverarbeitete Traumata in der Therapie keine Beachtung finden und das Symptom „Sucht“ isoliert behandelt wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem Rückfall kommt. In vielen Fällen torpedieren die süchtigen Überlebensanteile aber auch eine Psychotherapie oder machen sie nur aus Berechnung mit, um z.B. richterliche Auflagen zu erfüllen.

3. Welche Folgen können durch die isolierte Betrachtung von Sucht in der Diagnostik auftreten?

Franz Ruppert: Häufig werden Menschen z.B. durch eine bestimmte Form der psychiatrischen und psychologischen Diagnostik zu Unrecht in eine Täterrolle gebracht und dann durch die Art der Behandlung in einer Opferrolle gehalten. Wird etwa bei einem Mädchen, welches nichts mehr isst, die Diagnose „Magersucht“ gestellt, geschieht folgendes:

    • Man definiert sie als eine kranke Person.
    • Indem man ihr Verhalten der Essensverweigerung von seinen Ursachen isoliert, wird letztendlich alleine dem Mädchen die Schuld darangegeben, dass sie sich „nicht normal“ verhält.
    • Durch diese Diagnostik wird das Mädchen notfalls mit Gewalt gezwungen, wieder „normal“ zu essen.

Wenn wir jedoch wissen, dass die Essensverweigerung eine Reaktion auf die Ablehnung und Lieblosigkeit seitens der Mutter und auf die Gewalt und den sexuellen Missbrauch seitens des Vaters ist, so wird die Absurdität einer solchen Diagnostik offenbar, dieses Mädchen wäre „süchtig“ danach, „mager“ zu sein.

In Wirklichkeit bringt das Mädchen durch seine Essenverweigerung eine Täter-Opfer-Spaltung in sich selbst zum Ausdruck, indem ihr eigener Täteranteil, der abgespalten in ihrem Kopf sitzt, den Opferanteil, den ihr eigener Körper repräsentiert, unterdrückt und auslöschen möchte.

Magersucht und Trauma - Ganzwerdung

Können Sie die Täter-Opfer-Spaltung an einem weiteren Beispiel erklären?

Franz Ruppert: Ja, gerne am Fallbeispiel „Das Zigarettenrauchen stoppen“ von meiner Klientin Marlene:

Marlene möchte ihr süchtiges Rauchen beenden. Immer wenn sie das jedoch versucht, gerät sie in ein Panikgefühl. In ihrer IoPT-Aufstellung (siehe unten) zeigte dieser Anteil, den sie für ihr süchtiges Rauchen aufstellte, eine Doppelnatur. Es war ein Mann, der einerseits jemand repräsentierte, der sie als Jugendliche brutal vergewaltigt hatte. Sie hatte dies bis dato vollkommen aus ihrem Bewusstsein verdrängt, da sie während der Vergewaltigung ihren Köper die ganze Zeit bewusst verlassen hatte. Andererseits brachte der Stellvertreter für dieses süchtige Rauchen zum Ausdruck, dass er sterben wollte. Im Rauchen spiegelte sich also die Täter-Opfer-Spaltung von Merlene wieder. Mit dem Rauchen reinszenierte sie ihre orale Vergewaltigung (Zigarette in den Mund stecken und Gifte = Sperma inhalieren und hinunterschlucken) und zugleich dient das Einatmen von Nikotin dazu, ihre Panik zu narkotisieren.

Ist eine Befreiung aus der Sucht möglich?

Bei Alkoholabhängigkeit wird von einer Krankheit ausgegangen, die ein Leben lang besteht. Teilen Sie diese Definition und Ansicht? Wird eine Sucht ein Leben lang bestehen bleiben?

Franz Ruppert: Ich persönlich bin der Meinung, dass wenn man an der Ursache seiner Sucht arbeitet, man auch ganz aus der Suchtdynamik aussteigen kann. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei Sucht um eine Überlebensstrategie handelt, dann wird diese nicht mehr benötigt, sobald die Ursache Beachtung findet. Wenn die abgespaltenen Traumagefühle gesehen und gefühlt werden, besteht keine Notwendigkeit mehr, sie mithilfe der Sucht zu verdrängen.

Was ist Ihrer Ansicht nach nötig, um sich nachhaltig von Sucht und Abhängigkeit zu befreien? 

Franz Ruppert: Um die Zusammenhänge von Sucht und Trauma zu verstehen und den Willen zu entwickeln, aus Suchtprozessen auszusteigen, braucht es zunächst Persönlichkeitsanteile, die trotz jahrzehntelangen Drogenkonsums noch gesund geblieben sind.

Der erste Schritt besteht dann darin, sich die Sucht einzugestehen und sie nicht länger zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Dann müssen aus Eigeninitiative heraus weitere Schritte gegangen werden, um sich von der Sucht zu befreien. Meiner Meinung nach funktioniert das über das Fühlen der Gefühle, die im Zusammenhang mit der eigenen Traumabiografie früher nicht gefühlt werden konnten, heute aber durchaus gefühlt werden können.

Wenn Sucht als bevorzugte Überlebensstrategie in Familien über Generationen hinweg gelebt wird, ist es eine besondere Herausforderung, sich aus diesen Dynamiken zu befreien. Dabei geht es nicht nur um das Suchtverhalten, sondern auch um die vielfältigen Formen der Traumaverdrängung, die durch Arbeits-, Konsum-, Spiel- oder Sexsucht ausgelebt werden.

Wie kann die IoPT Menschen mit Suchtproblematik helfen?

Trauma heilen und von Sucht befreien

Franz Ruppert: Die IoPT ist eine Form der Selbstbegegnung, die es ermöglicht, Zugang zu den eigenen abgespaltenen und unterdrückten Traumagefühlen zu bekommen und destruktive familiäre Verstrickungen sichtbar zu machen. Jeder, der diese Therapieform wählt, bringt ein selbst formuliertes Anliegen mit und geht dadurch in die Selbstverantwortung. Auf dieses Weise können unbewusste und unverarbeitete Traumata und Überlebensmechanismen zutage treten und Schritt für Schritt geheilt werden. Das Suchtverhalten, das bisher dazu diente, die Traumagefühle nicht zu fühlen, kann so langfristig aufgegeben werden. Neulich z.B. hat ein Mann an seiner Pornosucht gearbeitet, die dann völlig in den Hintergrund getreten ist, sobald er sich in der Aufstellung mit seinem gesunden Ich verbunden hatte.

Möchten Sie meinen LeserInnen abschließend noch etwas mit auf den Weg geben?

Franz Ruppert: Wichtig ist, sich seiner Suchtthematik offen zu stellen. Wenn Scham- oder Schuldgefühle mit der Sucht einhergehen, ist es notwendig, diese zu überwinden und z.B. in einer Gruppe die eigene Suchtthematik offen einzugestehen. Außerdem sollte man Geduld mit sich haben. Traumabewältigung braucht Zeit.

 

Vielen Dank Herr Ruppert für dieses aufschlussreiche Interview!

Wer ist Prof. Dr. Franz Ruppert?

Franz Ruppert ist ein Psychotraumatologe, der als Professor für Psychologie an der katholischen Stiftungshochschule und als psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in München tätig ist. Er hat die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) entwickelt und ist Autor zahlreicher Bücher, in denen er sich mit dem Thema Trauma auseinandersetzt.

Bevor er die IoPT entwickelte, arbeitete er viele Jahre mit dem Familienstellen nach Hellinger, bemerkte jedoch im Laufe der Zeit immer größere Unstimmigkeiten. Durch seine intensive Beschäftigung mit der Bindungstheorie von John Bowlby erkannte er in den Aufstellungen kindliche Bindungsmuster, die sich in späteren Beziehungen ständig wiederholten. Er schlussfolgerte daraus, dass ein Großteil aller Probleme durch frühe Traumata hervorgerufen werden. 

Die IoPT, die auf dem Verfahren „Selbstbegegnung mit dem Anliegensatz“ fußt, ist eine wirkungsvolle Methode, um die psychische Spaltung in Folge von frühen Traumatisierungen zu erkennen und durch das Benennen und Fühlen wieder Kontakt zu den eigenen, abgespaltenen Anteilen aufzunehmen.

Lebenstraum

Vom Trauma zum Lebenstraum – Ein Interview, das Hoffnung macht

Corinne E. Sutter Meier bezeichnet sich selbst als Meisterin der Selbstheilung, Traumaheilerin aus Leidenschaft und Inspiratorin. In ihren Coaching-Programmen begleitet sie Frauen raus aus dem Stress, rein ins volle Selbstvertrauen und ein sinnerfülltes Leben. Durch meinen Beitrag über die Logosynthese ist sie auf Ganzwerdung aufmerksam geworden. Weil es ihre Lebensmission ist, eine positive Sichtweise über Trauma in die Welt zu bringen und mit ihrer Geschichte Mut zu machen, habe ich sie dazu befragt, wie sie es geschafft hat, trotz oder durch ihre Traumata ihren Lebenstraum zu verwirklichen.

Ein Lebenstraum - was ist das?

Liebe Corinne, was verstehst Du unter Lebensträumen? Sind das Träume, die uns schon von klein auf begleiten oder entwickeln sie sich erst im Laufe des Lebens?

Corinne: Wenn ich zurückschaue auf Klein-Corinne und ihre Träume, sticht ein Thema hervor: Klein-Corinne hat vom Prinz geträumt, der sie küsst, auf Händen trägt, in seine starken Arme schließt, einkuschelt und lustig ist. Stundenlang habe ich mit meinen Freundinnen „Barbie“ gespielt. Egal welche Abenteuer die Barbies erlebten, am Schluss küssten sie immer ihre Traumprinzen und waren bis ans Ende ihres Lebens glücklich verliebt.
Andere Menschen träumen von schönen Häusern, Leben am Meer, Autos, Geld, Weltraumstationen, Miss-Wahlen, Karrieren oder was es sonst für attraktive Träume geben kann. Ich träumte von der schönsten Liebesbeziehung.

Diese Tagträume, in denen man sich sein Leben ausmalt, bezeichne ich als Lebensträume. Sie führen zum Traumleben und stehen im direkten Zusammenhang mit unserer Lebensmission – nur erkennen wir das selten sofort.

Im Laufe des Lebens können sich Lebensträume verändern und neue können dazu kommen, manchmal sogar aus aktuellen Problemen heraus.  Etwas gefällt dir nicht in deinem Leben? Du willst es anders haben? Das ist eine wertvolle Erkenntnis! Sobald du weißt, was du nicht willst, kannst du erforschen, was du stattdessen willst. Bei mir zum Beispiel war das Problem „Dauerstress im Beruf“. Ich arbeitete eigentlich gern, sowohl als Führungskraft wie auch als Coach. Aber ich fühlte mich ständig unter Druck und hatte diffuse Ängste, nicht gut genug zu sein. Ich träumte also von Flow in meiner Arbeit und ging dafür, bis ich ihn fand.

Der Einfluss von Traumata auf die Lebensträume

Welchen Einfluss haben frühe Traumatisierungen auf unsere Lebensträume?

Corinne: Ein Trauma kann die Verwirklichung von einem Lebenstraum erschweren oder sogar ganz verhindern. Mein Lebenstraum war ja diese erfüllende, nährende Liebesbeziehung. Träumen konnte ich stundenlang davon. Doch in der Realität ließ ich keinen Mann an mich ran. Nur schon der Gedanke an einen Kuss ließ mich innerlich erstarren. Ekelhaft. Igitt! Als ich 19 Jahre alt war, hinterfragte ich mich stark. Bin ich frigide? Bin ich lesbisch? Was ist nur mit mir los? Ich verstand mich nicht. Alle meine Freundinnen hatten schon Liebesbeziehungen gehabt, nur ich nicht.

Auch mein Körper spielte verrückt. Seit meinem sechsten Lebensjahr hatte ich gravierende Knieschmerzen mit unklarer Ursache. Wachstumsstörungen, sagten die Ärzte. Später kamen Gelenksschwellungen und nervale Ausstrahlungen dazu – einfach aus dem Nichts. Ich war dauernd müde und fühlte mich erschöpft. Ebenso verwirrend war meine Entwicklung vom Mädchen zur Frau. Ich bekam keine Menstruation trotz starker Bauch- und Rückenschmerzen. Die Frauenärztin sagte mir, ich hätte verschrumpelte Eierstöcke wie eine 90-jährige Frau und ich werde nie Kinder bekommen können.

Irgendwann mit 21 Jahren zwang ich mich, eine Beziehung zu einem Mann zuzulassen. Ich liebte ihn sehr. Doch das körperliche Zusammensein war der absolute Horror. Irgendwann trennte ich mich deswegen. Ich wusste einfach nicht, was mit mir los war. Im Alter von 24 Jahren lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Um ihn nicht zu verlieren, erfüllte ich meine Pflichten als Liebespartnerin: mechanisch, innerlich tot, ohne Freude. Ich spielte eine Rolle. Irgendwann gewöhnte ich mich daran, auch wenn es sehr belastend war.  Ich funktionierte. Die Jahre verstrichen. Ich wusste nichts von einem Trauma. Ich spürte einfach, dass mich ETWAS innerlich auffraß. Irgendetwas blockierte mich von innen heraus.

Rückblickend weiß ich es waren Traumata, die mich aus dem Unterbewusstsein heraus steuerten und meinen Lebenstraum blockierten.

Wie hast Du damals erkannt, dass Traumatisierungen die Ursache für Deine Probleme waren?

Corinne: Im Alter von 37 Jahren näherte ich mich dem Burnout. Ich buchte einen Coach, um folgende Fragen zu klären: Was stimmt nicht mit mir? Ich bin intelligent. Ich bin gut ausgebildet. Ich bin talentiert. Ich habe Erfolge. Und doch bin ich gestresster als alle meine Berufskollegen? Wie komme ich raus aus dem Stress und rein in den Flow?

Im Rahmen von diesem Coaching mit Dr. Willem Lammers tauchten schockierende Flashbacks auf. Die wahre Ursache für den Stress im Beruf genauso wie für den Stress im Liebesleben zeigte sich:  Mit sechs Jahren wurde ich von zwei Jungs in einem Schrank eingesperrt und genötigt. Mit 14 Jahren missbrauchte mich mein Papa sexuell.
Diese Erfahrungen waren dermaßen belastend für mich als Mädchen, dass ich sie unbewusst komplett abgespalten hatte. Ich hatte kognitiv keinen Zugriff mehr auf diese Vorkommnisse. „Totalamnesie nach komplexen Traumata“ nennt man das in der Psychologie.

Da wurde mir klar, was mit mir los war. Diese traumatischen Erfahrungen trieben aus meinem Unterbewusstsein heraus ihr Unwesen. Die Abspaltungen hatten dazu geführt, dass ich getrennt war von meinem Urvertrauen. Diffuse Ängste plagten mich. Etwas in mir glaubte, das Leben sei gefährlich und ich müsse für die Erfüllung meiner Bedürfnisse kämpfen.  Ich hatte kaum mehr Zugriff auf mein Potential. Meine Lebenskraft schwand. Deshalb war mein Liebes- und Berufsleben so dermaßen belastend für mich.

Eindrücklich, oder? Abspaltung hilft, belastende Erfahrungen auszuhalten und „fürs Erste“ zu überleben. Wenn die Erfahrungen aber nicht geheilt werden, dann können sie zu einer unerträglichen Bürde werden.

Bist Du der Meinung, dass Deine Traumata das Tor zu Deinem Lebenstraum waren?

Corinne: Ja, davon bin ich überzeugt!

Um eine erfüllende, nährende Beziehung auf allen Ebenen wirklich leben zu können, war ich aufgefordert, den Stress im Liebesleben von der tiefsten Wurzel her zu heilen: von den sexuellen Übergriffe her. Das war schmerzhaft. Doch mein Lebenstraum war kraftvoll genug, um mir über alle Hindernisse hinweg zu helfen. Ich heilte und transformierte jede Berührung, die mich innerlich erstarren ließ. Liebevoll geduldig, über Jahre.

Heute leben mein Mann und ich genau diese lebendige, liebevolle, authentische Beziehung, von der ich als Klein-Corinne geträumt hatte. Wir lachen viel, tauschen uns aus, sind Mama und Papa von unserem wunderbaren Sohn Noah. Das Liebesleben ist eine unendliche Entdeckungsreise – die Liebe wird grösser, tiefer, weiter.
Ich weiß nicht, ob ich ohne diese traumatischen Erfahrungen und dieser bewussten Auseinandersetzung mit dem Thema „Liebesleben“ jemals in diese tiefe Erfüllung gefunden hätte. Ich glaube, diese Traumata haben meinen Lebenstraum unterstützt, auch wenn es holprig war.

Lebenstraum leben

Wie Traumatisierungen heilen können

Wie ist es Dir gelungen, deine Traumaerfahrungen weitestgehend zu heilen?

Corinne: Zuerst war externe Hilfe zentral. Dr. Willem Lammers half mir, den Schock zu verarbeiten und mit dieser neuen Wahrheit zurecht zu kommen. Diese sechs Monate im Jahr 2012 zählen zu den schlimmsten meines Lebens. Dank Willem fand ich Kraft, Vertrauen und die nötigen Tools, um meinen Weg zu finden.

Ich lernte das Modell der Logosynthese kennen und das Selbstcoaching damit. Was für ein Geschenk! Von da an ging es in meinem Leben zügig aufwärts: ich konnte Stress im Beruf, im Liebesleben, in der Beziehung zu meinem Vater etc. von der tiefsten Ursache her auflösen. Ich fühlte mich plötzlich selbstermächtigt. Ich war belastenden Situationen nicht mehr ausgeliefert, sondern verstand die Zusammenhänge zu meiner Vergangenheit und konnte Angst in Vertrauen wandeln.

Im Mai 2017 besuchten mein Mann und ich dann das einwöchige „Making Love Retreat“ von Diana & Michael Richardson. In diesem geschützten Rahmen wurden wieder unverarbeitete Aspekte vom Missbrauch aktiviert. Im Wissen um meine Fähigkeit der Selbstheilung konnte ich all den Schmerz zulassen und transformieren. Es war eine extreme Erfahrung, ich dachte, ich sterbe… und gleichzeitig konnte ich die traumatischen Erfahrungen weiter heilen, die „gefangene Energie“ freisetzen. Später an diesem Abend schrieb ich in mein Tagebuch „Es ist vorbei. Es gibt nichts mehr zu verzeihen. Die Liebe fließt. Papa, ich liebe dich!“

Wie wirkte sich die Selbstheilung auf Dein Leben und vor allem auf Deine Lebensträume aus?

Corinne: Mit der Selbstheilung kläre ich jeden Tag mein Körper-Geist-Energiesystem und staune, wie leicht und teilweise magisch meine Lebensträume in Erfüllung gehen.

Das Eindrücklichste für mich ist mein Körper! Meine jahrzehntelangen Symptome und die dauernde Müdigkeit verschwanden. Heute bin 46 Jahre alt und fit wie ein Turnschuh. Ich gehe wieder auf Skitouren, bin regelmäßig auf dem Bike unterwegs und walke dem Thunersee entlang. Ich brauche weniger Schlaf und sprudle meistens vor Energie. Und mein Mann und ich haben einen gesunden Sohn, entgegen der Prognose meiner Frauenärztin.

Lebenstraum Corinne E. Sutter

Auch die Veränderung im Beruf berührt mich zutiefst. Die unlogischen Selbstzweifel sind weg. Existentielle Ängste sind verschwunden. Das Vertrauen fließt: in meine Leistung, meine Kompetenz, in meine Kundinnen, in Erfolg und Geld. Ich verwirkliche meine Mission mit meinem Business und genieße es!

Und natürlich das Liebesleben! Ich fühle mich wie ein Teenager. Mein Mann und ich sind seit 22 Jahren zusammen und genießen uns gegenseitig mehr denn je. Die Schranken in mir sind gefallen. Hingabe. Fühlen. Frei von Scham. Und tritt mal eine Blockade auf – transformieren, gemeinsam lachen oder weinen und weitergehen.

Von einem solchen Leben voller Abenteuer und Leichtigkeit hatte ich geträumt. Schöpferin sein. Dem Leben vertrauen. Meine Berufung leben. Inspiratorin sein. Spaß haben!

Was rätst Du Menschen, die in ihrer persönlichen Entwicklung feststecken?

Corinne:

1. Mutig von der schönsten Version ihres Lebens zu träumen!

Denn Energie folgt immer den eigenen Gedanken und Gefühlen. Träumst du regelmäßig von deiner schönsten Version, gehst du automatisch in diese Richtung. Denkst du häufig über Dinge nach, die nicht gut funktionieren oder über Szenarien, was noch alles Schlechtes passieren könnte, ziehst du mehr davon in dein Leben. Deshalb: Träume mutig, groß und schön!

2. Mit Entschlossenheit jeden Tag den nächsten Schritt hin zu ihrem Lebenstraum zu tun und die kleinsten Erfolge großartig zu feiern!

Manchmal läuft es nicht so, wie du willst. Atme. Finde Frieden mit dem Status Quo. Richte dich aus auf deinen Lebenstraum, stelle die Frage „wie kann ich ihn verwirklichen?“ Tue den nächsten Schritt. Und feiere dich.

3. Sich für EINE Heilmethode zu entscheiden und damit in der Tiefe die Ursache für Stress zu transformieren.

Viele hüpfen von einer Heilmethode zur anderen, immer in der Hoffnung, einen noch besseren, wirksameren oder schnelleren Weg in den Flow zu finden. Doch genau durch dieses Rumhüpfen bleiben sie an der Oberfläche der Heilung. Es gibt unterschiedlichste, geniale Methoden. The Work. The HealingCode. Logosynthese. Schamanische Praktiken und viele mehr. Entscheide dich für eine. Übe. Vertiefe. Verfeinere.

Vom Trauma zum Lebenstraum

Lebenstraum - Corinne E. Sutter Meier

Was ist der Schwerpunkt Deiner Arbeit als Traumaheilerin und Coach?

Corinne: Ich entwickelte in den vergangenen Jahren meine ganz eigene Form der Selbstheilung. Sie integriert wesentliche Aspekte aus der Körperarbeit, dem Modell der Logosynthese und der„Kraft der Anziehung“. Diese einfache Art der Selbstheilung befähigt dich, die innere Handbremse selbständig zu lösen und die eigene Lebensaufgabe entspannt zu verwirklichen.

In meist mehrwöchigen Programmen vermittle ich die Bausteine, damit du selbständig und zuverlässig belastende Erlebnisse heilen und verarbeiten kannst. Denn es ist doch oft so: Viele Menschen wünschen sich den „großen Durchbruch“ in die Leichtigkeit. Wieder und wieder buchen sie eine Fachperson, machen Fortschritte und freuen sich darüber, nur um einige Wochen später frustriert festzustellen, dass sie doch immer noch im Stressstrudel gefangen sind. Das ist zermürbend.

Meiner Erfahrung nach ist eine Fachperson wertvoll und manchmal sogar nötig, um Schritte zu tun, die einem im Alleingang verwehrt bleiben. Die Transformation von Stress in Flow geschieht jedoch am schnellsten und zuverlässigsten, wenn du direkt in deinem Alltag selbständig ansetzen kannst. Dann, wenn eine Blockade auftritt, wenn Ängste und Zweifel nagen, wenn die Symptome überhandnehmen.
Diese „Arbeit“ kann einem niemand abnehmen. Heilung geschieht von innen, nicht von außen. Man muss sich selber auf den Weg machen.

Heilung oder eben Selbstheilung findet mitten im Leben statt. Und genau hier unterstütze ich Frauen. Ich öffne den Raum für Transformation auf der tiefsten Ebene und gebe ihnen das Rüstzeug mit für ihre Heilreise. Meine Geschichte und die damit verbundene Lebenserfahrung begleiten uns dabei und beschleunigen das individuelle Wachstum.

Wie ist ein Coaching bei Dir aufgebaut?

Corinne: Das Basisprogramm für Selbstheilung dauert 10 Wochen und ist exklusiv für Frauen. Das Coaching findet in der Gruppe statt, denn die Gruppe ist ein wesentliches Arbeitsinstrument. Die „Energie“ ist hoch und beschleunigt die Transformation. Es ist ein ideales „Trainingsfeld“, denn individuelle Blockaden aus dem realen Leben zeigen sich schnell und konkret: Angst vor Sichtbarkeit, Angst Fehler zu machen oder etwas Falsches zu sagen, sich ausgeschlossen oder nicht geliebt fühlen, Stress mit Überflutung und Abgrenzung etc. Diese Blockaden lösen sich während diesen Wochen immer mehr auf, ohne viel Zeitaufwand. Mit Hilfe von Lernvideos und regelmäßigen Coachings vermittle ich dabei insbesondere die vier folgenden Schritte: 

1. Wir öffnen mit einfachen und effektiven Körperübungen die inneren „Barrieren“, die du unbewusst aufgebaut hast. Du spürst deine weibliche Urkraft auf eine neue, lebendige Art. Dein Verstand kommt zur Ruhe. Dein Körper wird weicher und empfänglicher – das ist die Basis für Flow in deinem Leben.

2. Du lernst mit einer einfachen Technik aus dem Modell der Logosynthese, aktuelle Belastungen selbständig und sicher zu reduzieren bzw. ganz aufzulösen.

Die Technik jedoch ist nicht das Entscheidende. Ich lege besonderen Fokus auf die Unterscheidung von Stressreaktionen und der URSACHE dafür. Viele Heilmethoden setzen bei den Stressreaktionen an, während die Ursachen unverarbeitet bleiben und weiterhin ihr Unwesen treiben. Das kann anstrengend und frustrierend sein. Sobald du jedoch Stressreaktion und Auslöser differenziert wahrnehmen kannst, ist die Methode, wie du Heilung geschehen lässt, sekundär. Einige Kundinnen haben diesen Ansatz auf ihre vertrauten Methoden angewendet und wunderbare Ergebnisse erreicht.

Im Verlauf des Programms tauchen wir dann gemeinsam ein in die schmerzhafteste Erfahrung, die sich bei dir zeigt. Weshalb? Weil in diesem Trauma am meisten Energie befreit werden kann und weil die Heilung dieses Traumas dir im Moment am meisten Leichtigkeit zurückbringt. Wir lösen deine innere Handbremse und befreien Urvertrauen. Du fühlst immer klarer, dass du alles erreichen kannst, was du dir von Herzen wünschst.

Lebenstraum Erfüllung

3. Wir geben der Stimme deiner Seele bewusst Raum. Wir widmen uns deinen Lebensträumen und du erkennst deine Lebensmission. Du findest Antwort auf die Frage „wozu bin ich hier auf dieser Welt“. Warum ist diese Antwort wichtig für deine Heilung? Diese Klarheit beflügelt dein Wirken, sie gibt dir positive Orientierung. Dein Fokus richtet sich darauf aus und ist nicht länger gefangen in Angst und Drama.

4. Schließlich stärken wir deine Intuition, damit du die Schritte hin zu deinen Lebensträumen auf die leichtmöglichste, schönste und effektivste Art tun kannst. Warum solltest du weiterhin mit dem Verstand durchs Leben kämpfen, wenn es einen einfacheren Weg gibt? Diesen Weg zeige ich dir.  

Hast du Lust, die Selbstheilung zu lernen? Stress aufzulösen und dein Leben aus dem Urvertrauen heraus zu gestalten? Hier findest du weitere Informationen zu mir und meinen Angeboten: www.flowmastercoaching.com

Danke liebe Corinne für dieses authentische und inspirierende Interview. Da unsere Geschichten einige Parallelen aufweisen, habe ich durch Deine Worte Hoffnung, dass auch ich schon bald meine Lebensträume verwirklicht haben werde.  

Corinne: Liebste Janine, vielen, vielen Dank für unseren Austausch! Deine Fragen haben auch in mir einiges sortiert – voll schön!