Merkmale von Trauma

Sucht und Trauma

Ist Sucht eine Folge von Trauma und kann man sich nachhaltig davon befreien?

Sucht und Trauma – beides Themen, die mich betreffen und beschäftigen. Viele Jahre meines Lebens war ich süchtig nach Rausch- und Betäubungsmitteln. Ich kenne die inneren Leidenszustände, die damit einhergehen: Der verzweifelte Kampf davon loszukommen sowie Gefühle von Wertlosigkeit und Scham, weil man es trotz fester Vorsätze nicht schafft.

Vor inzwischen genau 10 Jahren hatte ich großes Glück, weil ich eine Therapeutin fand, die trotz meiner Sucht mit mir zusammenarbeiten wollte und mir half, davon loszukommen. Leider ist das jedoch keine Selbstverständlichkeit, denn in der klassischen Psychologie und Psychotherapie werden Sucht und Trauma meist immer noch getrennt voneinander betrachtet. Lassen sich die hohen Rückfallquoten bei Menschen mit Suchtverhalten darauf zurückführen? Ist Sucht etwas, womit man ein Leben lang “kämpfen” muss oder gibt es Möglichkeiten, sich nachhaltig davon zu befreien?

Ich freue mich sehr, dass ich Prof. Dr. Franz Ruppert zu all meinen Fragen rund um dieses Thema interviewen durfte. Er ist als Autor zahlreicher Bücher und durch die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) bekannt, mit der ich in den letzten fünf Jahren große Fortschritte auf meinem Weg der Ganzwerdung gemacht habe.

Allgemeines zu Sucht

Lieber Herr Ruppert, begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit mit traumatisierten Menschen häufig Suchtthematiken?

Franz Ruppert: Ja, es kommt ab und zu vor, dass ich mit Menschen arbeite, die unter Sucht oder süchtigen Verhaltensweisen leiden. Einige der zahlreichen Fallbeispiele in meinen Büchern, in denen Menschen das Anliegen äußern, von Zigaretten-, Alkohol- oder Spielsucht loszukommen, spiegeln das wieder.

Welche Formen von Sucht sind Ihnen bekannt und was kennzeichnet diese Süchte?

Franz Ruppert: Sucht gibt es meiner Meinung nach in zweierlei Formen:

  • Als ungehemmten Konsum von Getränken, Nahrungsmitteln, Tabak, Medikamenten oder Chemikalien und
  • Als exzessive Verhaltensweisen wie Arbeiten, Spielen, sexuelle Betätigung, Sport treiben, Fernsehen, Einkaufen und anderes mehr.
Suchtformen - Ganzwerdung

Gekennzeichnet werden süchtige Verhaltensweisen meiner Meinung nach durch:
  • Zwanghaftigkeit,
  • Toleranzentwicklung,
  • Dosissteigerung,
  • Entzugserscheinungen,
  • Weitermachen, trotz negativer Konsequenzen,
  • Verschleierung der Realität des Süchtigseins,
  • Völligen Kontrollverlust.

In all diesen Fällen verhalten sich Menschen konträr zu ihren eigenen existentiellen Interessen. Sie achten nicht darauf, gut und ausreichend zu essen, saubere Luft zu atmen, ihren Körper vor Schädigungen zu schützen, Daseinsfreude zu empfinden und ihr Leben wirklich zu genießen. Statt aus vollem Herzen zu leben und zu lieben, über-leben sie.

Der Zusammenhang von Sucht und Trauma

Gibt es Ihrer Beurteilung nach einen Zusammenhang zwischen Sucht und Trauma und wenn ja, welchen?

Franz Ruppert: Ja, meiner Meinung nach ist Sucht eine Form von Überlebensstrategie, um sich mit den unangenehmen Gefühlszuständen nicht auseinandersetzen zu müssen, die aus abgespaltenen Traumagefühlen herrühren.

Negative Gefühlslagen wie Ängste, Schamgefühle oder Schmerzen werden von süchtig gewordenen Menschen, sobald sie spürbar werden, sofort durch den Konsum von Alltagsdrogen (Alkohol, Zigaretten, Kaffee, Zucker etc.), Medikamente (Schlaf- und Beruhigungsmittel). die Zufuhr gesetzlich verbotener narkotisierender Drogen (Marihuana, Heroin) oder aufputschender chemischer Substanzen (Amphetamine, Kokain) überlagert.

Wie bereits erwähnt sind auch bestimmte Verhaltensweisen geeignet, um hochkommende Traumagefühle wegzudrücken. Zum Beispiel versuchen Soldaten durch Bordellbesuche ihre Ängste durch sexuelle Stimulation zu übertönen.

Das Abspalten der eigenen Gefühle führt wiederum zu innerer Leere, die dann durch künstlich erzeugte Körpersensationen und durch Überaktivität gefüllt wird. Weil der innere Bezug fehlt, gibt es bei alledem keine natürliche Sättigung und kein inneres Empfinden dafür, wann es genug ist.

Sucht und Trauma - Alkohol und Medikamente

Viele Menschen setzen mit ihrer Sucht ihre ursprünglichen Traumatisierungen erneut in Szene. Sie verletzen und vergiften sich selbst, sie nehmen keine Rücksicht auf ihren Körper, sie versuchen, den Dauerstress, unter dem sie in Folge ihrer Traumatisierungen stehen, mit Hilfe der Drogen auszuhalten.

Manche Süchtige erinnern nicht zufällig an kleinkindhaftes Verhalten in der Forderung, Bedürfnisse von außen und ohne Aufschub befriedigt zu bekommen. Die Motive des Suchtverhaltens haben ihre Wurzeln in vielen Fällen in einem Symbiosetrauma, weil die ursprünglichen symbiotischen Bedürfnisse nach Wärme, Geborgenheit und Umsorgtsein niemals befriedigt wurden. Daher sind Alkohol, Cannabis und Heroin beliebte Drogen bei symbiotisch bedürftigen Menschen. Sie können sie kurzfristig wärmen und in Watte packen.

Welchen Nutzen hat die Sucht noch für ein traumatisiertes Nervensystem und was für negative Auswirkungen sind Ihnen bekannt?

Franz Ruppert: Für ein traumatisierendes Nervensystem kann ein Suchtmittel angstlösend, schmerz- und angstbetäubend sein. Die Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein, unter dem die meisten Traumatisierten leiden, werden überlagert. Drogen (von Alkohol bis Zucker) vermitteln, zumindest für kurze Zeit die Illusion, alles wäre gut oder zumindest halb so schlimm. Sie erzeugen eine emotionale Scheinwelt von innerer Harmonie.

Jede Droge oder süchtige Verhaltensweise hat jedoch auch vielfältige und langfristige negative Auswirkungen auf den Körper, das Gehirn, die psychischen Leistungen und die sozialen Beziehungen. Die Überlebensstrategien wollen diese Zusammenhänge nicht anerkennen und bringen die negativen Folgen nicht in einen Zusammenhang mit dem Drogenkonsum oder ihren süchtigen Verhaltensweisen. Im Gegenteil, die Droge oder das süchtige Verhalten wird als das Heilmittel für die unerträglichen emotionalen und körperlichen Zustände benutzt, die jedoch immer mehr von der Droge selbst hervorgerufen werden, je länger der Suchtprozess voranschreitet.

Dadurch entstehen die bekannten Aufschaukelungsprozesse, die zwangsläufig zu einer Dosissteigerung des Konsums und der süchtigen Handlungen führen, die im Endstadium dann nur noch die Entzugserscheinungen überdecken können.

Süchtiges Verhalten ist somit eine Überlebensstrategie, die bis an die Grenzen der seelischen, körperlichen und sozialen Ressourcen eines Menschen geht und zuweilen weit darüber hinaus. Dies belegen die vielen körperlich schwer kranken Alkoholiker und nikotinabhängigen Raucher und die zahlreichen Herointoten.

Können anhand des Ausmaßes einer Sucht Rückschlüsse auf die Schwere der erlebten Traumata gezogen werden?

Franz Ruppert: Je schwerwiegender die ursprünglichen Traumatisierungen sind, desto „härter“ sind die von einem Süchtigen verwendeten Drogen und desto intensiver ist ihr Konsum. Auch bei den süchtigen Verhaltensweisen ist ein Rückschluss zwischen dem Ausmaß der zwanghaft durchgeführten Handlungen und der Schwere der Traumatisierung möglich.

Man kann das Ausmaß einer der Sucht zugrundeliegenden Traumatisierung auch daran abschätzen, wie schwer oder leicht es jemandem fällt, seinen Drogenkonsum oder sein Suchtverhalten aufzugeben. Wer z.B. aus einer schlechten Angewohnheit heraus zum Zigarettenraucher geworden ist, kann relativ schnell auf das Rauchen wieder verzichten. Wer hingegen mit dem Nikotin seine Übererregungszustände kontrolliert, sich betäubt und ablenkt, um seine negativen Gefühle nicht spüren zu müssen, seine innere Leere aufzufüllen versucht oder darüber Gefühle erzeugt, die seine symbiotische Verstrickung in seiner Familie widerspiegeln, steht unter dem Einfluss eines schweren Traumas.

Sucht und Trauma in der klassischen Psychotherapie

In der Psychologie und Psychotherapie werden Sucht und Trauma häufig isoliert voneinander betrachtet und es wird behauptet, dass zunächst die Sucht bewältigt werden muss, bevor man sich seinen Traumata zuwenden kann.

1. Liegt hier Ihrer Meinung nach eine fundamentale Fehleinschätzung vor?

Franz Ruppert: Sucht und Trauma sind miteinander verwoben und können meiner Meinung nach nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Folgesymptome müssen deshalb immer im Zusammenhang gesehen und therapiert werden.

2. Kann die hohe Rückfallquote bei traumatisierten Abhängigen dadurch erklärt werden?

Franz Ruppert: Meiner Meinung nach ja. Solange unverarbeitete Traumata in der Therapie keine Beachtung finden und das Symptom „Sucht“ isoliert behandelt wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem Rückfall kommt. In vielen Fällen torpedieren die süchtigen Überlebensanteile aber auch eine Psychotherapie oder machen sie nur aus Berechnung mit, um z.B. richterliche Auflagen zu erfüllen.

3. Welche Folgen können durch die isolierte Betrachtung von Sucht in der Diagnostik auftreten?

Franz Ruppert: Häufig werden Menschen z.B. durch eine bestimmte Form der psychiatrischen und psychologischen Diagnostik zu Unrecht in eine Täterrolle gebracht und dann durch die Art der Behandlung in einer Opferrolle gehalten. Wird etwa bei einem Mädchen, welches nichts mehr isst, die Diagnose „Magersucht“ gestellt, geschieht folgendes:

    • Man definiert sie als eine kranke Person.
    • Indem man ihr Verhalten der Essensverweigerung von seinen Ursachen isoliert, wird letztendlich alleine dem Mädchen die Schuld darangegeben, dass sie sich „nicht normal“ verhält.
    • Durch diese Diagnostik wird das Mädchen notfalls mit Gewalt gezwungen, wieder „normal“ zu essen.

Wenn wir jedoch wissen, dass die Essensverweigerung eine Reaktion auf die Ablehnung und Lieblosigkeit seitens der Mutter und auf die Gewalt und den sexuellen Missbrauch seitens des Vaters ist, so wird die Absurdität einer solchen Diagnostik offenbar, dieses Mädchen wäre „süchtig“ danach, „mager“ zu sein.

In Wirklichkeit bringt das Mädchen durch seine Essenverweigerung eine Täter-Opfer-Spaltung in sich selbst zum Ausdruck, indem ihr eigener Täteranteil, der abgespalten in ihrem Kopf sitzt, den Opferanteil, den ihr eigener Körper repräsentiert, unterdrückt und auslöschen möchte.

Magersucht und Trauma - Ganzwerdung

Können Sie die Täter-Opfer-Spaltung an einem weiteren Beispiel erklären?

Franz Ruppert: Ja, gerne am Fallbeispiel “Das Zigarettenrauchen stoppen” von meiner Klientin Marlene:

Marlene möchte ihr süchtiges Rauchen beenden. Immer wenn sie das jedoch versucht, gerät sie in ein Panikgefühl. In ihrer IoPT-Aufstellung (siehe unten) zeigte dieser Anteil, den sie für ihr süchtiges Rauchen aufstellte, eine Doppelnatur. Es war ein Mann, der einerseits jemand repräsentierte, der sie als Jugendliche brutal vergewaltigt hatte. Sie hatte dies bis dato vollkommen aus ihrem Bewusstsein verdrängt, da sie während der Vergewaltigung ihren Köper die ganze Zeit bewusst verlassen hatte. Andererseits brachte der Stellvertreter für dieses süchtige Rauchen zum Ausdruck, dass er sterben wollte. Im Rauchen spiegelte sich also die Täter-Opfer-Spaltung von Merlene wieder. Mit dem Rauchen reinszenierte sie ihre orale Vergewaltigung (Zigarette in den Mund stecken und Gifte = Sperma inhalieren und hinunterschlucken) und zugleich dient das Einatmen von Nikotin dazu, ihre Panik zu narkotisieren.

Ist eine Befreiung aus der Sucht möglich?

Bei Alkoholabhängigkeit wird von einer Krankheit ausgegangen, die ein Leben lang besteht. Teilen Sie diese Definition und Ansicht? Wird eine Sucht ein Leben lang bestehen bleiben?

Franz Ruppert: Ich persönlich bin der Meinung, dass wenn man an der Ursache seiner Sucht arbeitet, man auch ganz aus der Suchtdynamik aussteigen kann. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei Sucht um eine Überlebensstrategie handelt, dann wird diese nicht mehr benötigt, sobald die Ursache Beachtung findet. Wenn die abgespaltenen Traumagefühle gesehen und gefühlt werden, besteht keine Notwendigkeit mehr, sie mithilfe der Sucht zu verdrängen.

Was ist Ihrer Ansicht nach nötig, um sich nachhaltig von Sucht und Abhängigkeit zu befreien? 

Franz Ruppert: Um die Zusammenhänge von Sucht und Trauma zu verstehen und den Willen zu entwickeln, aus Suchtprozessen auszusteigen, braucht es zunächst Persönlichkeitsanteile, die trotz jahrzehntelangen Drogenkonsums noch gesund geblieben sind.

Der erste Schritt besteht dann darin, sich die Sucht einzugestehen und sie nicht länger zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Dann müssen aus Eigeninitiative heraus weitere Schritte gegangen werden, um sich von der Sucht zu befreien. Meiner Meinung nach funktioniert das über das Fühlen der Gefühle, die im Zusammenhang mit der eigenen Traumabiografie früher nicht gefühlt werden konnten, heute aber durchaus gefühlt werden können.

Wenn Sucht als bevorzugte Überlebensstrategie in Familien über Generationen hinweg gelebt wird, ist es eine besondere Herausforderung, sich aus diesen Dynamiken zu befreien. Dabei geht es nicht nur um das Suchtverhalten, sondern auch um die vielfältigen Formen der Traumaverdrängung, die durch Arbeits-, Konsum-, Spiel- oder Sexsucht ausgelebt werden.

Wie kann die IoPT Menschen mit Suchtproblematik helfen?

Trauma heilen und von Sucht befreien

Franz Ruppert: Die IoPT ist eine Form der Selbstbegegnung, die es ermöglicht, Zugang zu den eigenen abgespaltenen und unterdrückten Traumagefühlen zu bekommen und destruktive familiäre Verstrickungen sichtbar zu machen. Jeder, der diese Therapieform wählt, bringt ein selbst formuliertes Anliegen mit und geht dadurch in die Selbstverantwortung. Auf dieses Weise können unbewusste und unverarbeitete Traumata und Überlebensmechanismen zutage treten und Schritt für Schritt geheilt werden. Das Suchtverhalten, das bisher dazu diente, die Traumagefühle nicht zu fühlen, kann so langfristig aufgegeben werden. Neulich z.B. hat ein Mann an seiner Pornosucht gearbeitet, die dann völlig in den Hintergrund getreten ist, sobald er sich in der Aufstellung mit seinem gesunden Ich verbunden hatte.

Möchten Sie meinen LeserInnen abschließend noch etwas mit auf den Weg geben?

Franz Ruppert: Wichtig ist, sich seiner Suchtthematik offen zu stellen. Wenn Scham- oder Schuldgefühle mit der Sucht einhergehen, ist es notwendig, diese zu überwinden und z.B. in einer Gruppe die eigene Suchtthematik offen einzugestehen. Außerdem sollte man Geduld mit sich haben. Traumabewältigung braucht Zeit.

 

Vielen Dank Herr Ruppert für dieses aufschlussreiche Interview!

Wer ist Prof. Dr. Franz Ruppert?

Franz Ruppert ist ein Psychotraumatologe, der als Professor für Psychologie an der katholischen Stiftungshochschule und als psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in München tätig ist. Er hat die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) entwickelt und ist Autor zahlreicher Bücher, in denen er sich mit dem Thema Trauma auseinandersetzt.

Bevor er die IoPT entwickelte, arbeitete er viele Jahre mit dem Familienstellen nach Hellinger, bemerkte jedoch im Laufe der Zeit immer größere Unstimmigkeiten. Durch seine intensive Beschäftigung mit der Bindungstheorie von John Bowlby erkannte er in den Aufstellungen kindliche Bindungsmuster, die sich in späteren Beziehungen ständig wiederholten. Er schlussfolgerte daraus, dass ein Großteil aller Probleme durch frühe Traumata hervorgerufen werden. 

Die IoPT, die auf dem Verfahren „Selbstbegegnung mit dem Anliegensatz“ fußt, ist eine wirkungsvolle Methode, um die psychische Spaltung in Folge von frühen Traumatisierungen zu erkennen und durch das Benennen und Fühlen wieder Kontakt zu den eigenen, abgespaltenen Anteilen aufzunehmen.

Bindungstrauma - Entstehung, Folgen und Überwindung

Bindungsangst – Entstehung, Folgen und Überwindung

Genau wie ich wünschen sich die meisten Menschen glückliche Beziehungen in ihrem Leben. Bleibt dieser Wunsch unerfüllt, weil sich Konflikte und Probleme ständig wiederholen und wir uns am Ende doch wieder allein vorfinden, kann eine unbewusste Bindungsangst als Folge von Bindungstrauma die Ursache sein. Wie Bindung entsteht, welche Bindungsstile es gibt und woran Du erkennst, ob Du Bindungsangst hast, erkläre ich in diesem Beitrag. Außerdem erläutere ich die vier wichtigsten Voraussetzungen zur Überwindung von Bindungsangst.

Was ist die Ursache von Bindungsangst?

Bindungsangst ist in der Regel die Folge von frühen Bindungstraumatisierungen. Anders als beim Schocktrauma ist der Auslöser beim Bindungstrauma nicht ein einmaliges Ereignis, sondern wiederholte Erfahrungen im Entwicklungsprozess eines Menschen. Zum Beispiel, wenn wir in einem Umfeld aufwachsen, das uns ablehnt, nicht ernst nimmt, nur unter bestimmten Voraussetzungen liebt oder uns mit Gewalt und Missbrauch konfrontiert.

Neuere Erkenntnisse aus Epigenetik, Medizin und Psychologie belegen sogar, dass Bindung nicht erst nach der Geburt entsteht, sondern bereits viel früher. Demzufolge kann sich ein Bindungstrauma bereits vor und während unserer Geburt entwickeln.

Wie entsteht Bindung?

Im Folgenden beschreibe ich die drei Lebensphasen, in denen Bindung entsteht und wir besonders anfällig für Bindungstraumatisierungen sind: vor der Geburt, während der Geburt und nach der Geburt. Diese frühen Lebensphasen prägen unseren späteren Bindungsstil und können die Ursache unserer Bindungsangst sein. Der Kontakt zu unserer Mutter spielt dabei eine zentrale Rolle, denn sie ist unser erster Bezugspunkt, und an sie sind wir durch die Nabelschnur gebunden.

Vor der Geburt

Vor der Geburt ist unser Überleben von unserer Mutter abhängig, denn wir sind vollkommen eins mit ihr. Entgegen früherer Annahmen fühlten wir bereits alles, was unsere Mutter fühlte. Wenn sie enormen Stress ausgesetzt war, Gewalt erfuhr oder uns ablehnte, dann haben wir das als lebensbedrohlich wahrgenommen. Ein gescheiterter Abtreibungsversuch ist deshalb auch eine der schlimmsten Traumatisierungen eines Menschen überhaupt.

Unsere Bindung wurde auch durch das beeinflusst, was unsere Mutter zu sich nahm. Konsumierte sie während der Schwangerschaft Drogen, Alkohol oder Zigaretten, vergiftete sie uns damit und wir fühlten uns in unserer Existenz bedroht. Bindung haben wir demnach von Beginn an als toxisch und unsicher erfahren.

Während der Geburt

Auch der Geburtsprozess hatte maßgeblichen Einfluss auf das Bindungsverhalten zwischen uns und unserer Mutter. Während einer Schwangerschaft und beim Einsetzen der Wehen werden verschiedene Hormone ausgeschüttet, die die Bindung zwischen Mutter und Kind sicherstellen sollen. Kommt es zu Komplikationen wie einer zu frühen Geburt, dem Einsatz starker Medikamente oder einem Kaiserschnitt, wird diese Hormonproduktion unterbrochen.

Wurde unser Eintritt in diese Welt durch den Einsatz von Saugglocke oder eine um den Hals liegende Nabelschnur als bedrohlich oder sogar schmerzhaft erlebt, kommt das einem Schocktrauma gleich. Um dieses unmittelbar zu verarbeiten, sind wir auf die physische und emotionale Zuwendung und Nähe unserer Mutter angewiesen.
Da viele Frauen die Geburt selbst als traumatisch erleben oder währenddessen an ihr eigenes, unverarbeitetes Geburtstrauma erinnert werden, besteht die Gefahr, dass sie für den Säugling nicht verfügbar sind. Wenn sie zum Selbstschutz
emotional distanziert oder gar dissoziiert reagieren, wird sich das neugeborene Kind von ihnen verlassen fühlen und keine sichere Bindung erfahren.

Nach der Geburt

Bindungstrauma vermeiden durch Mutter-Kind-Bindung

Nachdem wir das Licht der Welt erblickt haben, wollen wir nichts als geliebt und versorgt werden. Wir sind voller Unschuld und möchten uns genährt, sicher und willkommen geheißen fühlen. Um mit unserer Mutter oder einer anderen Bindungsperson in Verbindung zu treten, konnten wir zu diesem Zeitpunkt nur weinen und schreien. Auf diese Weise haben wir deutlich gemacht, dass ein oder mehrere der folgenden Bedürfnisse befriedigt werden wollen:

    • Bedürfnis nach Nahrung
    • Bedürfnis nach Wärme
    • Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz
    • Bedürfnis nach emotionaler und körperlicher Verbundenheit (Zugehörigkeit und Liebe)

Wurden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, war das für unsere Existenz lebensbedrohlich. Unser autonomes Nervensystem war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage zur Selbstregulation. Wir waren auf unsere Mutter oder eine andere Bezugsperson angewiesen, die uns versorgte und durch Nähe, Berührungen und Blickkontakt beruhigte oder tröstete.  

Ab einem gewissen Entwicklungsstadium entwickelten wir noch ein weiteres wichtiges Bedürfnis und zwar nach Autonomie. Wir wollten unsere Umgebung erkunden und unsere zunehmenden Fähigkeiten ausprobieren. Auch wenn dieses Bedürfnis ignoriert oder durch Überbehüten übergangen wurde, hat das unsere Entwicklung und unser Bindungsverhalten negativ beeinflusst. 

„Die Zustände des menschlichen Kleinkinds im Mutterleib und in den ersten Lebensphasen sind tatsächlich genau die Vorbedingungen für ein Trauma: Das Kind ist hilflos und kann sich schnell überwältig fühlen. Sein Leben hängt von einem anderen Menschen ab und es kann absolut nichts anderes tun als weinen. Niemand kann ihm intellektuell vermitteln, dass es sicher und geschützt ist. Es fühlt alles, was es erlebt, ohne es kognitiv zu verstehen. Das Einzige, was zu Beginn seines Lebens Sinn für es macht, ist die Verbindung zu seiner Mutter, weil es sie kennt. Es kennt ihren Geruch, ihre Berührung, wie sie sich anfühlt, schmeckt und klingt“. (Vivian Broughton, 2016)

Wie Bindung unseren Bindungsstil prägt

Mit zunehmender Entwicklung konnten wir mehr als nur weinen, um die Nähe zu unserer Mutter, zu unserem Vater oder zu anderen Bindungspersonen sicherzustellen. Je nachdem, wie erfolgreich wir mit unserem Bindungsverhalten in Form von z. B.: Suchen, Nachlaufen oder Festklammern waren, haben wir ein Bindungsmuster entwickelt, dass alle weiteren Beziehungen in unserem Leben beeinflusst. Vor, während und nach der Geburt sowie im Kindesalter wird also der Grundstein für den Bindungsstil gelegt, den wir im Erwachsenenleben pflegen.

Welche Bindungsstile gibt es?

In der Bindungstheorie wird von vier Bindungsstilen ausgegangen: sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und unsicher-desorganisiert. Die Diplom Psychologin und Bestseller Autorin Stefanie Stahl ergänzt diese Bindungsstile um zwei Weitere, die ich aufgrund ihrer Wichtigkeit in die Beschreibung mit aufnehme: gleichgültig-gebunden und Nähe-Überflutung.

Aus diesen sechs Bindungsstilen lassen sich Rückschlüsse über unser Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter ziehen, die uns dabei helfen können, neue Beziehungsmuster zu etablieren und unsere Beziehungsangst aufzugeben.

Sicherer Bindungsstil

Ein sicherer Bindungsstil entwickelt sich, wenn die Bedürfnisse eines Kindes jederzeit gehört und gestillt werden. Wenn es seine Bezugsperson als verlässliche Basis wahrnehmen kann, von der es sich einerseits entfernen, zu der es bei Gefahr oder Bedrohung aber jederzeit zurückkehren kann, um Hilfe oder Trost zu bekommen. Das Kind hat von Anfang an Zuwendung, Wärme, Verlässlichkeit, Schutz und emotionale Stabilität erfahren. Dadurch konnte es seine Umwelt selbstständig erkunden und Lernerfolge erzielen.

Im Erwachsenenalter verfügen Menschen mit diesem Bindungsstil über ein Grundvertrauen in sich, andere Menschen und die Welt. Sie sind kontaktfreudig, kennen ihre Fähigkeiten und verfügen über Lernbereitschaft. Aufgrund ihres gesunden Selbstwertgefühls sind sie in der Lage, ihre Gefühle und Bedürfnisse adäquat auszudrücken und mit Konflikt- oder Stresssituationen konstruktiv umzugehen.

Unsichere Bindungsstile

Unsichere Bindungsstile sind das Resultat mangelnder Fürsorge oder emotionaler Präsenz durch die Bindungspersonen. Kinder machen hier die Erfahrung, dass die Bezugspersonen unzuverlässig sind und nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen.

Unsicher-vermeidender Bindungsstil

Menschen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil haben früh gelernt, dass sie für sich allein sorgen müssen, weil kein verlässlicher Kontakt zur Bindungsperson vorhanden war. Die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wurden als unwichtig verinnerlicht, was zu einem geringen Selbstwertgefühl und der Annahme führt, nicht wichtig zu sein.

Bindungstrauma - Kind allein

Im Erwachsenenalter haben Menschen mit dieser Prägung sichtliche Bindungsangst. Sie sind überzeugt davon, nicht liebenswert zu sein und früher oder später verlassen zu werden, wenn sie ganz sie selbst sind. Je glücklicher und näher eine Beziehung wird, desto lauter wird ihre Angst vor Verlust oder Ablehnung. Aus diesem Grund fällt es ihnen schwer zu vertrauen, sodass Eifersucht ein häufiges Thema bei diesem Bindungsstil ist.

Unsicher-ambivalente Bindungsstil

Dieser Bindungsstil ist die Folge von unberechenbaren Verhaltensweisen der Bindungspersonen. Mal reagierten die sie liebevoll und im nächsten Moment womöglich aggressiv oder emotional distanziert. Für das Kind gab es keinen verlässlichen Kontakt und keinen sicheren Halt. Auch die Nähe- und Autonomiebedürfnisse des Kindes wurden nicht ausreichend befriedigt. In bindungsrelevanten Situationen hat es zu wenig Sicherheit und Nähe erfahren und beim Versuch, sich selbst auszudrücken, wurde es zurückgehalten.

Menschen mit diesem Bindungsstil suchen sich unbewusst Partner/innen, die sie genauso schlecht behandeln wie einst ihre Bindungspersonen. Sie haben verinnerlicht, dass ihre eigenen Bedürfnisse nicht von Bedeutung sind und sie nur geliebt werden, wenn sie die Erwartungen ihres Gegenübers erfüllen. Sie sind abhängig von der Zustimmung und Anerkennung anderer, weshalb sie sich unterordnen und zu anklammernden Beziehungsverhalten neigen. Am meisten Angst macht Ihnen die Vorstellung, allein und unabhängig zu sein, deshalb haben sie Schwierigkeiten, sich aus destruktiven Beziehungen zu lösen.

Unsicher-desorganisierter Bindungsstil

Der unsicher-desorganisierte Stil ist von Widersprüchlichkeiten im Verhalten von Kindern gekennzeichnet. Sie zeigen Stimmungsschwankungen, Aggression oder gar keine Gefühlsäußerungen, was auf eine generelle Überforderung mit dem Bindungsumfeld und den eigenen Gefühlen zurückzuführen ist. Dieser Bindungsstil ist häufig eine Folge von sehr frühen traumatischen Erlebnissen wie Gewalt oder Missbrauch durch eine Bindungsperson. Diese wird dann nicht als Quelle von Sicherheit, sondern als Auslöser von Angst und Stress wahrgenommen.

Unsicher-desorganisiert geprägte Menschen sind häufig psychisch labil und leiden an starken Traumafolgen. Sie haben oft Schwierigkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen und sich überhaupt auf Nähe einzulassen. Beziehungspartner/innen werden genau wie einst die Bezugsperson als potenzielle Gefahr wahrgenommen, sodass ein harmonisches Zusammenleben ohne therapeutische Auseinandersetzung meist gar möglich ist.

Gleichgültig-gebundener Bindungsstil

Stefanie Stahl schreibt Menschen mit diesem Bindungsstil eine Gefühlsarmut zu, die auf eine traumatisierende Kindheit zurückzuführen ist. Als Kind hatten sie gefühllose und distanzierte Eltern, sodass sie ihre eigenen Gefühle auch abgespalten haben.

Im Erwachsenenalter können sie problemlos Bindungen eingehen, fühlen aber nicht besonders viel. Sie empfinden deshalb wenig Leidensdruck und haben keine Motivation, etwas an sich oder ihren Beziehungen zu verändern. Nach außen wirken Menschen mit diesem Bindungsstil häufig stark, lebendig und humorvoll. Sie beschäftigen sich oft ununterbrochen und können im Alltag gut funktionieren. Ihrer inneren Leere und Einsamkeit sind sie sich in der Regel selbst nicht bewusst.

Nähe-Überflutung-Bindungsstil

Menschen, die diesen Bindungsstil entwickeln, wurden in ihrer Kindheit regelrecht von der Bindungsperson vereinnahmt. Sie wurden mit positiver oder negativer Aufmerksamkeit oder mit Liebe, die an Bedingungen geknüpft war, überschüttet. Die kindlichen Bedürfnisse nach Autonomie und Selbstausdruck wurde von den Bindungspersonen ignoriert und unterdrückt, sodass sie wenig Eigenständigkeit und mangelndes Vertrauen in die eignen Fähigkeiten entwickeln konnten.  

Menschen mit diesem Bindungsstil leiden oft unter Schuldgefühlen gegenüber der Bindungsperson oder späteren Stellvertretern (Beziehungspartnern). Auch sie fühlen sich verpflichtet, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen und glauben kein Recht auf eigene Bedürfnisse zu haben. Statt zu klammern, flüchten sie jedoch eher, weil sie sich nur so abgrenzen können. Eine Liebesbeziehung assoziieren sie mit Verpflichtung und Selbstaufgabe. Sie fühlen sich schnell eingeengt und haben Angst vor erneuter Nähe-Überflutung.

Wenn Du Dich intensiver mit der Entstehung und den Auswirkungen von Bindungsstilen auseinandersetzen möchtest, empfehle ich Dir das Buch *Vom Jein zum Ja! Bindungsängste überwinden und endlich bereit sein für eine tragfähige Partnerschaft von Stefanie Stahl (2020).

„Mit ihrem Buch “Jein!” entwickelte Stefanie Stahl ein Standardwerk zum Thema Bindungsangst. In “Von Jein zum Ja!” entwickelt die Bestsellerautorin diesen Ansatz weiter. Sie beleuchtet die typischen Bindungsstile, die Beziehungen immer wieder aufs Neue scheitern lassen….”

 

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Bindungsangst als Folge eines unsicheren Bindungsstils

Bindungsangst ist das, was alle Menschen mit einem unsicheren Bindungsstil gemeinsam haben. Da sie bereits so früh im Leben ihren Ursprung hat und Bindung nie anders kennengelernt wurde, ist diese Angst jedoch meist unbewusst. Mithilfe ausgeklügelter Strategien haben wir gelernt mit dieser Angst zu leben. Es kommt deshalb vor, dass Bindungsängstliche ihre Angst vor Nähe vehement abstreiten oder leugnen. Dabei ist Bindungsangst nichts, wofür wir uns schämen müssen. Sie ist im Prinzip ein Mechanismus zum Schutz vor Ablehnung, Verlust oder Vereinnahmung, den wir in unserer Kindheit tatsächlich nötig hatten.

Wenn Du Deine bisherigen Beziehungen als unbefriedigend erfährst, kann es sich lohnen, Dich der Möglichkeit zu öffnen, dass Du und/oder Dein/e Partner/in womöglich auch unbewusste Bindungsängste habt. Doch woran lässt sich Bindungsangst erkennen? 

Bindungsangst erkennen

Bindungsangst in ausgeprägter Form führt so weit, dass sich Menschen überhaupt nicht auf Bindungen einlassen. Sie fliehen vor Nähe, bevor sie entstehen kann. Entweder indem sie sich in unerreichbare Menschen verlieben oder das Verlieben ganz vermeiden und sich, wenn überhaupt nur auf oberflächliche Affären einlassen.

Da jedoch auch bindungsängstliche Menschen ein angeborenes Bedürfnis nach Nähe haben, lassen auch sie sich auf Beziehungen und Ehen ein. Ja, richtig gelesen. Auch bindungsängstliche Menschen heiraten. Es gibt zahlreiche Strategien, um in einer Beziehung zu sein, aber wirkliche Nähe zu vermeiden. Die gängigsten Strategien sind dieselben, die wir als Trauma-Überlebensmechanismen kennen: Flucht, Kampf und Totstellen.

Flucht
Der Fluchtmechanismus äußert sich bei Bindungsängstlichen häufig durch vieles Arbeiten oder eine Aufopferung in Hobbys. Auch durch Affären oder Dreiecksbeziehungen kann echte Nähe in einer Partnerschaft vermieden werden. Dazu braucht es nicht mal zwingend eine reale dritte Person, sondern nur die Gedanken oder Fantasien an andere Menschen. Fernbeziehungen gehören ebenfalls zu den gängigen Strategien von Bindungsängstlichen, um sich vor zu viel Nähe oder den eigenen Ängsten zu schützen. Weiter kann sexuelle Lustlosigkeit, Unverbindlichkeit oder eine unpersönliche und sachliche Kommunikation auch auf Bindungsängste hindeuten.

Kampf
Verlust- oder Nähe Ängste treten oft besonders dann auf, wenn eine Beziehung sehr eng wird. Dies löst Stress in Menschen mit Bindungstrauma aus, der sich in Wut und Aggression äußern kann. Vielleicht hast Du selbst schon harmonische oder romantische Situationen erlebt, in denen Du Deinem Partner/Deiner Partnerin sehr nahe warst und wie aus dem Nichts hat ein Streit die ganze Idylle zerstört.

Die tief sitzende Wut ist eine unbewusste Abwehrstrategie Bindungsängstlicher gegen etwaige Besitz- oder Näheansprüche. Häufig ist das die Notlösung für die mangelnde Fähigkeit, Grenzen zu setzen. Weil sie insgeheim glauben, kein Recht auf eigene Bedürfnisse zu haben, bleiben nur Kampf und Angriff, um die eigenen Grenzen zu schützen.

Bindungsangst - Angriff oder Kampf

Totstellen
Der Totstellreflex ist eine weitere Strategie, sich vor Nähe-Überflutung oder Verlustangst zu schützen. Dieser Überlebensmechanismus kann dazu führen, dass sich die Gefühle des Bindungsängstlichen aus heiterem Himmel verabschieden und er oder sie nicht mehr richtig anwesend erscheint.  

Anders als bei sicher gebundenen Menschen haben Menschen mit Bindungstrauma keinen kontinuierlichen Zugang zu ihren Liebesgefühlen. Es ist, als müssten sie sich ab und zu Verschnaufpausen verschaffen. Diese Pausen können eine Beziehung natürlich sehr belasten, denn für den Partner/die Partnerin ist schwer verständlich, warum der oder die andere plötzlich nicht mehr anwesend ist. 

Ein Hauptmerkmal an dem Du eine Beziehung mit mindestens einem Bindungsängstlichen erkennst, ist ein Wechselbad der Gefühle. Solch eine Beziehung beginnt oft sehr romantisch oder leidenschaftlich, denn zu Beginn fühlen sich Bindungsängstliche noch frei und es gibt keinen Grund für Flucht, Kampf oder Totstellen. Stattdessen kompensieren sie ihr Selbstwertdefizit mit der Eroberung und den Komplimenten in der Verliebtheitsphase. Sobald die Beziehung jedoch fester wird, kommen die zuvor beschriebenen Mechanismen zum Tragen. Dadurch entsteht eine typische Dynamik, in der die eine Seite ausweicht und die andere Seite klammert. Gopal Norbert Klein beschreibt diese beiden Ausprägungen in seinem Buch *„Der Vagus Schlüssel zur Traumaheilung“ als Autonomie- versus Verschmelzungstypen.

Und tatsächlich läuft es meist so ab, dass je mehr sich der Bindungsängstliche zurückzieht, desto mehr klammert der oder die andere. Weil sich aber auch der Bindungsängstliche insgeheim nach einer glücklichen Beziehung sehnt, fühlt er sich phasenweise doch wieder verliebt, woraufhin sich der oder die andere Hoffnung macht. Dieses Hin- und Her zwischen Gehen oder Bleiben kann sich über Jahre hinziehen und großen Leidensdruck verursachen.

Überwindung von Bindungsangst

Durch meine intensive Beschäftigung mit dem Thema Entwicklungstrauma sowie durch intensive Gespräche mit glücklichen Paaren habe ich vier Grundvoraussetzungen für die Überwindung von Bindungsangst zusammengefasst. 

1. Die Bereitschaft, Dich mit Deiner Bindungsangst auseinanderzusetzen

Um Ängste in Deinem Leben aufzulösen, musst Du Dir zunächst bewusst darüber sein, dass Du sie hast. Erst wenn Du Dir selbst eingestehst, dass Du Bindungsangst hast, kannst Du Veränderungen einleiten. Du musst also akzeptieren, dass Du als Folge Entwicklungstrauma in Deiner Kindheit, im Hier und Jetzt unter Bindungsängsten leidest. Das setzt auch die Bereitschaft voraus, Dich den schmerzlichen Gefühlen Deiner Kindheit zu öffnen und irgendwann Deine Schutzmechanismen (Flucht, Kampf, Totstellen) aufzugeben. Die Arbeit mit dem Inneren Kind und tief verinnerlichten Glaubenssätzen kann dabei ein erster Schritt sein.

2. Ein klares Ja für Deine Beziehung 

Wenn Du Dich in einer Beziehung befindest und Deinen unsicheren Bindungsstil aufgeben willst, braucht es ein klares Ja zu der betreffenden Beziehung, sofern es keine destruktive Beziehung ist, mit der Du Dein Bindungstrauma reinszenierst. Das bedeutet, dass Du Dich wirklich auf den anderen Menschen einlässt und entgegen Deiner bisherigen Strategien dableibst, auch wenn es schwierig oder unangenehm wird. Andersherum muss Dein Partner oder Deine Partnerin dasselbe wollen. Du wirst Dir die Zähne ausbeißen, wenn Du versuchst, einen Bindungsängstlichen zu heilen, der nicht bereit ist hinzusehen.

Solltest Du aktuell in keiner Beziehung sein, nutze die Zeit, um Dich mit Deinen bisherigen Beziehungsmustern auseinanderzusetzen. Durch Bücher oder professionelle Hilfe kannst Du herausfinden, ob Du selbst unter Bindungsangst leidest und/oder warum Du immer wieder an bindungsängstliche Partner/innen gerätst. Werde Dir klar darüber, wie Deine Traumbeziehung aussehen soll, damit Du Dich beim nächsten Mal von Anfang an nur auf jemanden einlässt, der präsent ist und sich wirklich auf eine Bindung einlassen will.

Wenn ihr in eurer Partnerschaft ein klares Ja für euch habt, dann kann die Heilreise losgehen. Bitte vergesst aber nicht, dass eine erfüllte Partnerschaft auch mit Arbeit verbunden ist. Am besten betrachtet ihr eure Beziehung als Sprungbrett für eure Heilung. Die Geschenke von Nähe, Vertrauen und Wertschätzung innerhalb eurer Beziehung werden jeden Aufwand Wert sein!

Bindungsangst überwinden

3. Offene und ehrliche Kommunikation

Eine offene und ehrliche Kommunikation ist das Fundament einer jeden guten Beziehung. Tatsächlich scheitern die meisten Beziehungen genau daran. Weil wir früh gelernt haben, dass unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, glauben wir, dass wir sie nicht haben dürfen. Wir haben uns verleugnet und angepasst, um geliebt zu werden. Diese Muster musst Du jetzt durchbrechen! Du darfst jetzt lernen, dass Du gut bist, genauso wie Du bist und das Du Dich für nichts zu schämen brauchst. Du hast ein Recht auf Deine Gefühle und Bedürfnisse und darauf, diese angemessen auszudrücken. Ansätze wie die gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg oder das ehrliche Mitteilen nach Gopal können hier eine wertvolle Stütze sein.

Nur wenn Du in der Lage bist mitzuteilen, was Du fühlst und was Du brauchst, kann Dein Gegenüber darauf reagieren. Schluck es nicht runter, wenn Dich etwas belastet, sondern bitte um ein Gespräch. Durch authentische, offene und ehrliche Kommunikation können innerhalb der Beziehung gemeinsam Lösungen gefunden werden. Im Alltag stellt das Miteinanderreden oft eine Herausforderung dar. Deshalb empfehle ich einen festen wöchentlichen Termin, bei dem ihr euch mitteilt, was euch auf dem Herzen liegt.

Offene Kommunikation für gute Bindung

4. Persönliche und gemeinsame Weiterentwicklung

Wir sind auf dieser Welt, um zu wachsen und uns weiterzuentwickeln. Wenn das mit der Erreichung eines bestimmten Alters aufhört, entspricht das in meinen Augen nicht unserer Natur. Auch Beziehungen gedeihen und festigen sich durch Weiterentwicklung, sowohl durch die Persönliche als auch durch die Gemeinsame.

Als Paar könnt ihr zum Beispiel Seminare besuchen, die eure Achtsamkeit schulen, eure Verbindung stärken oder euch bei bestimmten Themen (Kommunikation, Sexualität etc.) weiterhelfen. Um destruktive Muster aufzulösen, könnt ihr auch Coachings in Anspruch nehmen oder eine Paartherapie aufsuchen. Hilfe anzunehmen, ist meiner Meinung nach einer der größten Erfolgsfaktoren für eine glückliche Partnerschaft, vor allem, wenn Traumata und Bindungsängste das Leben geprägt haben.

Unabhängig von eurer Beziehung hat natürlich jeder von euch eigene Themen oder Interessen, denen ihr Aufmerksamkeit schenken dürft. Unterstützt euch in euren individuellen Prozessen und Erfahrungen, denn diese kommen eurem langfristigen Liebesglück nur zugute. Außerdem habt ihr euch so auch immer wieder etwas zu erzählen.

Zu guter Letzt darf natürlich auch die Leichtigkeit in eurer Partnerschaft nicht fehlen! Gemeinsame Reisen und Freizeitaktivitäten machen nicht nur Spaß, sie stärken auch eure Verbindung und fördern eure Weiterentwicklung.

Na, wie geht es Dir nach dem Lesen dieses Beitrags? Hast Du Dich oder Deinen Partner/Deine Partnerin vielleicht darin wiedergefunden? 

Für mich war es ein großer Mehrwert zu erkennen, dass ich durch Vor- und nachgeburtliche Traumatisierungen unter Bindungsangst leide und mich unbewusst auch immer wieder auf bindungsängstliche Partner eingelassen habe. Nur durch diese Erkenntnisse kann ich daran arbeiten, um meine Beziehungsqualität in Zukunft zu verbessern.

Ich freue mich, falls ich Dein Interesse für dieses Thema wecken konnte. Du bist herzlich eingeladen, einen Kommentar mit Deinen Eindrücken zu hinterlassen und den Beitrag mit anderen Menschen zu teilen. 

Danke und schön, dass Du da bist!

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Quellenverweise: 

Broughton, Vivian (2016): Zurück in mein Ich: Das kleine Handbuch zur Traumaheilung mit einem Nachwort von Franz Ruppert, 4. Edition, München

Klein, Gopal Norbert (2022): Der Vagus Schlüssel zur Traumaheilung: Wie “Ehrliches Mitteilen” unser Nervensystem reguliert, 4. Edition, München

Ruppert, Franz (2017): Symbiose und Autonomie: Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen, 5. Auflage, Stuttgart

Schmitt, Tobias: Kindes- und Jugendalter: Soziale Entwicklung, abgerufen am 03.11.2022 von: http://entwicklung-psychologie.de/bindungsqualitaet.html

Stahl, Stefanie (2020): Vom Jein zum Ja: Bindungsängste überwinden und endlich bereit sein für eine tragfähige Partnerschaft, 1. Auflage, München

Stegmaier, Susanne: Grundlagen der Bindungstheorie, abgerufen am 01.11.2022 unter: https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psychologie/1722/

Unbekannt: Bindungstheorie – Definition, Ansätze & Kritik, abgerufen am 03.11.2022 unter: http://www.bindungstheorie.net/#ainsworth

Liebeskummer

Liebeskummer – Warum er sich anfühlt wie ein Trauma

Wir alle kennen ihn – den Herzschmerz, der uns nach einer Trennung den Boden unter den Füßen wegzieht. Liebeskummer wird oft bagatellisiert, obwohl er eine starke seelische Belastung darstellt, die uns regelrecht aus der Bahn werfen kann.

Wenn Du gerade unter Liebeskummer leidest, Dich verzweifelt, kraft- und orientierungslos fühlst, wird Dir der folgende Beitrag helfen. Du findest heraus, warum sich der Trennungsschmerz wie ein Trauma anfühlt und wieso er auch eine Chance zur Traumaheilung darstellt. Nach dem Lesen wirst Du mehr Verständnis für Deinen aktuellen Zustand haben und Zuversicht dafür entwickeln, dass Du den Liebeskummer gesund und nachhaltig verarbeiten kannst.

Wann entsteht Liebeskummer?

Liebeskummer bezeichnet die emotionale Reaktion auf eine verloren gegangene partnerschaftliche Liebe. Er entsteht durch die physische Trennung von dem Menschen, zu dem oder der Du eine Bindung aufgebaut hast. Häufig wird davon ausgegangen, dass der Beziehungsteil, von dem die Trennung ausgegangen ist, stärker unter dem Verlust leidet. Das muss jedoch nicht immer zutreffen und ist abhängig vom Trennungsgrund.

Egal in welcher Position Du Dich befindest, Du hast einen nahestehenden Menschen verloren, mit dem Du gemeinsame Erfahrungen, Erinnerungen und Zukunftspläne geteilt hast. Es ist ganz natürlich, dass diese Veränderung Gefühlsreaktionen in Dir auslöst, die von Deinem Nervensystem verarbeitet werden wollen.

Wie äußert sich Liebeskummer?

Die Merkmale von Liebeskummer ähneln häufig den Symptomen von Trauma. Denn wenn der wichtigste Bezugspunkt in Deinem Leben plötzlich nicht mehr da ist, kann der Schmerz darüber wie eine existenzielle Bedrohung wirken.

Liebeskummer

Neben Trauerreaktionen in Form von sozialem Rückzug und weinen leidest Du vielleicht vermehrt unter Ängsten. Du fängst an, an Dir selbst zu zweifeln, fühlst Dich allein, klein und wertlos. Deine Gedanken überschlagen sich und sind in Negativspiralen gefangen. Deine tiefe Traurigkeit überträgt sich auf Deinen Körper. Du fühlst Dich schlapp, hast Schmerzen und bist in Deinem Ess- und Schlafverhalten beeinträchtigt. Im schlimmsten Fall kann sich dieser Zustand sogar zu einer Depression entwickeln.

Viele Menschen greifen zu Alkohol, Medikamenten oder Drogen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Eine Lösung ist das jedoch nicht. Im Gegenteil, auf diese Weise schaden wir unserem Körper und verschlechtern auch unseren mentalen Zustand langfristig betrachtet noch mehr.

Fühlt sich Liebeskummer für jeden gleich an?

Wie bereits erwähnt sind Trennungen immer mit schmerzlichen Gefühlen verbunden und doch fühlt sich Liebeskummer nicht für jeden gleich an. Bestimmte Faktoren beeinflussen unseren individuellen Umgang mit Liebeskummer. So spielen unser Hormonhaushalt, unsere persönliche Resilienz und psychische Vorbelastungen eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Trennungsschmerz.

Hormone

In einer Beziehung produziert unser Körper das sogenannte Bindungshormon Oxytocin. Auch Kuschelhormon genannt, stärkt es in uns das Gefühl von Vertrauen und Bindung und reduziert Stress. Nach einer Trennung nimmt die Oxytocinproduktion ab. Die Folgen können innere Unruhe auf der einen und Antriebslosigkeit auf der anderen Seite sein. Wir fühlen uns dann wie auf einem schmerzhaften Drogenentzug. Dieser Zustand scheint manchmal so unerträglich, dass wir unseren Partner mit allen Mitteln zurückgewinnen wollen, selbst dann, wenn wir die Trennung selbst veranlasst haben.

Persönliche Resilienz

Wie wir auf eine Trennung reagieren, hängt auch von unserer persönlichen Resilienz oder Anpassungsfähigkeit ab. Welche Eigenschaften es sind, die für eine gute Resilienz sprechen, verraten uns die sieben Säulen der Resilienz, welche hier nur kurz erwähnt und nicht genauer beschrieben werden:

    1. Akzeptanz
    2. Optimismus
    3. Lösungsorientierung
    4. Opferrolle verlassen
    5. Verantwortung übernehmen
    6. Netzwerke aufbauen
    7. Zukunft planen

Wie stark diese Säulen jeweils in uns ausgeprägt sind, ist abhängig von unseren Lebenserfahrungen, familiären Verhältnissen und sozialen Prägungen. 

Selbstverständlich sind resiliente Menschen auch nicht frei von Liebeskummer. Auch sie trauern um ihren Verlust und sind zeitweise niedergeschlagen, verzweifelt oder orientierungslos. Die Fähigkeit zur Selbsthilfe ist bei ihnen jedoch stärker ausgeprägt als bei weniger resilienten Menschen, sodass sie schneller über einen Verlust hinwegkommen.

Psychische Vorbelastungen (Trauma-Biografie)

In keinem Lebensbereich werden wir so stark mit unseren psychischen Vorbelastungen in Form von Traumata konfrontiert wie in unseren Liebesbeziehungen.
Haben wir bereits in frühen Jahren traumatische Erfahrungen gemacht, die mit Todesangst verbunden waren, kommen wir spätestens bei einer Trennung damit in Berührung. 

Trennungsschmerz

Aus der Bindungstheorie wissen wir, dass Babys und kleine Kinder ohne psychische und physische Nähe zu anderen nicht überleben können. Das wir heute am Leben sind bedeutet aber nicht, dass bei uns diese elementaren Bedürfnisse jederzeit gestillt wurden. Sind wir beispielsweise von einem Elternteil abgelehnt wurden oder hat man uns schreien lassen, war das für unsere Existenz tatsächlich lebensbedrohlich. Auch wenn wir keine bewussten Erinnerungen mehr daran haben, leiden wir durch derartige Erfahrungen an den Folgen von Bindungs- und/oder Entwicklungstraumata.

Mussten wir im Laufe unseres Lebens mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen durch Tot, Trennung oder Scheidung umgehen und konnten diesen nicht ausreichend verarbeiten, haben wir mit großer Wahrscheinlichkeit ein Verlusttrauma erlitten. Wenn Gewalt und Missbrauch unser Leben geprägt haben, sind weitere unverarbeitete Traumatisierungen sehr wahrscheinlich.

Kann Liebeskummer zu einer (Re-) Traumatisierung führen?

Auch wenn eine Trennung als ein überwältigendes Ereignis wahrgenommen werden kann, das den Anschein macht, es nicht überleben zu können, kann hier nicht von einer Retraumatisierung gesprochen werden. Was traumatisierend erscheint, ist in Wahrheit „nur“ ein Trigger. 

Durch die Trennung von unserem Geliebten oder unserer Geliebten trifft der Herzschmerz auf unsere unverarbeiteten Kindheitstraumata und ruft diese wieder wach. Dies erklärt auch, warum wir uns in einem Trennungsprozess häufig wie ein kleines Kind fühlen: einsam, allein und unfähig zu überleben.

Eine Re-traumatisierung würde bedeuten, dass wir erneut einer Situation ausgesetzt sind, die der damaligen gleicht. Rein objektiv betrachtet ist das jetzt, wo wir erwachsen sind, nicht mehr der Fall. Auch wenn wir allein sind, ist jetzt unser Leben davon nicht mehr bedroht. Im Vergleich zu damals sind wir im Hier und Jetzt handlungsfähig und in der Lage, all die schmerzlichen Gefühle liebevoll anzunehmen. Wir werden den Liebeskummer überleben und so aus dem alten Modus er-wachsen.

Phasen von Liebeskummer

Um Deine Gefühle oder das Gefühlschaos, das Du gerade erlebst, besser einordnen zu können, ist es hilfreich, Dir die vier Phasen von Liebeskummer bewusst zu machen. Sie verdeutlichen Dir, dass Dein aktueller Zustand normal ist und auch wieder vorübergehen wird.

1. Nicht-wahrhaben-wollen-Phase

Diese Phase wird maßgeblich durch unseren Hormonhaushalt herbeigeführt. Wie bereits erwähnt, nimmt nach einer Trennung die Bildung des Bindungshormons Oxytocin ab. Wir fühlen uns dadurch wie auf einem Drogenentzug. Letztendlich sind wir auch Entzug, nämlich von dem bisher geliebten Menschen. Die Trennung in dieser Phase anzuzweifeln, auch wenn sie von uns selbst ausgegangen ist, ist eine typische Begleiterscheinung.  Auch das Leugnen der Trennung als Verlassene oder Verlassener ist typisch. Wir wollen nicht wahrhaben, dass die Beziehung vorbei ist und hoffen, dass für alles noch eine Lösung gefunden werden kann.

2. Phase von Akzeptanz und Trauer

Dass die Trennung real ist, begreifen wir in der zweiten Phase. Wir beginnen jetzt um unseren Verlust zu trauern und haben Liebeskummer. Damit wir unsere Trennung wirklich gut verarbeiten, ist es sehr wichtig, all unseren Gefühle Raum zu geben.

Häufig entwickeln wir in dieser Phase auch Groll oder sogar Rachefantasien, weil wir uns ungerecht behandelt fühlen. Dahinter verbirgt sich meist Wut, die auch gefühlt werden will, ohne dass wir sie an uns selbst oder dem Ex-Partner ausagieren.

3. Phase der Selbstreflexion

In der dritten Phase der Selbstreflexion beginnen wir die Trennung weniger emotional zu betrachten. Wir erkennen, welche Gründe zum Scheitern der Beziehung geführt haben und sind in der Lage, unseren eigenen Anteil daran zu sehen. Es kann durchaus sein, dass wir noch immer traurig über den Verlust sind, aber wir öffnen uns jetzt auch der Möglichkeit, dass unser Leben von nun an ohne den Ex-Partner weitergeht. Vielleicht sind wir sogar in der Lage anzuerkennen, dass die Trennung ein wichtiger Schritt für unsere eigene Entwicklung war.  

4. Phase der Neuorientierung

Liebeskummer verarbeiten

Abschließend kommt es zur Phase der Neuorientierung, in der wir unser Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Diese Phase erkennen wir durch unsere zunehmende Neugier auf das Leben und die Offenheit für Neues. Wir stecken uns neue Ziele und widmen uns endlich wieder den Dingen, die uns Freude bereiten (z. B.: Sport, Kunst, Wandern, Tanzen etc). Die Trennung ist verarbeitet und wir fühlen uns emotional wieder stabil.

Bis es zur Phase der Neuorientierung kommt, ist es möglich, dass wir zwischen den drei vorherigen Phasen hin und her pendeln. Das ist Teil des Verarbeitungsprozesses und ganz normal. Wir sollten uns also nicht unter Druck setzen, egal wie lang es insgesamt dauert.  

6 Tipps zum Verarbeiten von Liebeskummer

Wie bereits erwähnt bist Du Deinem Trennungsschmerz nicht schutzlos ausgeliefert. Als erwachsener Mensch bist Du handlungsfähig und kannst Dir bei der Verarbeitung Deines Liebeskummers Hilfe suchen. Vielleicht gelingt es Dir sogar, die Trennung als Chance zu betrachten, um Deine alten Traumawunden zu heilen. Die folgenden Tipps sollen Dich bei der Verarbeitung Deiner Trennung unterstützen und Dir helfen, in einen Zustand von Stabilität und Sicherheit zurückzufinden.

Bleib Abstinent!

Mach Dir bewusst, dass Du Dich nach einer Trennung auf einem hormonellen Entzug befindest. Wenn Du immer wieder Kontakt zum Ex-Partner suchst, wirst Du nicht von der „Sucht“ loskommen und verlängerst Deinen Leidenszustand. Vermeide persönliche Begegnungen und andere Arten der Kontaktaufnahme (Anrufe, SMS, Nachrichten auf sozialen Medien), so gut es geht. Versuche bewusst Deine Gedanken von ihm oder ihr abzulenken, ohne Dir selbst dabei zu schaden. Statt in Erinnerungen zu schwelgen oder darüber nachzugrübeln, was falsch gelaufen ist, lenke Deine Aufmerksamkeit immer wieder in die Gegenwart.

Nimm Unterstützung an

Es ist normal, wenn Du Dich nach einer Trennung eine Zeit lang zurückziehen willst. Irgendwann solltest Du aber wieder aus Deinem Schneckenhaus herauskommen und die Unterstützung von Freunden, Bekannten und der Familie annehmen. Auch andere soziale Kontakte (Arbeitskollegen, Selbsthilfe-, Fitnessgruppen) können Dir dabei helfen zu begreifen, dass Du nicht allein bist und Dein Leben auch ohne Deinen Partner oder Deine Partnerin einen Sinn hat.

Erlaube Deine Gefühle

Auch wenn die Trennungsgefühle sehr schmerzhaft sind, ist Verdrängung keine Lösung. Statt Dich abzulenken oder direkt in eine neue Liebschaft zu stürzen, solltest Du versuchen, Deine Gefühle zuzulassen und zu fühlen. Trauer und Wut sind wichtig, um über Deinen Verlust hinwegzukommen. Versuche herauszufinden, welche Geschenke diese Gefühle für Dich bereithalten. Verbirgt sich hinter der Trauer womöglich Selbstliebe? Und schenkt Dir die Wut vielleicht innere Klarheit und Stärke?

Finde zu Deinem inneren Kind

Wir alle tragen ein verletztes Kind in uns, dass unter den unverarbeiteten Traumawunden leidet, die jetzt wach gerufen wurden. Indem Du Dich diesem Kind-Anteil in Dir zuwendest, heilst Du nicht nur Deinen Liebeskummer, sondern auch Deine Traumata. Wie Du den Zugang zu Deinem inneren Kind findest und es heilen kannst, erfährst Du in folgendem Beitrag:

Dein inneres Kind
Die wichtigste Beziehung in Deinem Leben! 

Inneres Kind


Fokussiere Dich auf Kraftquellen und Positives

Fokussiere Dich auf die positiven Dinge in Deinem Leben und alles, wofür Du dankbar bist. Finde Deine persönlichen Kraftquellen und schöpfe so oft es geht aus ihnen. Yoga, Meditation oder Atemübungen können genauso hilfreich sein wie Naturerfahrungen, Sport oder Kreatives (Basteln, Malen, Singen). Was hat Dir in der Vergangenheit immer gutgetan? Zögere nicht und tu es wieder, solange es Dir und anderen nicht schadet.

Such Dir therapeutische Unterstützung

Um Hilfe zu bitten, wenn Du Dich von schmerzlichen Gefühlen überwältigt fühlst, kennzeichnet ein liebevolles und verantwortungsbewusstes Verhalten Dir selbst gegenüber. Scheue Dich also nicht davor, Dir Hilfe zu suchen, sei es bei einem Therapeuten, einer Selbsthilfegruppe oder im Rahmen eines Coachings. Gerade jetzt gibt es auch online sehr viele Angebote.

Bitte setze Dich auch bei der Umsetzung dieser Tipps nicht unter Druck. Räume dem Prozess die Zeit ein, die er nun mal braucht. Egal ob es Wochen, Monate oder sogar Jahre sind. Wenn Du gut für Dich sorgst und Dir die Tipps zu Herzen nimmst, wird es aber sicher keine Jahre dauern, um über den Verlust hinwegzukommen. Indem Du Dir Zeit lässt, stellst Du außerdem sicher, dass Du die Trennung wirklich verarbeitest und keine Altlasten in eine neue Beziehung überträgst.

Sei Dir gewiss, dass Du am Ende geheilt und gestärkt aus dieser Phase Deines Lebens herauskommen wirst. Zweifellos folgt nach jedem Regen auch wieder Sonnenschein.

Liebeskummer verarbeiten

Wie bist Du nach Deiner letzten Trennung mit dem Herzschmerz umgegangen? Weißt Du noch, was Dir am meisten geholfen hat? Teile Deine Erfahrungen gerne in einem Kommentar, damit andere wissen, dass sie damit nicht allein sind. Teile diesen Beitrag bitte auch mit Menschen, die gerade unter Liebeskummer leiden. Herzlichen Dank! ♥

Schön, dass Du da bist!

Bin ich traumatisiert

Habe ich ein Trauma? Woran Du erkennst, dass Du traumatisiert bist

Glücklicherweise rückt das Thema Trauma in unserer Gesellschaft mehr und mehr in den Blickpunkt und wird öffentlich diskutiert. Dadurch stellen sich Menschen vermehrt die Frage, ob sie womöglich selbst traumatisiert sind. Mit diesem Beitrag versuche ich Licht ins Dunkel zu bringen, indem ich Merkmale aufzeige, die auf Traumatisierungen hindeuten können.
Für ein besseres Verständnis empfehle ich Dir, falls Du es noch nicht getan hast, meine Infoseiten “Was ist Trauma”, “Arten von Trauma” und “Überlebensmechanismen” durchzulesen.

Wieso fällt das Erkennen von Traumatisierungen so schwer?

Am leichtesten zuordnen lässt sich ein Traumahintergrund beim sogenannten Schocktrauma, welches nach außergewöhnlichen Bedrohungssituationen wie Krieg, Naturkatastrophen oder Unfällen auftritt. Betroffene entwickeln nach derartigen Erfahrungen verschiedene Symptome zum Beispiel unwillkürliches Erinnern und Wiedererleben der belastenden Situation (Flashbacks), Vermeidung und Verdrängung des Geschehens, Nervosität, Angst, Reizbarkeit, Aggressivität oder Taubheit der Gefühle sowie Interessensverlust.

Dieselben Symptome können auch bei anderen Trauma-Arten auftreten, mit dem Unterschied, dass der Auslöser nicht bekannt ist. So fällt das Erkennen von Entwicklungstrauma (Bindungstrauma und sexuelles Trauma eingeschlossen) und generationsübergreifendem Trauma deutlich schwerer, weil sie ihren Ursprung häufig vorgeburtlich oder in sehr jungen Jahren haben. Es sind dann keine bewussten Erinnerungen an die Traumasituationen in uns vorhanden.

Außerdem reagieren wir auf ein Trauma mit einem Schutzmechanismus, der zwar unser Überleben sichert, uns aber lang anhaltend den Zugang zu den traumatisierenden Ereignissen verwehrt. Es handelt sich dabei um die psychische Spaltung, die ich nachfolgend genauer beschreibe.

Psychische Spaltung durch Trauma

Traumatisiert - Anteile
Hast Du manchmal das Gefühl, verrückt zu sein? Oder sogar schizophren? Kannst Du Dir nach manchen Deiner Reaktionen oder Gefühlsausbrüche selbst nicht mehr erklären, wieso Du Dich so und nicht anders verhalten hast? Den meisten Menschen mit Traumahintergrund geht es so oder ähnlich. Das liegt daran, dass wir uns, um eine traumatische Situation zu überleben, psychisch spalten mussten. In seinem Spaltungsmodell legt Dr. Franz Ruppert drei entscheidende Anteile zugrunde, die in uns aktiv sind und zwischen denen wir situationsbedingt hin und her wechseln:

Traumatisierter Anteil:

Der traumatisierte Anteil ist der psychische Anteil, welcher der Traumasituation physisch und psychisch ausgesetzt war. In ihm sind die Traumaerfahrungen gespeichert. Er beinhaltet die starken Gefühle von Schmerz, Angst, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ekel und weitere, die in der bedrohlichen Situation nicht zu bewältigen waren und daher abgespalten werden mussten. Der traumatisierte Anteil versucht immer wieder ins Bewusstsein zu gelangen, er möchte sozusagen gesehen werden, um die Traumasituation endlich abzuschließen. Diesem Anteil ist auch Dein inneres Kind bzw. Deine Inneren-Kind-Anteil zuzuordnen.

Überlebens-Anteil:

Der Überlebensanteil hat den Zweck, alle Empfindungen, Gefühle und kognitive Erinnerungen an das Trauma zu unterdrücken. Dazu entwickelt er komplexe Strategien und vermeidet Situationen, die das Trauma erneut auslösen könnten. Dieser Anteil ist manipulativ, versucht Kontrolle auszuüben oder sich mit allem Möglichen abzulenken. Er ist häufig verwirrt, fühlt sich von Gefühlen der Schuld und Scham belastet, dissoziiert schnell und ist nicht in der Lage, gute Beziehungen zu gestalten. 

Wenn es zu weiteren Traumatisierungen kommt (was bei Entwicklungstrauma meistens der Fall ist), können sich durch weitere Spaltungen mehrere Überlebensanteile herausbilden.

Unverletzter Anteil

Der unverletzte Anteil ist sozusagen das, was heilgeblieben ist. Befinden wir uns in diesem Anteil, haben wir Zugriff auf unsere erlernten Fähigkeiten, wir haben einen klaren Bezug zur Realität, sind zuversichtlich und können gute Entscheidungen treffen, wie zum Beispiel Hilfe zu suchen. Dieser Anteil ist in der Lage, seine Gefühle auszudrücken, nährende Beziehungen zu gestalten und die traumatischen Erfahrungen anzuerkennen.

Vielleicht geht es Dir jetzt wie mir, als ich zum ersten Mal von diesen drei Anteilen gehört habe. Bis dahin war ich tatsächlich verwirrt über meine Ambivalenz und Zwiespältigkeit. Ich glaubte selbst verrückt oder sogar schizophren zu sein.
Du kannst jetzt aufatmen, denn Du bist nicht verrückt. Du hast lediglich Verletzungen davongetragen, die bisher noch nicht geheilt werden konnten. Das Schöne ist, dass auch Du über den unverletzten Anteil verfügst, der immer stärker werden wird, je mehr Du heilst.

Wie unsere Anteile unser Leben beeinflussen

Schauen wir uns jetzt uns noch etwas genauer an, wie diese drei Anteile unser Leben unbewusst beeinflussen. Für einen besseren Überblick untergliedere ich unser Leben in drei Hauptbereiche. Den Bereich der physischen und psychischen Gesundheit, die Beziehungsebene und die Gefühlsebene. Am Ende jeden Bereiches findest Du einige konkrete Symptome, wobei jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht.

1. Ebene der physischen und psychischen Gesundheit

Gesundheit ist in den meisten Fällen das Ergebnis unseres Lebensstils und dem Umgang mit uns selbst. Wenn unser Körper Symptome entwickelt, will er uns nichts Böses. Er ist nicht unser Feind, sondern will uns darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht im Gleichgewicht ist, was unserer Aufmerksamkeit bedarf.

Wir Menschen sind Körper, Geist und Seele. Klassische medizinische Ansätze lassen das außer Acht und versuchen Symptome nur auf einem dieser Bereiche zu beseitigen. Das heißt, wir gehen mit unseren Problemen zum Arzt und bekommen nach der meist symptombezogenen Anamnese den ärztlichen Befund und damit den Stempel krank verpasst. Medikamente sollen das Problem beheben, aber die zu Grunde liegenden Ursachen bleiben so unberücksichtigt.
Kurzfristig ist uns so zwar geholfen, aber langfristig kommt es dem Versuch gleich eine feuchte Wand trocken zu legen, ohne das Loch im Dach zu beseitigen.

Statt unsere Symptome mit starken Medikamenten beseitigen zu wollen, die unserem Körper schaden (siehe Nebenwirkungen in den Beipackzetteln) sollten wir uns lieber der Ursache zuwenden. Und die liegt meist ganz tief in uns vergraben.

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es sich um meine persönliche Betrachtungsweise handelt und ich akzeptiere, dass Du womöglich eine andere Sichtweise hast. Außerdem ist mir wichtig zu betonen, dass ich Medikamente nicht per se ablehne. Ich selbst wäre ohne eine hohe Medikation während zwei langwieriger Krankenhausaufenthalte nicht mehr am Leben. Auch aktuell bin ich auf Medikamente für meine Schilddrüsenunterfunktion angewiesen. Ich bin froh, dass es Medikamente gibt, die uns auf unserem Weg unterstützen. Langfristig gesehen sollten sie aber keine Dauerlösung sein.

Durch eigene Erfahrungen weiß ich, wie chronische Beschwerden heilen, wenn ich mich ihnen zuwende und die dahinterliegenden Themen erforsche. Es braucht manchmal natürlich etwas Mut, sich den ursächlichen und oft schmerzlichen Themen zuzuwenden, aber wenn unser Körper immer wieder seelische und körperliche Krankheitssymptome entwickelt, will er uns auf die Dringlichkeit hinweisen, das zu tun.

Mögliche Symptome auf der Gesundheitsebene:

  • Häufig wiederkehrende, meist langwierige Krankheiten (Hals- und Rachenentzündungen, Unterleibsbeschwerden, Magen- Darmbeschwerden, Nacken- und Rückenschmerzen, Krebs etc.)
  • Psychische Störungsbilder mit Diagnosen wie Angststörung, Depression, Phobien, ADHS, Schizophrenie und weitere
  • Schlafstörungen

Buchtipp 1:

*Mein Körper, mein Trauma, mein ich: Anliegen Aufstellen – aus der Traumabiografie aussteigen von Dr. Franz Ruppert (2017)

25 Autoren-Beiträge verdeutlichen den Zusammenhang zwischen Körpersignalen, Psyche und Trauma am Beispiel von Kopfschmerzen, Rücken- und Gelenkschmerzen, Herz- und Kreislauf- sowie Hauterkrankungen, Krebs und Schlafstörungen. 

2. Beziehungsebene

Die Beziehungsebene meint nicht nur die Beziehungen zu anderen Menschen, sondern auch die Beziehung zu uns selbst und zur Welt. Besonders nach Entwicklungstrauma kann es hier zu Gedanken- und Verhaltensmustern kommen, die uns das Leben schwer machen. Einige Fragen sollen Dir dabei helfen einzuschätzen, ob sich in Deinem Beziehungsverhalten Traumatisierungen vermuten lassen:

a.) Beziehung zur Welt

In welcher Beziehung stehst Du zum Leben und der Welt? Wie fühlst Du Dich als Mensch in Deiner Umwelt? Empfindest Du das Leben grundsätzlich als schön und freudvoll oder eher als schwierig und schmerzhaft? Plagen Dich viele Ängste und ein mangelndes Selbstwertgefühl oder verfügst Du über ein generelles Grundvertrauen in das Leben? Bist Du oft niedergeschlagen und depressiv, weil Du die Welt für einen feindlichen Ort hältst, der an jeder Ecke Gefahren birgt? Vielleicht fühlst Du Dich vom Pech verfolgt, weil Du bei allen Versuchen etwas in Deinem Leben zu verändern, scheiterst. Du willst Dich gern weiterentwickeln, aber hast einfach keinen Erfolg mit Deinen Vorhaben.

Wenn Deine Antworten tendenziell eher negativ ausfallen, kann es sein, dass in Dir noch etwas ungesehen ist. Womöglich ist es Dein Trauma-Anteil, der die schrecklichen Geschehnisse von damals ins Hier und Jetzt überträgt.  

b.) Beziehung zu uns selbst

Wie gehst Du mit Dir und Deinem Körper um? Bist Du jederzeit in Deinem Körper präsent und kannst Dich gut in ihm spüren?
Menschen mit Entwicklungstrauma spüren sich nicht gut im eigenen Körper. Exzessives Treiben von Sport oder Sex, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen, übermäßiger Konsum von Alkohol und Drogen können dem Versuch dienen, sich intensiver oder überhaupt nicht spüren zu wollen. Sie vergessen ihren Körper im Alltag auch oft und nehmen ihre Bedürfnisse nicht wahr oder nicht ernst.

Kommst Du am Abend manchmal nach Hause und bemerkst, dass Du den ganzen Tag nichts getrunken hast? Oder fühlst Du Dich plötzlich kraftlos und erschlagen, weil Du den ganzen Tag extrem angespannt warst?

Und wie sieht es mit Deinem inneren Dialog aus? Wie denkst und sprichst Du innerlich über Dich? Lehnst Du Teile von Dir ab oder empfindest Hass gegen Dich selbst? Glaubst Du im Grunde wertlos zu sein oder es nicht verdient zu haben, glücklich zu sein?

Vielleicht ist so ein unachtsamer Umgang mit Dir selbst für Dich ganz normal, weil mit Dir genauso umgegangen wurde, als Du noch klein warst. Verurteile Dich bitte nicht dafür, wie Du im Moment bist. Versuche, stattdessen einen neuen und liebevolleren Umgang mit Dir selbst zu erlernen.

c.) Beziehung zu anderen Menschen

In Beziehungen zu anderen Menschen werden Entwicklungstraumata ganz stark deutlich, vor allem in Liebesbeziehungen. Obwohl wir uns einerseits nach Nähe und Verbindung sehnen, schaffen wir es nicht, eine liebevolle und langfristige Beziehung zu führen.

Bist Du im Grunde eh fest davon überzeugt, dass Du anderen Menschen nicht vertrauen kannst? Suchst Du Dir unbewusst immer wieder Partner, die Dir das bestätigen, indem sie sich nicht auf Dich einlassen, Dich ablehnen oder im schlimmsten Fall sogar verletzten?

Toxische Beziehungen müssen aber auch nicht immer so gravierende Ausmaße annehmen. Auch eine unbewusste Angst vor wirklicher Nähe und Verbindung kann schon zu immer wiederkehrenden destruktiven Beziehungsmustern führen. Die zugrunde liegenden Bindungsängste, die eine Folge früher Kindheitsverletzungen sind, sind uns meist gar nicht bewusst, weil sie eine Schutzstrategie unseres Überlebens-Anteils sind.

Siehst Du Dich auch außerhalb Deiner Liebesbeziehung immer wieder mit Schwierigkeiten konfrontiert? Fühlst Du Dich von anderen Menschen oft unverstanden und nie wirklich zugehörig? Reagierst Du bei Kritik schnell gekränkt, bist Du oft genervt, verärgert oder wütend über andere Menschen und froh, wenn Du zu Hause Deine Ruhe vor ihnen hast? Glaubst Du insgeheim besser zu sein als alle anderen und grenzt Dich deshalb von anderen Leuten ab?

An einem Bedürfnis nach Rückzug und Alleinsein ist per se nichts verkehrt. Das Warum ist entscheidend. Willst Du von anderen Menschen Abstand, weil sie Gefühle in Dir auslösen, die Dir unangenehm sind? Wenn das der Fall ist, dann handelt es sich vermutlich um eine Vermeidungsstrategie. Es lohnt sich der Ursache auf den Grund zu gehen, denn meistens dienen andere Menschen uns als Projektionsflächen für eigene ungelöste Themen.

Mögliche Symptome auf der Beziehungsebene

  • Suchtverhalten (Alkohol, Drogen, Arbeit, Essen, Computer/Internet, Sex)
  • Kontrollversuche (Essstörungen, exzessives Sporttreiben, Arbeitsverhalten, Eifersucht)
  • Selbstmordgedanken oder Selbstmordversuche
  • Geringes Selbstwertgefühl und Misserfolge bei der persönlichen Weiterentwicklung
  • Das Gefühl, anders zu sein als andere und nirgends dazuzugehören
  • Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Angst vor Berührungen, Nähe oder Blickkontakt
  • Bindungsängste, dauernde Konflikte in Partnerschaften
  • Wiederkehrendes Empfinden von Scham und Schuldgefühlen
  • Eine negative Lebenseinstellung und allgemeines Misstrauen in das Leben

3. Gefühlsebene

Wenn wir traumatisiert wurden, agieren wir unbewusst zu großen Teilen aus unseren Überlebensanteilen heraus. Ohne uns dessen bewusst zu sein, versuchen wir mit allem, was wir tun, unseren Traumagefühlen aus dem Weg zu gehen.

Unser Nervensystem scannt unsere Umgebung permanent nach möglichen Gefahren ab, sodass wir uns in ständiger Alarmbereitschaft befinden. Dieses hohe Aktivitätsniveau bedeutet Stress und beeinflusst unsere Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu regulieren.

Eine mangelnde Gefühlsregulation kann verschiedene Ausprägungen haben. Während wir phasenweise regelrecht von Gefühlen überrollt werden, kann es zu einem anderen Zeitpunkt sein, dass wir den Eindruck haben, uns gar nicht zu spüren. Der Ausdruck und Umgang mit unseren Emotionen und Gefühlen ist nicht im Gleichgewicht, sodass wir in einem Moment voller Verzweiflung sein können und im nächsten Moment schon wieder himmelhochjauchzend oder wütend und aggressiv. Wir neigen zu Hypersensibilität, das heißt, kleine Reize können schnell überfordern, sodass wir uns ausgebrannt fühlen. Wir sind schnell energielos und benötigen viel Rückzug und Ruhe, um unsere Akkus wieder aufzuladen.

Auch unser traumatisierter Anteil beeinflusst uns auf der Gefühlsebene. Wenn wir uns in ihm wiederfinden, fühlen wir uns wie damals als Kind. Vielleicht kommt es Dir bekannt vor, dass Du Dich in bestimmten Situationen plötzlich ganz klein fühlst. Entweder bedürftig und nach Liebe sehnend oder aber auch wütend, bockig und irrational, so als wolltest Du Dich am liebsten auf den Boden werfen.

Während der traumatisierte Anteil immer wieder versucht, sich zu zeigen, um endlich integriert zu werden, arbeitet der Überlebensanteil gegen ihn. Er ist darum bemüht, ihn in Schach zu halten, um nicht wieder mit den überwältigenden Traumagefühlen konfrontiert zu werden. Dieser innere Kampf steht Deinem ursprünglichen Gefühlsausdruck im Weg. Vor allem kostet er immens viel Energie. Traumaarbeit ist hier in jedem Fall lohnenswert.

Mögliche Symptome auf der Gefühlsebene:

  • Beeinträchtige Fähigkeit zur Regulation von Gefühlen (wir reagieren irrational, langanhaltend oder extrem mit Traurigkeit, Verzweiflung, Ohnmacht, Angst, Ekel, Aggression, Wut)
  • Andauernde innere Unruhe, Stressempfinden, Burn-out
  • Antriebs- und Kraftlosigkeit, Niedergeschlagenheit
  • Schwierigkeiten beim Spüren von Gefühlen, Emotionen und Empfindungen im Körper

Buchtipp 2:

*Bin ich traumatisiert?: Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen von Verena König (2021)

Mit zahlreichen Fallbeispielen, Übungen und Erklärungen aus Psychologie und Neurobiologie hilft die Traumatherapeutin Verena König, die Ursprünge und Wirkungen von Traumatisierungen zu verstehen und sich dem Thema achtsam anzunähern.

Ich würde mich doch erinnern, wenn ich traumatisiert worden wäre!

Vielleicht hast Du Dich jetzt schon in einigen der beschriebenen Merkmale wiedergefunden, traust der Sache aber nicht, weil Du keine wirklichen Erinnerungen hast.

Wie weiter oben bereits erwähnt, ist es möglich, dass Du überhaupt keine bewussten Erinnerungen an die Traumatisierungen hast. Entweder, weil Du noch zu klein warst oder weil Deine Schutzmechanismen gute Arbeit geleistet haben. Diese Mechanismen haben die Fähigkeit, Erinnerungen an schlimme Erfahrungen so sehr abzuspalten, dass wir nicht mehr darauf zugreifen können. Das nennt man dissoziative Amnesie und hat Dein Überleben gesichert.

Ohne bewusste Erinnerungen fällt es uns schwer zu glauben, dass uns etwas Furchtbares passiert ist. Aber irgendwie haben wir auch so eine leise Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmt. Warum sonst ist unser Leben geprägt von sich wiederholenden Mustern? Und aus welchem Grund sonst leiden wir auf den genannten Ebenen immer wieder innere Qualen?

Wenn wir vermuten, dass uns etwas angetan wurde oder irgendetwas an unserer Lebensgeschichte nicht stimmt, dann steckt da meistens eine Wahrheit dahinter. Wir dürfen lernen, unsere Ahnung ernst zu nehmen und uns zu vertrauen.

Bei mir war es lange Zeit so, dass ich nur emotionale und körperliche Erinnerungen hatte, jedoch keine bildhaften. Ich bin immer wieder in Kontakt mit den schrecklichen Gefühlen meiner Vergangenheit zu kommen, ohne mich zu erinnern, wo diese ihren Ursprung hatten. Bei anderen Menschen kann das genaue Gegenteil der Fall sein. Sie erinnern sich an schreckliche Dinge und können darüber erzählen, aber es ist, als würden sie über einen Film sprechen, statt über ihr eigenes Schicksal. Sie erinnern sich zwar, haben aber die dazugehörigen Gefühle abgespalten. Auch hier handelt es sich um einen Schutzmechanismus durch einen dissoziativen Zustand.

Wie geht es weiter, wenn ich glaube, traumatisiert zu sein?

Wenn sich Deine Vermutung verstärkt, traumatisiert zu sein, ist das Wichtigste nicht in Panik zu geraten. Alles ist genau richtig, so wie es ist. Du hast es bis hier hingeschafft und es ist wunderbar, dass Du da bist.
 
Solltest Du den inneren Wunsch verspüren, Dich dem Thema noch mehr zuzuwenden, dann lass Dir Zeit, gehe liebevoll mit Dir um und überfordere Dich nicht.
Du kannst zum Beispiel damit anfangen, Dich in das Thema Trauma einzulesen. Es gibt viele gute Bücher zum Thema, meine persönliche Empfehlung für den Einstieg ist das kompakte Büchlein *„Zurück in mein Ich – Das kleine Handbuch zur Traumaheilung” von Vivian Broughton.

Ich empfehle Dir sehr, den Weg nicht allein zu gehen. Suche Dir mindestens eine Vertrauensperson, die Dir glaubt und Dich wirklich unterstützt. Noch besser suche Dir eine gute Therapeutin oder einen Therapeuten, dem Du vertraust und der auf Traumaarbeit spezialisiert ist.

Außerdem bist Du herzlich eingeladen, meine Wegbegleiterin zu werden und Dein Traumawissen durch meine Beiträge zu vertiefen oder Dich von meinen Erfahrungen inspirieren zu lassen.
 
Ich schreibe meine Beiträge für Dich und hoffe, dass Du Dich durch sie ein wenig verstanden und weniger allein fühlst. Außerdem möchte ich Dich ermutigen, erste Schritte zu wagen, um langfristig ganz zu werden.
 
Aus eigener Erfahrung kann ich Dir sagen, dass sich der Weg der Ganzwerdung lohnt. Es ist zwar ein längerer Weg, auf dem es Höhen und Tiefen geben wird, aber Deine Lebensqualität wird zu nehmen, wenn Du ihn gehst. 
 
Traumaenergie ist gebundene Lebensenergie. Sie wartet darauf, ins Fließen zu kommen, damit Du ein freies und erfülltes Leben führen und Dein volles Potenzial entfalten kannst!

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Quellenverweise: 

Broughton, Vivian (2016): Zurück in mein Ich: Das kleine Handbuch zur Traumaheilung mit einem Nachwort von Franz Ruppert, 4. Edition, München

König, Verena: Woran erkenne ich, ob ich traumatisiert bin – Podcast. Abgerufen am 09.11.2021, von https://verenakoenig.de/blog-und-podcast/134-woran-erkenne-ich-ob-ich-traumatisiert-bin

Ruppert, Franz & Banzhaf, Harald (2017): Mein Körper, mein Trauma, mein ich: Anliegen aufstellen – aus der Traumabiografie aussteigen, 3. Edition, München