Vergebung

Vergebung – Du musst nicht vergeben, um zu heilen

Wenn es um die Heilung von Traumata geht, die uns durch andere Menschen zugefügt wurden, werden wir früher oder später unweigerlich mit dem Thema Vergebung konfrontiert. Es heißt, dass Vergebung der erste Schritt sei, um zu heilen. Entgegen dieser weitverbreiteten Meinung möchte ich in meinem Beitrag aufzeigen, dass Du, um zu heilen, niemandem vergeben musst, außer Dir selbst.

Was heißt Vergebung eigentlich?

Der Begriff Vergebung ist stark von Religionen geprägt und wird sehr unterschiedlich gedeutet. Die meisten Menschen sehen ihn als moralisch an, weil er ihnen als Tugend beigebracht wurde. Vielleicht hast Du auch schon von der Redewendung gehört, dass Vergebung die Tür zu Glück und Frieden sei.  

Ganz klassisch wird Vergebung als Verzicht auf Schuldvorwurf einer Person bezeichnet, die sich als Opfer empfindet.
In spirituellen Kreisen heißt es, dass ein Vorankommen auf dem spirituellen Weg nur möglich sei, wenn der Groll gegenüber anderen Menschen aufgegeben wurde. Man könne erst heil werden, wenn einem Menschen, der Dir Schlimmes angetan hat, vergeben wurde.

Wenn wir diesen Begriffsdeutungen Glauben schenken, ist Heilung also erst möglich, wenn wir vergeben haben. Und wenn wir das noch nicht getan haben, fühlen wir uns als Opfer und sind voller Zorn und Groll.

Aber ist Heilung wirklich eine Folge von Vergebung oder ist es nicht vielmehr umgekehrt? Und fühle ich mich automatisch als Opfer und voller Zorn, wenn ich nicht verziehen habe? Meiner Meinung nach handelt es sich hier um zwei Paar Schuhe.

Aus eigener Erfahrung kann ich behaupten, dass Vergebung nicht notwendig ist, um zu heilen. Vergeben und verzeihen sind Begleiterscheinungen, die sich im Rahmen des eigenen Heilungsprozesses einstellen können, aber gewiss nicht müssen. Es kann sogar sein, dass der Versuch zu vergeben Deinen Heilungsprozess behindert.

Wie Vergebung unserer Heilung im Weg stehen kann

Durch die Prägungen religiöser, philosophischer und spiritueller Schriften haben viele Menschen Angst davor, nicht heilen zu können, weil sie sich außerstande fühlen zu vergeben. Es entsteht dann ein regelrechter Druck durch die Annahme, dass Vergebung eine Notwendigkeit für Heilung darstellt. Solange wir nicht vergeben haben, seien wir nicht frei und erleuchtet, sondern hartherzig, gnadenlos oder intolerant. Ziemlich verdreht uns, die misshandelt oder missbraucht wurden, solche Eigenschaften zuzuschreiben, findest Du nicht?

Auch ich selbst habe während meiner Yogalehrerausbildung viel Energie in Vergebungsarbeit gelenkt und diverse Methoden und Praktiken probiert, um meinen Eltern und meinem Bruder zu verzeihen. Irgendwann redete ich mir ein, mit allen im Reinen zu sein, weil ich die Hintergründe ihrer Handlungen verstanden hatte. Aber hat mir diese Form von Vergebung geholfen? Kein Stück! Mein innerer Leidenszustand hat sich dadurch kein bisschen verändert.

Vergebung nicht immer möglich

Vergebung als Kopfentscheidung

Wir können nicht beschließen zu vergeben und auf Knopfdruck Liebe und Mitgefühl für diejenigen empfinden, die uns Schlimmes angetan haben. Diese Gefühle können überhaupt erst dann für andere entstehen, wenn wir sie für uns selbst fühlen.

Also spar Dir die Anstrengung, Deinen Schmerz durch kopfmäßige Begründungen wegzurationalisieren. Es nützt Dir nichts zu verstehen, wie es zu Deinen Traumatisierungen gekommen ist. Denn echte Vergebung geschieht nicht über den Kopf, sondern über das Fühlen Deiner eigenen Traumagefühle.

Vergebung

Vergebung als zusätzliche Belastung

Wir müssen uns von dem Dogma befreien, dass wir erst Heilung finden, wenn wir vergeben haben. Wenn ein Mensch in seiner Kindheit schwer misshandelt oder über Jahre hinweg missbraucht wurde, leidet er ein Leben lang innere Qualen. Einen solchen Menschen aufzufordern, den Verursachern zu vergeben oder ihn sogar als unbarmherzig oder intolerant zu bezeichnen, ist keine Hilfe, sondern eine zusätzliche Belastung. Dieser Mensch glaubt ohnehin schon, dass mit ihm etwas nicht stimmt und jetzt verzweifelt er an dem Versuch zu vergeben und wird in diesem Glauben noch bestärkt. Auf diese Weise kann Heilung nicht gelingen.

Vergebung als Überlebensmechanismus

Wird Vergebung auf Kopfebene oder aus moralischem Druck heraus erzwungen, kann sich dahinter auch ein unbewusster Überlebensmechanismus verbergen. Es erscheint Dir vielleicht leichter zu verzeihen, statt Dich im vollen Ausmaß Deinen schmerzlichen Gefühlen zuzuwenden. Du verleugnest also womöglich Deine Traumagefühle, wenn Du Deine gesamte Energie und Aufmerksamkeit nur auf Vergebungsarbeit lenkst.  

„Wer meint, dem Täter verzeihen zu müssen, ist noch nicht bei sich und nimmt den Täter noch immer wichtiger als sich selbst. Er hat noch nicht die innere Klarheit gefunden, auch ohne den Täter leben zu können bzw. nur ohne den Bezug zu ihm wirklich bei sich zu sein. Das gilt noch mehr, wenn jemand meint, sich mit dem Täter aussöhnen zu müssen bzw. zu können. Er hat dann noch immer Angst vor ihm oder Mitleid mit ihm und meint, sich vor ihm schützen oder ihn retten zu müssen. Er steckt also weiterhin im Trauma der Liebe fest.“ (Franz Ruppert, 2019)

Mit falscher Vergebung willst Du vielleicht auch einer Konfrontation mit den Verursachern Deines Leidenszustands aus dem Weg gehen. Statt Deinen berechtigten Gefühlen von Trauer und Wut Ausdruck zu verleihen und Dich von ihnen abzugrenzen, passt Du Dich an, um weiterhin mit diesen Menschen auszukommen. Im Prinzip wiederholst Du so dasselbe Verhalten aus Deiner Kindheit und verhinderst Deine Heilung.

Du musst nur einer Person vergeben – Dir selbst

Vergebung für sich selbst

Statt Deine Energie auf die Verursacher Deiner Traumatisierungen zu lenken, unterstützt Du Deinen Heilungsprozess vielmehr, indem Du Dich Dir selbst zuwendest. Denn auf die Täter kommt es gar nicht an. Es ist nicht Deine Aufgabe, sie von ihren Handlungen freizusprechen. Du bist nur für Dich verantwortlich! Wenn Du also überhaupt jemandem vergeben solltest, dann Dir selbst!

Vielleicht helfen Dir die folgenden Punkte, um eine Idee davon zu bekommen, was Du Dir selbst vergeben möchtest. Du darfst Dir selbst vergeben, dass Du:

  • ein hilfloses Kind warst,
  • Dir Nähe und Zuwendung gewünscht hast,
  • Dich nicht wehren oder fliehen konntest,
  • keine Möglichkeit gesehen hast, Dich jemandem anzuvertrauen,
  • körperliche Reaktionen hattest, die Du nicht wolltest,
  • nicht in der Lage warst, die Taten zu verhindern,
  • so viel Zeit brauchtest, um Deine Traumatisierungen anzuerkennen
  • bis jetzt ein Leben mit Einbußen geführt hast,
  • bisher mehr überlebt, statt wirklich gelebt hast
  • als Erwachsene Deine Opferrolle weitergelebt hast,
  • Dich selbst und Deinen Körper bis jetzt nicht liebevoll behandelt hast,
  • Dir und womöglich auch anderen Menschen Schaden zugefügt hast.

Wenn Du beim Lesen dieser Punkte Traurigkeit oder Wut verspürst, ist das ein gutes Zeichen. Der Zugang zu Deinen Gefühlen ist ein erster Schritt, um Dir selbst zu verzeihen. Es ist gut möglich, dass sich dadurch mit der Zeit Vergebung für andere ganz natürlich einstellt. Es ist nämlich ein Prozess im Rahmen Deiner Heilung, den Du nicht beeinflussen musst.

Vergebung ist nicht das Ziel

Sobald Du den Entschluss gefasst hast zu heilen, wirst Du früher oder später eine Lösung finden, um mit Deiner Vergangenheit abzuschließen und nach vorne zu blicken. Wenn Du denen, die Dir Furchtbares angetan haben nicht verzeihen kannst oder willst, ist das vollkommen in Ordnung. Du bist dann weder ein schlechter Mensch noch weniger moralisch oder spirituell. Du bist einfach ein Mensch, der tiefe Wunden davongetragen hat.

Susan Forward beschreibt in ihrem Buch *Vergiftete Kindheit – Elterliche Macht und ihre Folgen sehr anschaulich zwei Aspekte der Vergebung. Zum einen das Bedürfnis nach Rache aufzugeben und zum anderen den Schuldigen von seiner Verantwortung zu befreien:

 „Ich konnte akzeptieren, dass man den Gedanken an Rache aufgeben muss. […] Denn sie fesselt durch Fantasien von Gegenschlägen, um Befriedigung zu erlangen. Sie schafft viel Unglück und Frustration. Sie arbeitet gegen emotionales Wohlbefinden. […] Der Verzicht auf Rache ist schwer, bedeutet aber einen gesunden Schritt.
Doch der andere Aspekt des Vergebens war nicht so eindeutig zu bestimmen. Ich hatte das Gefühl, etwas stimme nicht, wenn man jemanden fraglos von seiner rechtmäßigen Verantwortung entbindet, besonders, wenn er ein unschuldiges Kind schwer misshandelt hat. Warum in aller Welt sollte man einem Vater verzeihen, der geprügelt und terrorisiert hat? Wie soll man die Tatsache übersehen, dass man fast jeden Tag in ein dunkles Zuhause zurückkam und sich um die betrunkene Mutter kümmern musste? Und muss man wirklich einem Vater verzeihen, der einem im Alter von sieben Jahren vergewaltigte?“ (Susan Forward, 1993)

Wichtig ist also nur, dass Du Deinen Groll hinter Dir lässt und erkennst, dass Du heute kein Opfer mehr bist. Meiner Erfahrung nach geschieht dies ganz automatisch, wenn wir die verschiedenen Phasen der Heilung durchlaufen: Akzeptanz, Erinnerung, Trauer und auch Wut.

Vergebung

Traue Dich wütend zu sein

Gerade für uns Frauen ist es häufig eine große Herausforderung, unsere Wut zu erlauben. Denn von klein auf wurde uns beigebracht, dass es sich für brave Mädchen nicht gehört, wütend zu sein. Dabei ist es sehr heilsam, die eigene Wut im Körper wahrzunehmen und auszudrücken. Wie andere Traumagefühle ist auch sie gebundene Lebensenergie, die darauf wartet, freigesetzt zu werden.

Einige Menschen, darunter manchmal auch Therapeuten, fühlen sich durch die Kraft, die sich in der Wut verbirgt, unbehaglich. Besonders dann, wenn sie selbst nicht schaffen, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Sie raten uns dann zu Vergebung, damit wir sie nicht länger mit ihren ungelösten Gefühlen konfrontieren. Lass Dich von solchen Menschen nicht verunsichern. Nachdem, was uns angetan wurde, haben wir allen Grund, wütend zu sein! Solange wir unsere Wut nicht ausagieren, indem wir uns selbst oder anderen Schaden zufügen, ist sie ein wichtiger Schritt zur Heilung. Erlaube Dir also wütend zu sein und tausche Deine Wut keinesfalls gegen falsche Vergebung ein.

Komme ganz bei Dir an

Spätestens, wenn Du alle Phasen der Heilung durchlaufen hast, hast Du die volle Verantwortung für Dein Leben und Dein Glück übernommen. Wahrscheinlich hältst Du es dann gar nicht mehr für notwendig, Dich mit den Verursachern Deiner Traumatisierungen auseinanderzusetzen. Franz Ruppert beschreibt es im Buch *Liebe, Lust und Trauma – Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität wie folgt:

„Du erkennst, dass Du Dein Trauma wirklich verarbeitet hast, wenn Dir die Verursacher Deines Leides gleichgültig geworden sind. Du verschwendest dann keinerlei Gedanken oder Emotionen mehr an diese Personen.“ (Franz Ruppert, 2019).

Ich selbst bin noch nicht an diesem Punkt angekommen. Ich kann auch nicht sagen, ob ich je in der Lage sein werde meinen Eltern und meinem Bruder zu vergeben, was sie mir angetan haben. An manchen Tagen fühle ich noch große Trauer, an anderen Tagen überwiegt die Wut. Gelegentlich empfinde ich sogar auch Mitgefühl. 

Es ist ein Prozess. Und wie mein Beitrag gezeigt hat, ist Vergebung auch nicht das Ziel. Ich mache einen Schritt nach dem anderen auf meinem Weg der Ganzwerdung und wenn sich so eines Tages Vergebung einstellt, ist das ein schöner Nebeneffekt meiner eigenen Heilung. Wenn nicht, ist das auch vollkommen okay.

Wie geht es Dir nach dem Lesen dieser Zeilen? Glaubst Du noch immer, dass Vergebung der erste Schritt zur Heilung ist? Oder fühlst Du gerade Erleichterung, weil es nicht so ist? Ich freue mich, wenn Du andere Leserinnen und mich in einem Kommentar an Deiner Sichtweise teilhaben lässt.

Schön, dass Du da bist!

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Quellenverweise: 

Forward, Susan (1993): Vergiftete Kindheit: Elterliche Macht und ihre Folgen, 1. Edition, München

Ruppert, Franz (2019): Liebe, Lust und Trauma: Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität, 1. Aufl., München