Überlebensmechanismen

Weil Überlebensmechanismen bei der Traumabewältigung eine essenzielle Rolle spielen, möchte ich im folgendem Text schildern, was genau es damit auf sich hat, welche Arten es gibt und welche Konsequenzen sie nach sich ziehen. Ich erläutere, wie sekundäre Überlebensmechanismen erkannt werden können und welche Faktoren dies erschweren. Abschließend gebe ich einen kurzen Ausblick darüber, welche Vorteile die Befreiung von Überlebensmechanismen hat.

Wenn ich in meinen Texten und auch Beiträgen Wörter wie Schutzstrategien, Überlebensstrategien, Bewältigungsstrategien oder nur Strategien benutze, handelt es sich bei allen um Synonyme für Überlebensmechanismen.

Arten von Überlebensmechanismen

Auf den Seiten Was ist Trauma und Sexuelles Trauma habe ich bereits erläutert, dass Dissoziation und Spaltung Notfallprogramme sind, die das Überleben in einer Traumasituation sichern. Bei diesen Sofortreaktionen handelt es sich um primäre Schutzstrategien.

Bleibt die Gefahr für uns bestehen, verharrt unser System in einem Zustand hoher Erregung. Dies ist vor allem der Fall, wenn wir sehr früh traumatisiert wurden, die Gefahr in dichter Folge auftritt oder jederzeit wieder auftreten kann, weil sie in der eigenen Familie passiert. In solchen Fällen kommen sekundäre Überlebensstrategien zum Einsatz. Diese ermöglichen es, langfristig in einem Zustand hoher Erregung zu überleben und sie schützen uns vor den Erinnerungen an die Traumasituation(en) sowie an die damit einhergehenden Gefühle.

Wachsen wir mit selbst traumatisierten Eltern oder anderen Bezugspersonen auf, kommen auch sekundäre Überlebensstrategien zum Tragen. Als Kinder suchen wir immer nach der Nähe unserer Bezugspersonen. Wenn sich diese Nähe nicht herstellen lässt, verbinden wir uns mit den zur Verfügung stehenden Gefühlen der Eltern, um darüber in Kontakt zu kommen. Wenn wir hier auf unverarbeitete Trauma Gefühle stoßen, geraten wir als Kinder in einen unlösbaren Konflikt, den wir nur durch innere Spaltung bewältigen können. Mit einem Teil nehmen wir die Traumaenergien der anderen in uns auf, wodurch Kontakt entsteht und mit dem anderen Teil laufen wir weg, um uns zu schützen. Es kommt zu einem Identitätskonflikt, bei dem wir im Laufe der Zeit nicht mehr unterscheiden können, welche Gefühle und Bewältigungsmechanismen die Eigenen sind und welche übernommen wurden. In diesem Zusammenhang sprechen wir auch von übernommenen Überlebensstrategien.

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Überlebensmechanismen erkennen

Je nachdem, wie früh wir traumatisiert wurden, begleiten uns unsere Schutz- und Bewältigungsstrategien schon so lange, das wir sie gar nicht als solche erkennen können. Wir interpretieren sie als unsere Eigenheiten, persönliche Gewohnheiten oder Charaktereigenschaften. Prinzipiell kann sich hinter jeder gewöhnlichen Tätigkeit eine Überlebensstrategie verbergen, wenn sie dazu dient, nicht mit den Traumagefühlen in Kontakt zu kommen.

Häufig handelt es sich dabei um Tätigkeiten, die sich den folgenden Absichten zuordnen lassen:

  • Vermeidung
  • Verleugnung
  • Ablenkung
  • Kontrolle
  • Kompensation
  • Festhalten an illusionären Gedanken und Fantasien

„Konkrete Beispiele können sein: Übermäßiges Arbeiten, Vermeidung von Beziehungen und intimem Kontakt, Selbstkontrolle, Kontrolle anderer, manipulatives Verhalten, Fernsehen/Computer/Spiele, Essen, Naschen, Hungern, Alkohol trinken, Zigaretten rauchen, Medikamente oder Drogen konsumieren, Konflikte vermeiden, ständig Konflikte anzetteln, Einkaufen, Kaffeekonsum, der ständige Versuch der Mutter/dem Vater zu gefallen oder das schwelgen in illusionären Gedanken und Fantasien („Ich hatte eine glückliche Kindheit“).“ Broughton, Vivian (2016).

Ob die jeweiligen Aktivitäten letztlich der Verdrängung von Trauma-Gefühlen dienen oder nicht, wird meist erst dann bewusst, wenn wir die eigenen Traumata eingestanden haben und den Entschluss gefasst haben, ganz zu werden. Erst ab diesem Moment sind wir in der Lage unsere Verhaltensweisen zu hinterfragen und uns der Möglichkeit zu öffnen, dass sie uns als Schutzmechanismen gedient haben.

Überleben mit Konsequenzen

Obwohl diese Überlebens- und Schutzstrategien unser Leben retten, solange wir noch Kinder sind, führen sie beim Heranwachsen sowie im Erwachsenenalter zu erheblichen Problemen. Sie bewirken eine Dysregulation im Nervensystem, anhaltende Dissoziation, Probleme mit dem Selbstwertgefühl und mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch dissoziative Amnesie, also die Verdrängung und Abspaltung jener Zeit, kann damit einhergehen. In so einem Fall sind keine bewussten Erinnerungen an die Traumasituation(en) abrufbar. 

In den meisten Fällen wendet sich der Mensch diesen Problemen erst oder nur zu, wenn ein gewisser Leidensdruck damit verbunden ist. Häufig sind es zwischenmenschliche Beziehungen, die uns mit den unverarbeiteten Gefühlen in Kontakt bringen.

„Wir reagieren dann reflexhaft auf einen speziellen Ton der Stimme, auf Wörter, Gesten und Körperhaltungen, auf Handlungen und Verhaltensweisen, auf Berührungen, Nähe oder räumliche Situationen, auf Gerüche oder Farben, auf Bilder, unbewusste Gedanken und Vorstellungen.“ Thimm, Mathias (2019).

Ohne den Bezug zur Vergangenheit herstellen zu können, reagieren wir auf etwas, was damals tatsächlich als gefährlich erlebt und nicht abgewehrt werden konnte. Wir reagieren dann mit denselben Schutzstrategien, die damals unser Überleben sichergestellt haben. Unser System erkennt nicht, dass wir im Hier und Jetzt gar nicht mehr in Gefahr, sondern handlungsfähig sind. Wir stecken mit unseren Reaktionsmustern gewissermaßen in der Vergangenheit fest.

Überlebensmechanismen

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Hindernisse beim Erkennen von Überlebensmechanismen

Es gibt durchaus Menschen, die sich ihren Traumatisierungen niemals zuwenden. Unser gesellschaftliches Umfeld bietet ihnen zahlreiche Möglichkeiten, die das Verdrängen und Tabuisieren von Traumata durch zahlreiche Kompensationsangebote fördern:  

  • Mediale Ablenkung (Fernsehen, Internet etc.)
  • Warenkonsum und Werbung
  • Sportfanatismus
  • Drogenkonsum
  • Esoterische und spirituelle Praktiken

Selbst unser Gesundheitssystem ist so institutionalisiert, dass sich auf körperliche Krankheitssymptome und die Verschreibung von Medikamenten fokussiert wird, statt den zu Grunde liegenden Traumatisierungen Aufmerksamkeit zu schenken.

Mein persönlicher Merksatz zum Erkennen von Überlebensmechanismen lautet wie folgt: 

Alle Gedanken und Handlungen, die Dich von Dir selbst und anderen Menschen entfernen, dienen Deinem Überleben. Leben fängt da an, wo Du aufhörst, die Gefühle zu vermeiden, die mit dem Kontakt mit Dir selbst und anderen einhergehen.

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Ist Sucht eine Folge von Trauma und kann man sich nachhaltig davon befreien? Diese und weitere Fragen ergründe ich in diesem Interview-Beitrag zusammen mit Prof. Dr. Franz Ruppert.

Ausblick

Führt ein innerer Leidensdruck einen Menschen zu seinen Traumagefühlen, braucht es Mut, um sich seine Traumatisierungen einzugestehen. Es kann sehr schmerzhaft und beschämend sein, wenn wir uns im nächsten Schritt unseren Bewältigungsmechanismen bewusst werden. 

Wir erkennen womöglich, dass wir Illusionen über unsere Eltern oder andere „geliebte“ Menschen verfallen sind und wir nahe Menschen für unser Überleben benutzt haben. Wenn wir jedoch bereit sind, unseren Traumatisierungen wieder zu begegnen und sie zu fühlen, dann brauchen wir keine Strategien oder Illusionen mehr. 

Überlebensmechanismen Grafik - Ganzwerdung

Durch das Aufgeben unserer Bewältigungsmechanismen wird Lebensenergie in uns freigesetzt, die uns womöglich erstmalig in Kontakt mit unseren angelegten Fähigkeiten und Potenzialen bringt. Wir können dann die Eigenschaften konstruktiv nutzen, die wir bisher strategisch einsetzen mussten, um zu überleben.
Wenn wir also den Mut aufbringen, der Realität unserer Vergangenheit ins Auge zu blicken, können wir aufhören zu überleben und endlich anfangen zu leben. 

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Quellenverweise: 

Broughton, Vivian (2016): Zurück in mein Ich: Das kleine Handbuch zur Traumaheilung mit einem Nachwort von Franz Ruppert, 4. Edition, München

Heller, Laurence (2013): Entwicklungstrauma heilen: Alte Überlebensstrategien lösen – Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken – Das Neuroaffektive Beziehungsmodell zur Traumaheilung NARM, 7. Edition, München

Porges, Stephen (2010): Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. 4. Auflg., Lichtenau

Ruppert, Franz (2017): Symbiose und Autonomie: Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen. 5. Aufl., Stuttgart

Thimm, Mathias (2019): Der Poyvagalkreis. Abgerufen am 06.05.21, von http://familiebeziehungtrauma.blogspot.com/2019/08/der-polyvagal-kreis.html

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