Traumawissen

Borderline-Persönlichkeit - mehr, als eine Diagnose

Borderline-Persönlichkeit – Du bist mehr als eine Diagnose!

An was denkst Du, wenn Du den Begriff Borderline-Persönlichkeit hörst? Vielleicht geht es Dir ähnlich wie mir und Du reduzierst ihn auch auf selbstzerstörerisches Verhalten. Vor einiger Zeit habe ich Dario Lombardi über Instagram kennengelernt, der sich in seinen Beiträgen diesem Thema zuwendet, weil er im Alter von 23 Jahren selbst die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung bekommen hat. Im Interview verrät er uns unter anderem, welchen Herausforderungen er durch diese Diagnose begegnet ist, warum er es für notwendig hält, den Begriff zu entstigmatisieren und welche Therapieformen ihm bisher geholfen haben. Egal, ob Du selbst betroffen bist oder nicht. Es lohnt sich, dieses Interview zu lesen!

Was ist eine Borderline-Persönlichkeit?

Lieber Dario, magst Du kurz erklären, was klassischerweise unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung verstanden wird?

Es gibt verschiedene Klassifikationen für psychische Störungen die das Störungsbild unterschiedlich beschreiben. In dem aktuellen Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (DSM-5) handelt es sich bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) um ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität.

International gilt das ICD-10, aber ich entscheide mich für das amerikanische Klassifikationssystem DSM-5, weil es in meiner Wahrnehmung die Kriterien der BPS präziser widerspiegelt. Laut diesem Klassifikationssystem müssen fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein, um von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auszugehen:

  1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.
  2. Ein Muster instabiler und intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
  3. Störung der Identität: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.
  4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen, z.  Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Essanfälle“. 
  5. Wiederholtes suizidales Verhalten, Suizidandeutungen oder -Drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.
  6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung, z.  hochgradige episodische Misslaunigkeit, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern.
  7. Chronische Gefühle von Leere.
  8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren, z.  häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen.
  9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative  Symptome.

Wie würdest Du mit eigenen Worten die klassischen Merkmale der BPS beschreiben?

Zu den klassischen Symptomen zählen starke Emotionen, die nur schwer regulierbar sind, häufige Stimmungsschwankungen, Schwarz-weiß-Denken, destruktives/selbstschädigendes Verhalten, massive Ängste vor dem Verlassenwerden mit einer gleichzeitigen Angst vor dem Verschlungenwerden (Selbstverlust), innere Leere und Dissoziation.

Betroffene leiden unter einer hohen inneren Anspannung, die gerade am Anfang des eigenen Genesungswegs häufig durch dysfunktionales Verhalten abgebaut wird. Dazu zählen zum Beispiel Drogenkonsum oder selbstverletzendes Verhalten.

Das Gefühl, anders als alle anderen zu sein und sich auch in Gruppen einsam und nicht zugehörig zu fühlen, spielt auch eine Rolle. Menschen mit einer BPS haben eine wahnsinnige Sehnsucht nach einer emotional sättigenden Bindung und seelischer Verschmelzung (Symbiose) und gleichzeitig halten sie diese Nähe und Intensität nicht lange aus (Nähe–Distanz Problematik). 

Das Alleinsein mit sich selbst erscheint Betroffenen als existenziell bedrohlich. Die Instabilität des eigenen Selbstbildes zeigt sich darin, dass sie häufig nicht wissen, wer sie eigentlich wirklich sind. Es bestehen Unsicherheiten bei Themen wie den eigenen Zielen, Werten, dem Berufswunsch oder der sexuellen Orientierung.

Wenn Du Dich in den genannten Merkmalen wiederfindest, muss es nicht bedeuten, dass Du automatisch unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidest. Auch andere Ursachen können zu derartigen Ausprägungen führen. Zudem ist es an dieser Stelle wichtig, Dir vor Augen zu führen, dass es für alles Hilfe gibt und Du nicht ein Leben lang darunter leiden musst.

Wie kann man die BPS von anderen Diagnosen z.B. Suchtkrankeiten, die ja auch selbstzerstörerisch sind, abgrenzen?

Meines Wissensstandes nach sind Suchterkrankungen immer eine Bewältigungs- und Kompensationsstrategie für eine innere seelische Not.

Eine klare Abgrenzung der Diagnosen kann in meinen Augen nicht erfolgen, weil das Suchtverhalten zu den Merkmalen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zählen kann. Menschen mit einer BPS haben häufig eine gewisse Neigung zu Suchtverhalten, um ihre Bedürftigkeit nach emotionaler Nähe zu kompensieren. Besonders dann, wenn die gewünschte Nähe durch zwischenmenschliche Beziehungen nicht erreichbar ist.

Umgang mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung

Willst Du mit den Leser/innen teilen, wann und wie es zu Deiner Diagnose gekommen und wie es Dir damit ergangen ist?

Ja, gerne. Ich befinde mich bereits seit 2011 in therapeutischer Behandlung, weil ich unter Abhängigkeit, Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen, Schwierigkeiten in der Ausbildung, Wutausbrüchen, Ängsten und depressiven Symptomen gelitten habe. Im Jahr 2015 entschied ich mich zu einem Klinikaufenthalt in der Parlandklinik in Bad Wildungen, um mich zu stabilisieren und meine anhaltenden, belastenden Symptome abklären zu lassen. Dort bekam ich relativ schnell die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Im ersten Moment war mir das ziemlich gleichgültig, weil ich in den Jahren davor schon alle möglichen Diagnosen bekommen hatte. 

Als ich mich in Internetforen zu diesem Störungsbild informierte, wurde ich dann aber sehr instabil. In den Berichten von Angehörigen oder Menschen, die gefährliches Halbwissen verbreiten, fand ich nur negative Beschreibungen zu dieser Diagnose. Es gab Warnungen davor, mit sogenannten „Borderlinern“ in Beziehung zu treten, weil sie anderen emotional schaden würden. Es wurde oftmals verallgemeinert mit Manipulation, emotionaler und/oder körperlicher Gewalt, Untreue, Promiskuität und Übergriffigkeit. Ich war schockiert darüber, dass Borderline fast ausschließlich mit einem radikalen negativen Bild assoziiert wurde.

Ich fing an zu glauben, dass alles in mir und meiner gesamten Persönlichkeit falsch und nicht erwünscht sei. Ich dachte unheilbar krank zu sein und dass für mich kein lebenswertes Leben mehr möglich ist. Das führte bei mir zu großer Hoffnungslosigkeit und am Ende zu einer Krise mit Selbstabwertung und Selbsthass. 

Borderline-Persönlichkeit - Ganzwerdung

Auch in Gesprächen mit Fachärzten habe ich erlebt, dass ich allein durch die Diagnose anders und negativ wahrgenommen wurde. Es gab Therapeut/innen, die mir gesagt haben, dass sie keine “Borderliner” aufnehmen wollen.
Sowohl im persönlichen Kontakt als auch in Medienberichten oder Youtube-Videos wurde ich mit Sätzen wie diesen konfrontiert: „Borderline hat man nicht, Borderline ist man.“ Oder auch „Borderline hat man ein Leben lang.“ Mir schien es so zu sein, dass von diesen Personen gar nicht mehr der Mensch hinter der Diagnose gesehen wird, der selbstverständlich auch positive Eigenschaften hat. Es hat lange gedauert, bis ich mir neues Wissen angeeignet habe, durch das ich mich neu orientieren und von solchen Stigmatisierungen abgrenzen konnte.

Hilfe für Betroffene einer Borderline-Persönlichkeitsdiagnose

Wie können Betroffene von Borderline Hilfe finden? Welche Therapiemethoden haben Dir besonders geholfen und welche Schritte würdest Du empfehlen?

Ich denke, man kann keine pauschalen Empfehlungen aussprechen. Betroffene mit Borderline haben jedoch in der Regel massive negative Beziehungserfahrungen gemacht, wodurch sie negative Schemata entwickelt haben. Wie zum Beispiel: „In Beziehungen werde ich immer verletzt und deshalb lohnen sie sich nicht“ oder „So wie ich wirklich bin, kann mich niemand lieben“. Ich selbst bin deshalb ein großer Fan der Schematherapie. Diese wurde von Jeffrey E. Young entwickelt und gehört neben der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) und der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) zur dritten Welle der Verhaltenstherapie, also um eine weiterentwickelte Form der klassischen Verhaltenstherapie.

In der Schematherapie spielt die Beziehungsebene eine entscheidende Rolle. Die Bedürfnisse der Betroffenen, die in der Kindheit frustriert wurden, erfahren in der Therapiebeziehung mithilfe des sogenannten “limited reparenting” häufig zum ersten Mal Wahrnehmung, Anerkennung und eine positive Antwort. Dadurch sind korrigierende Beziehungserfahrungen, also die Veränderung negativer Beziehungsschemata möglich.

Borderline-Persönlichkeit - Therapie
Wenn man diese Form der Zuwendung und Akzeptanz nicht gewohnt ist, kann das am Anfang sehr herausfordernd und triggernd sein. Dranbleiben lohnt sich aber. Für mich kam hier zum ersten Mal in meinem Leben eine gute zwischenmenschliche Beziehung zustande, in der ich mich akzeptiert fühlte, so wie ich bin.

Durch die Arbeit mit den eigenen Persönlichkeitsanteilen, die in der Schematherapie Modi genannt werden, entwickelt man ein besseres Verständnis für sich selbst und schafft es, sich mit einer wohlwollenden Haltung zu begegnen. Auf lange Sicht schafft man es so sich irgendwann selbst eine gute Mutter und/oder ein guter Vater zu sein (Selbstbeelterung). Seine bedürftigen inneren Kind-Anteile auf diese Weise nachnähren zu können, ist ein wichtiger Schritt auf dem eigenen Genesungsweg. Dadurch gelingt es einem, die starke Abhängigkeit von externen Faktoren (z.B. anderen Menschen) zu verringern.

Dario`s Buchempfehlungen zur Schematherapie

Seit ein paar Jahren arbeite ich auch mit körperorientierten Ansätzen wie dem Somatic Experiencing (SE) und dem Neuroaffektiven Beziehungsmodell (NARM). Insbesondere Übungen zur Selbstregulation des Nervensystems, zur Stärkung der Selbstwahrnehmung und zur Steigerung des Körpergewahrseins helfen mir sehr. Auch das Erarbeiten und Setzen von Grenzen sowie das Schaffen innerer und äußerer Ressourcen ist erlernbar.

Der erste Schritt ist auf jeden Fall die Bereitschaft, sich selbst kennen und reflektieren zu lernen. Auch wenn einem in der Vergangenheit eventuell Schlimmes widerfahren ist, trägt man jetzt trotz allem selbst die Verantwortung für das eigene Leben. Diese Verantwortung zu übernehmen, bedeutet natürlich auch Arbeit.

Warum gehst Du seit einiger Zeit mit dem Thema in die Öffentlichkeit? Was ist Dein Herzensanliegen dabei?

Ich war in der Vergangenheit einige Zeit als Co-Moderator einer Borderline-Selbsthilfegruppe tätig und wollte mit meinen Instagram-Beiträgen Aufmerksamkeit auf unsere Gruppe lenken. Zudem geht es mir darum, zu einem differenzierteren Bewusstsein anzuregen. Ich möchte zur Entstigmatisierung des Störungsbildes BPS beitragen.

Ebenso möchte ich dazu anzuregen, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und die Mechanismen zu verstehen, die hinter den belastenden Gefühlen und Verhaltensweisen stehen. Ich will dazu appellieren, dass die Bezeichnung “Borderliner” durch “Mensch” ersetzt wird – ein Mensch, der sich seine Geschichte nicht ausgesucht hat und mit der Lebensaufgabe konfrontiert ist, seine Gefühle und Gedanken neu zu definieren, um ein selbsterfüllendes Leben führen zu können, das jeder von uns verdient hat.

Gibt es noch etwas, den Du meinen Leser/innen und/oder Betroffenen gerne mit auf den Weg geben möchtest?

Ja, Du bist MEHR als deine Diagnose(n)! Du bist MEHR als deine Symptome! Du bist MEHR als deine Emotionen! Du bist MEHR als deine Verletzungen und Traumata! Du bist MEHR als deine Unzulänglichkeiten! Du bist MEHR als deine Geschichte! Du bist MEHR als das, was andere über dich reden und denken! Du bist MEHR als du in dir siehst! Alles Liebe Dario

Borderliner-Persönlichkeit - Du bist genug

Danke lieber Dario für dieses aufschlussreiche Interview und Deinen Mut, Dich mit Deiner persönlichen Geschichte zu zeigen.

Wie einleitend bereits erwähnt, habe auch ich den Begriff Borderline-Persönlichkeit immer ganz pauschal mit selbstzerstörerischen Verhalten gleichgesetzt.  Durch Deine Beiträge auf Instagram wurde mir klar, wie komplex dieses Themengebiet ist und dass ich selbst noch vor einigen Jahren wahrscheinlich diesem Störungsbild entsprochen hätte. Demnach sehe ich da auch eine Verbindung zum  Entwicklungs- und Bindungstrauma. In diesem Zusammenhang finde ich auch Deine Erläuterungen zur Schematherapie wertvoll, weil sie mir und vielleicht auch anderen noch eine weitere Möglichkeit für den eigenen Heilungsweg aufzeigen.

Für Deinen weiteren Weg der Heilung sowie für Deine berufliche Entwicklung wünsche ich Dir alles Liebe. Ich bin sicher, dass Du noch vielen Menschen helfen wirst.,

Vagusnerv stimulieren

Der Vagusnerv und die Bedeutung der Polyvagal-Theorie für die Traumaheilung

Die Polyvagal-Theorie ist eine von dem US-amerikanischen Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen W. Porges entwickelte Theorie, die sich mit dem Vagusnerv und dessen Einfluss auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen beschäftigt. Sie schenkt uns eine neue Sicht auf das autonome Nervensystem (ANS) und seinen Einfluss auf die Traumaheilung. In diesem Beitrag gebe ich Dir einen Überblick über die Funktionsweise des ANS und die Polyvagal Theorie. Du erfährst, warum ein Gefühl von Sicherheit für Deine Heilung maßgeblich ist und bekommst Übungen an die Hand, mit denen Du Deinen Vagusnerv stimulieren kannst, um dieses Gefühl zu stärken. Zu guter Letzt darfst Du Dich auch in diesem Beitrag über Buchempfehlungen freuen, um Dein Wissen zu diesem Thema noch mehr zu vertiefen. 

Das autonome Nervensystem (ANS)

Das autonome Nervensystem (ANS) ist Teil des komplexen Nervensystems des Menschen, das den ganzen Körper durchzieht. Ohne unseren Einfluss steuert und reguliert es lebenswichtige Körperfunktionen wie etwa Stoffwechsel, Blutkreislauf, Herzschlag, Verdauung und Wärmehaushalt.

Das Hauptziel aller Aktivitäten unseres ANS ist es, unser Überleben zu sichern. Bisher ist man davon ausgegangen, dass es sich zu diesem Zweck zweier Systeme bedient: dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem oder anders ausgedrückt dem Sympathikus und dem Parasympathikus.

Der Sympathikus aktiviert den Körper in Situationen, die eine erhöhte Aufmerksamkeit oder eine schnelle Reaktion erfordern, wie beispielsweise Stresssituationen oder bei körperlicher Anstrengung. Der Parasympathikus wirkt im Gegensatz dazu beruhigend und fördert Regenerations- und Erholungsprozesse im Körper, wodurch Heilung und ein Zustand von Gesundheit möglich werden.

Im Normalfall, so die Annahme, sorgt die autonome Regulation des ANS dafür, dass wir situationsbedingt zwischen diesen beiden Zuständen hin und her pendeln. Der Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen W. Porges fand durch die Erforschung des Vagusnervs als wesentlichen Teil des Parasympathikus jedoch heraus, dass diese Zweiteilung nicht dem wahren Aufbau unseres Nervensystems entspricht.

Der Vagusnerv in der Polyvagal-Theorie

Der Vagusnerv spielt als längster Nerv im Körper eine entscheidende Rolle. Er verläuft vom Hirnstamm bis zum Bauchraum und beeinflusst eine Vielzahl von Organen und Körperfunktionen. In über 40 Jahren Forschung erkannte Porges, dass es sich beim Vagusnerv nicht um einen einzelnen Nerv handelt, sondern das dieser wiederum in zwei Stränge aufgeteilt ist, die anatomisch in unterschiedlichen Körperregionen verlaufen und dadurch verschiedene Aufgaben erfüllen.

Der dorsale (hintere) Vagus beeinflusst überwiegend die inneren Organe, die unterhalb des Zwerchfells liegen: Magen, Darm, Leber und Nieren. Er ist mit dem sympathischen Nervensystem verbunden, das wie bereits erwähnt für die Mobilisierung von Energie zuständig.

Der ventrale (vordere) Vagus beeinflusst hingegen die Bereiche oberhalb des Zwerchfells, vor allem die, die wir für soziale Aktivitäten benötigen: Herz, Kehlkopf, Rachen, Mund, Gesicht und Mittelohr. Er ist für die Aktivierung des parasympathischen Nervensystems verantwortlich und spielt eine entscheidende Rolle in sozialen Interaktionen und der Verbindung zu anderen Menschen. So beeinflusst er unsere Fähigkeit, mit anderen in Beziehung zu treten, soziale Signale wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren.

In der Polyvagaltheorie geht Porges also davon aus, dass unser ANS aus drei Systemen besteht, die je nach Situation autonom aktiviert werden und unser Verhalten steuern. Die Theorie besagt außerdem, dass unser ANS unsere Umgebung permanent daraufhin untersucht, ob sie sicher, gefährlich oder sogar lebensbedrohlich ist. Dazu verwendet es Signale, die sowohl aus der Umgebung als auch aus den inneren Organen an das ANS übermittelt werden. Dieser Vorgang, Neurozeption genannt, läuft ebenfalls weitgehend unbewusst ab.

Verhaltensstrategien der drei Nervensysteme

Im Folgenden nenne ich die drei Nervensysteme und die entsprechenden Verhaltensstrategien, die je nach Einschätzung einer Situation unabhängig von unserem bewussten Verstand (also völlig autonom) aktiviert werden: 

1. Sozialer Kontakt (Ventraler Vagus)

Wird eine Situation als sicher eingeschätzt, kommt es zu einer Aktivierung des ventralen Vagus. Unsere Herzfrequenz sinkt, die Atmung wird langsamer  und es entsteht ein Zustand der Entspannung und Ruhe. Dieser Zustand ermöglicht es, uns sicher und verbunden zu fühlen und unterstützt die Fähigkeit zur Kommunikation und Empathie. In diesem Zustand und tatsächlich nur in diesem Zustand ist soziale Interaktion und Bindung möglich.

Vagusnerv - Soziale Interaktion

2. Mobilisierung (Sympathikus)

Kommt unser Nervensystem zu der Einschätzung, dass die Situation unsicher ist, wird der Sympathikus mit Kampf-Flucht-Mechanismen aktiviert. Unsere Herzfrequenz erhöht sich, die Atmung beschleunigt sich, die Pupillen werden weit, die Verdauung wird gehemmt und die Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin wird angeregt.

3. Immobilisation (Dorsaler Vagus)

Wird eine Situation sogar als lebensbedrohlich eingeschätzt, weil weder Kampf noch Flucht möglich erscheinen, kommt es zu einer Aktivierung des dorsalen Vagus. Dabei wird unsere Atmung flach, die Herzfrequenz sinkt auf ein Minimum, die Muskelspannung wird äußert gering und die Magen-Darm-Tätigkeit kommt fast zum Erliegen. Es kommt sozusagen zu einem Notfallprogramm, indem unser System in den „Shutdown“ geht. Wir kennen diesen Zustand auch als Totstellreflex, Erstarrung oder Freeze (Einfrieren).

Um unser Überleben zu sichern, werden diese drei Verhaltensstrategien in Stress- oder Bedrohungssituationen der Reihenfolge nach aktiviert. Das heißt, wenn wir uns bedroht fühlen, versuchen wir die Gefahr zunächst durch Interaktion und Kommunikation zu bannen. Gelingt dies nicht oder erscheint der Versuch von vornherein aussichtslos, schaltet unser System um auf „Kampf oder Flucht“. Ist auch dies nicht möglich, bleibt nur noch der Shutdown.

Diese Erkenntnisse schenken einen ganz neuen Zugang zum menschlichen Kontaktverhalten. Wir können daraus ableiten, dass das menschliche Nervensystem grundsätzlich auf Kontakt und Kommunikation ausgerichtet ist. Außerdem wird deutlich, dass Kontakt und Nähe ausschließlich bei einem aktivierten ventralen Vagus möglich sind, was insbesondere in Bezug auf die Heilung von Trauma von Relevanz ist.

Auswirkung von Trauma auf den Vagusnerv und das eigene Leben

Von Trauma ist die Rede, wenn ein Mensch bedrohlichen und überwältigenden Erfahrungen ausgesetzt ist, welche so viel Stress auslösen, dass er diesen mit seinen klassischen Bewältigungsmechanismen nicht mehr begegnen kann. Die Folge ist eine Dysregulation des ANS, einschließlich des Vagusnervs, bei der der Sympathikus überaktiv und der Parasympathikus (ventraler Vagus), unteraktiv ist.

Traumafolge - Dysregulation Vagusnerv

Das heißt, solange ein Trauma nicht verarbeitet werden konnte, kommt das ANS dauerhaft zu der Einschätzung, dass unsere Lebenssituation unsicher oder gar lebensgefährlich ist, obwohl das vielleicht rein objektiv betrachtet gar nicht der Fall ist.

Folgendes Beispiel soll das Ganze veranschaulichen:

Nehmen wir an, wir wurden in unserer Kindheit durch Gewalt seitens des eigenen Vaters traumatisiert. Als Kind waren wir den brutalen Übergriffen vollkommen ausgeliefert. Weder soziale Interaktion noch Flucht-Kampf-Mechanismen konnten unser Überleben sichern. Um zu überleben, mussten wir uns totstellen, womit nicht nur die Abspaltung körperlicher Empfindungen einherging, sondern auch eine psychische Spaltung.

Wir gehen also auch im Erwachsenenalter von einer Bedrohung in unserem Leben aus. Vielleicht ganz allgemein oder ausgelöst durch den Kontakt zu Männern, die Parallelen zum Vater aufweisen. Sogar das bloße In-Beziehung-Sein kann an die schlechten Erfahrungen aus dem Familienumfeld erinnern und die beschriebenen Mechanismen auslösen. 

Zu den klassischen Symptomen eines Lebens in solchen Überlebensmodi zählen eine erhöhte Erregbarkeit, Angstzustände, depressive Verstimmungen, Schlafstörungen, Schwierigkeiten bei der Regulation von Emotionen sowie Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen (Angst vor Nähe). Im Prinzip stehen Menschen mit unverarbeiteten Traumata also entweder ständig unter Strom, weil sie im Flucht-Kampf-Modus sind oder sie sind aus dem Shutdown-Modus heraus ständig erschöpft.

Damit unser ANS aufhört auf Gefahren zu reagieren, die in Wahrheit nicht mehr existent sind, müssen wir uns der Traumaheilung zuwenden, wobei uns die Polyvagal Theorie unterstützen kann. 

Die Bedeutung der Polyvagal-Theorie für die Traumaheilung

Die Polyvagal Theorie betont die Bedeutung eines sicheren und unterstützenden Umfelds für die Regulation des autonomen Nervensystems und die Förderung gesunder sozialer Beziehungen. Denn nur, wenn unser ANS zur Einschätzung kommt, dass unsere Umgebung sicher ist, kann Heilung geschehen. Nicht nur, weil unser ANS unser Sozialverhalten beeinflusst, sondern auch, weil es unsere Fähigkeit zum Zuhören und verarbeiten von Informationen steuert.

Je größer die subjektiv empfundene Gefahr eingeschätzt wird, desto weniger Gehirnbereiche stehen uns zur Verfügung. Wird der ventrale Vagus in seiner Aktivität reduziert, sind weite Bereiche unseres kognitiven Verstandes nicht mehr zugänglich. Und wenn wir in einen dorsal-vagalen Zustand verfallen, geht es wortwörtlich nur noch ums blanke Überleben.

Wie wir uns im Alltag verhalten oder zu welchen Verhaltensweisen wir fähig sind, hängt demnach nicht nur von unserem „Wollen“ ab, sondern oftmals auch vom „Können“. Das subjektive Empfinden von Sicherheit ist demnach einer der wichtigsten Punkte auf dem Weg der Ganzwerdung

Das Gefühl von Sicherheit wiederfinden

Vagusnerv stärken für Gefühl von Sicherheit

Um ein Gefühl von Sicherheit in Deinem Leben zu stärken, gilt es zum einen ein äußeres Umfeld zu schaffen, von dem keine Gefahr ausgeht. In diesem Beitrag soll es jedoch um den Vagusnerv gehen, durch dessen Stimulation Du ebenfalls zu Deinem Gefühl von Sicherheit zurückfinden kannst. 

Durch die Stärkung des Vagusnervs förderst Du nämlich die Regulationsfähigkeit Deines Nervensystems und kannst gesündere Verbindungen zu anderen Menschen aufbauen, was sich wiederum vorteilhaft auf Deine Traumaheilung auswirkt.

Darüber hinaus kann die Vagusnerv-Stimulation dazu beitragen, Deine Neuroplastizität zu fördern. Neuroplastizität bezieht sich auf die Fähigkeit Deines Gehirns, sich im Laufe Deines Lebens zu verändern und anzupassen. Es ist ein grundlegender Mechanismus, durch den Dein Gehirn auf neue Erfahrungen und Umweltreize reagiert. Einfach ausgedrückt kann Dein Gehirn also lernen, dass im Hier und Jetzt keine Gefahr mehr besteht.

Den Vagusnerv stärken durch Stimulation

Es gibt verschiedene Ansätze zur Stärkung des Vagusnervs, darunter nicht-invasive Techniken wie Atemübungen, Yoga und Meditation, sowie invasive Verfahren durch implantierte Geräte. Im Fokus dieses Beitrags stehen die nicht invasiven Techniken. Jedoch möchte ich der Vollständigkeit halber nur kurz auf invasive Techniken eingehen.

Invasive Techniken zur Vagusnerv-Stimulation

Ein invasiver Ansatz ist die sogenannte Vagusnerv-Stimulation (VNS), bei der ein Gerät implantiert wird, das schwache elektrische Impulse an den Vagusnerv sendet. Diese Impulse aktivieren den dorsalen Vagus und fördern eine verbesserte Regulation und Entspannung. Studien zu Folge soll diese Technik bei der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und anderen traumabezogenen Symptomen eine gute Wirkung gezeigt haben.

Nicht invasive-Techniken zur Vagusnervstimulation

Doch auch ohne die Implantation eines Geräts können wir unseren Vagusnerv stimulieren. Es gibt eine Reihe einfacher Übungen, die bei regelmäßiger Anwendung helfen können. Ich persönlich schätze den letzten Punkt „Soziale Interaktion“ als am erfolgversprechendsten ein, weil hier der Ursprung von Entwicklungs- und Bindungstrauma liegt. In diesem Zusammenhang empfehle ich das Ehrliche Mitteilen nach Gopal (EM) und gehe kurz darauf ein. Vorab erläutere ich aber kurz einige andere, heilsame und leicht anzuwendenden Alltagsübungen.

1. Langsames, tiefes Atmen
Mit einem langsamen, tiefen Atem kannst Du Deinen Vagusnerv stimulieren. Amte dazu langsam und tief in Deinen Bauch ein und aus. Versuche länger auszuatmen, als Du einatmest. Wenn Du magst, kannst Du dabei Sekunden zählen (4 Sekunden einatmen, 8 Sekunden ausatmen). Achte darauf, dass sich Deine Bauchdecke hebt und senkt und Du wirklich gut in den Bauch atmest.

2. Laut Tönen oder Summen
Beim bewussten Summen entstehen Schwingungen und es kommen Muskeln im Rachen und Gaumen zum Einsatz, die mit dem Vagusnerv verbunden sind und ihn stärken können. Du kannst zum Beispiel im Wechsel die Buchstaben A-U-M laut tönen oder summen.

3. Nach rechts und links schauen
Da unsere Augen mit dem Vagusnerv verbunden sind, wirkt sich das starke nach rechts und links schauen positiv auf ihn aus. Wenn Du dabei Deinen Kopf jeweils zur rechten oder linken Schulter neigst, verstärkt es die Wirkung noch.

4. Zunge herausstrecken
Diese Übung wirkt direkt beruhigend auf den Vagusnerv. Öffne dazu Deinen Mund und strecke Deine Zunge so weit Du kannst nach außen unten. Rolle sie dann ein, sodass Deine Zungenspitze fast den Gaumen berührt. Wiederhole das 10-20 Mal.

5. Akupressur und Massage
Ein sanfter Druck auf bestimmte Punkte am Hals oder den Bereich hinter dem Ohrläppchen kann den Vagusnerv stimulieren. Auch die Massage der Ohren ist empfehlenswert. Forme dazu mit Deinem Zeige und Mittelfinger ein V. Setze dann den Zeigefinger hinter dem Ohr und den Mittelfinger vor Deinem Ohr an und streiche hier mit sanftem Druck nach oben und unten.

6. Tiefe, entspannende Klänge
Das Hören von entspannenden, tiefen Klängen, binauralen Beats oder Naturgeräuschen kann ebenfalls zur Stimulation des Vagusnervs beitragen. Auf Youtube findest Du eine große Auswahl solcher Klänge.

7. Achtsamkeitsübungen und Meditation

Meditation zur Vagusnervstärkung
Entspannungsfördernde Praktiken wie Yoga und Meditation können ebenfalls zur Vagusnerv-Stimulation beitragen. Bestimmte Yoga-Stellungen wie der Fisch oder die Brücke sollen besonders wirksam sein.

8. Soziale Interaktionen
Traumatisierten Menschen fällt Kontakt zu anderen häufig schwer, weil der Ursprung der Entwicklungstraumata in der Verbindung zu anderen Menschen liegt. Positive soziale Interaktionen tragen jedoch in großem Maße zur Stimulation des Vagusnervs bei und fördern ein Gefühl von Sicherheit. Deshalb liegt hier meiner Einschätzung nach der größte Erfolg, wenn die Interaktion in einem geeigneten und sicheren Rahmen stattfindet. In diesem Zusammenhang möchte ich Dir kurz das Ehrliche Mitteilen (EM) nach Gopal vorstellen, wozu auch bald ein eigener Blog-Beitrag folgen wird.

Ehrliches Mitteilen (EM) nach Gopal:

Der Traumatherapeut Gopal Norbert Klein, der sich intensiv mit der Polyvagal Theorie befasst hat, hat das Ehrliche Mitteilen (EM) ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um eine Art Selbsthilfegruppe, in der Menschen bewusst zusammenkommen, um ihre Nervensysteme zu regulieren. Dies geschieht, indem man sich in einfachen Sätzen auf drei Ebenen mitteilt: Was spüre ich (Körperempfindungen), was fühle ich (Gefühle/Emotionen), was denkt mein Kopf (Gedanken).

Was zunächst sehr einfach klingt, hat es für unser Nervensystem ganz schön in sich. Denn im Alltag teilen wir uns für gewöhnlich nicht mit, welche Zustände wir im Kontakt erfahren (z.B.: Unsicherheit, Angst vor Ablehnung, Enge im Bauch etc.). Bei diesen Gruppen ist dafür aber ein sichere Raum gegeben, weil alle mit demselben Ziel zusammenkommen und jeder Teilnehmer achtsam zuhört, ohne zu unterbrechen oder zu kommentieren. Durch dieses Vorgehen lernt unser Nervensystem, dass zwischenmenschlicher Kontakt sicher ist und keine Gefahr mehr bedeutet. Nähere Informationen zum EM und eine Übersicht der lokalen Gruppen findest Du auf folgender Seite: www.traumaheilung.de

Wenn Du die Übungen eine Zeitlang ausprobieren möchtest, beachte bitte, dass sie individuell unterschiedlich wirken können. Grundsätzlich solltest Du Dich im Anschluss jedoch wohl, ruhig und entspannt  fühlen. 
Wenn Du bei bestimmten Übungen gesundheitliche Bedenken hast, weil Du an einer Erkrankung leidest, konsultiere bitte vorab einen Arzt oder Therapeuten. Berücksichtige bitte auch, dass die Vagusnerv-Stimulation allein keine Therapie ersetzt, sondern vielmehr als Ergänzung zu anderen psychotherapeutischen Ansätzen betrachtet werden kann.

Buchempfehlungen

Ich hoffe, dass Dir der Beitrag geholfen hat zu erkennen, dass die Stimulation Deines Vagnusnervs eine unterstützende Rolle bei der Regulation Deines autonomen Nervensystems spielt und dadurch positive Auswirkungen auf die emotionale Verarbeitung von Trauma hat. 

Wenn Dich das Thema neugierig gemacht hat und Du mehr darüber erfahren möchtest, empfehle ich Dir  zum Abschluss noch folgende drei Bücher:

Sucht und Trauma

Ist Sucht eine Folge von Trauma und kann man sich nachhaltig davon befreien?

Sucht und Trauma – beides Themen, die mich betreffen und beschäftigen. Viele Jahre meines Lebens war ich süchtig nach Rausch- und Betäubungsmitteln. Ich kenne die inneren Leidenszustände, die damit einhergehen: Der verzweifelte Kampf davon loszukommen sowie Gefühle von Wertlosigkeit und Scham, weil man es trotz fester Vorsätze nicht schafft.

Vor inzwischen genau 10 Jahren hatte ich großes Glück, weil ich eine Therapeutin fand, die trotz meiner Sucht mit mir zusammenarbeiten wollte und mir half, davon loszukommen. Leider ist das jedoch keine Selbstverständlichkeit, denn in der klassischen Psychologie und Psychotherapie werden Sucht und Trauma meist immer noch getrennt voneinander betrachtet. Lassen sich die hohen Rückfallquoten bei Menschen mit Suchtverhalten darauf zurückführen? Ist Sucht etwas, womit man ein Leben lang “kämpfen” muss oder gibt es Möglichkeiten, sich nachhaltig davon zu befreien?

Ich freue mich sehr, dass ich Prof. Dr. Franz Ruppert zu all meinen Fragen rund um dieses Thema interviewen durfte. Er ist als Autor zahlreicher Bücher und durch die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) bekannt, mit der ich in den letzten fünf Jahren große Fortschritte auf meinem Weg der Ganzwerdung gemacht habe.

Allgemeines zu Sucht

Lieber Herr Ruppert, begegnen Ihnen in Ihrer Arbeit mit traumatisierten Menschen häufig Suchtthematiken?

Franz Ruppert: Ja, es kommt ab und zu vor, dass ich mit Menschen arbeite, die unter Sucht oder süchtigen Verhaltensweisen leiden. Einige der zahlreichen Fallbeispiele in meinen Büchern, in denen Menschen das Anliegen äußern, von Zigaretten-, Alkohol- oder Spielsucht loszukommen, spiegeln das wieder.

Welche Formen von Sucht sind Ihnen bekannt und was kennzeichnet diese Süchte?

Franz Ruppert: Sucht gibt es meiner Meinung nach in zweierlei Formen:

  • Als ungehemmten Konsum von Getränken, Nahrungsmitteln, Tabak, Medikamenten oder Chemikalien und
  • Als exzessive Verhaltensweisen wie Arbeiten, Spielen, sexuelle Betätigung, Sport treiben, Fernsehen, Einkaufen und anderes mehr.
Suchtformen - Ganzwerdung

Gekennzeichnet werden süchtige Verhaltensweisen meiner Meinung nach durch:
  • Zwanghaftigkeit,
  • Toleranzentwicklung,
  • Dosissteigerung,
  • Entzugserscheinungen,
  • Weitermachen, trotz negativer Konsequenzen,
  • Verschleierung der Realität des Süchtigseins,
  • Völligen Kontrollverlust.

In all diesen Fällen verhalten sich Menschen konträr zu ihren eigenen existentiellen Interessen. Sie achten nicht darauf, gut und ausreichend zu essen, saubere Luft zu atmen, ihren Körper vor Schädigungen zu schützen, Daseinsfreude zu empfinden und ihr Leben wirklich zu genießen. Statt aus vollem Herzen zu leben und zu lieben, über-leben sie.

Der Zusammenhang von Sucht und Trauma

Gibt es Ihrer Beurteilung nach einen Zusammenhang zwischen Sucht und Trauma und wenn ja, welchen?

Franz Ruppert: Ja, meiner Meinung nach ist Sucht eine Form von Überlebensstrategie, um sich mit den unangenehmen Gefühlszuständen nicht auseinandersetzen zu müssen, die aus abgespaltenen Traumagefühlen herrühren.

Negative Gefühlslagen wie Ängste, Schamgefühle oder Schmerzen werden von süchtig gewordenen Menschen, sobald sie spürbar werden, sofort durch den Konsum von Alltagsdrogen (Alkohol, Zigaretten, Kaffee, Zucker etc.), Medikamente (Schlaf- und Beruhigungsmittel). die Zufuhr gesetzlich verbotener narkotisierender Drogen (Marihuana, Heroin) oder aufputschender chemischer Substanzen (Amphetamine, Kokain) überlagert.

Wie bereits erwähnt sind auch bestimmte Verhaltensweisen geeignet, um hochkommende Traumagefühle wegzudrücken. Zum Beispiel versuchen Soldaten durch Bordellbesuche ihre Ängste durch sexuelle Stimulation zu übertönen.

Das Abspalten der eigenen Gefühle führt wiederum zu innerer Leere, die dann durch künstlich erzeugte Körpersensationen und durch Überaktivität gefüllt wird. Weil der innere Bezug fehlt, gibt es bei alledem keine natürliche Sättigung und kein inneres Empfinden dafür, wann es genug ist.

Sucht und Trauma - Alkohol und Medikamente

Viele Menschen setzen mit ihrer Sucht ihre ursprünglichen Traumatisierungen erneut in Szene. Sie verletzen und vergiften sich selbst, sie nehmen keine Rücksicht auf ihren Körper, sie versuchen, den Dauerstress, unter dem sie in Folge ihrer Traumatisierungen stehen, mit Hilfe der Drogen auszuhalten.

Manche Süchtige erinnern nicht zufällig an kleinkindhaftes Verhalten in der Forderung, Bedürfnisse von außen und ohne Aufschub befriedigt zu bekommen. Die Motive des Suchtverhaltens haben ihre Wurzeln in vielen Fällen in einem Symbiosetrauma, weil die ursprünglichen symbiotischen Bedürfnisse nach Wärme, Geborgenheit und Umsorgtsein niemals befriedigt wurden. Daher sind Alkohol, Cannabis und Heroin beliebte Drogen bei symbiotisch bedürftigen Menschen. Sie können sie kurzfristig wärmen und in Watte packen.

Welchen Nutzen hat die Sucht noch für ein traumatisiertes Nervensystem und was für negative Auswirkungen sind Ihnen bekannt?

Franz Ruppert: Für ein traumatisierendes Nervensystem kann ein Suchtmittel angstlösend, schmerz- und angstbetäubend sein. Die Gefühle von Einsamkeit und Alleinsein, unter dem die meisten Traumatisierten leiden, werden überlagert. Drogen (von Alkohol bis Zucker) vermitteln, zumindest für kurze Zeit die Illusion, alles wäre gut oder zumindest halb so schlimm. Sie erzeugen eine emotionale Scheinwelt von innerer Harmonie.

Jede Droge oder süchtige Verhaltensweise hat jedoch auch vielfältige und langfristige negative Auswirkungen auf den Körper, das Gehirn, die psychischen Leistungen und die sozialen Beziehungen. Die Überlebensstrategien wollen diese Zusammenhänge nicht anerkennen und bringen die negativen Folgen nicht in einen Zusammenhang mit dem Drogenkonsum oder ihren süchtigen Verhaltensweisen. Im Gegenteil, die Droge oder das süchtige Verhalten wird als das Heilmittel für die unerträglichen emotionalen und körperlichen Zustände benutzt, die jedoch immer mehr von der Droge selbst hervorgerufen werden, je länger der Suchtprozess voranschreitet.

Dadurch entstehen die bekannten Aufschaukelungsprozesse, die zwangsläufig zu einer Dosissteigerung des Konsums und der süchtigen Handlungen führen, die im Endstadium dann nur noch die Entzugserscheinungen überdecken können.

Süchtiges Verhalten ist somit eine Überlebensstrategie, die bis an die Grenzen der seelischen, körperlichen und sozialen Ressourcen eines Menschen geht und zuweilen weit darüber hinaus. Dies belegen die vielen körperlich schwer kranken Alkoholiker und nikotinabhängigen Raucher und die zahlreichen Herointoten.

Können anhand des Ausmaßes einer Sucht Rückschlüsse auf die Schwere der erlebten Traumata gezogen werden?

Franz Ruppert: Je schwerwiegender die ursprünglichen Traumatisierungen sind, desto „härter“ sind die von einem Süchtigen verwendeten Drogen und desto intensiver ist ihr Konsum. Auch bei den süchtigen Verhaltensweisen ist ein Rückschluss zwischen dem Ausmaß der zwanghaft durchgeführten Handlungen und der Schwere der Traumatisierung möglich.

Man kann das Ausmaß einer der Sucht zugrundeliegenden Traumatisierung auch daran abschätzen, wie schwer oder leicht es jemandem fällt, seinen Drogenkonsum oder sein Suchtverhalten aufzugeben. Wer z.B. aus einer schlechten Angewohnheit heraus zum Zigarettenraucher geworden ist, kann relativ schnell auf das Rauchen wieder verzichten. Wer hingegen mit dem Nikotin seine Übererregungszustände kontrolliert, sich betäubt und ablenkt, um seine negativen Gefühle nicht spüren zu müssen, seine innere Leere aufzufüllen versucht oder darüber Gefühle erzeugt, die seine symbiotische Verstrickung in seiner Familie widerspiegeln, steht unter dem Einfluss eines schweren Traumas.

Sucht und Trauma in der klassischen Psychotherapie

In der Psychologie und Psychotherapie werden Sucht und Trauma häufig isoliert voneinander betrachtet und es wird behauptet, dass zunächst die Sucht bewältigt werden muss, bevor man sich seinen Traumata zuwenden kann.

1. Liegt hier Ihrer Meinung nach eine fundamentale Fehleinschätzung vor?

Franz Ruppert: Sucht und Trauma sind miteinander verwoben und können meiner Meinung nach nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Folgesymptome müssen deshalb immer im Zusammenhang gesehen und therapiert werden.

2. Kann die hohe Rückfallquote bei traumatisierten Abhängigen dadurch erklärt werden?

Franz Ruppert: Meiner Meinung nach ja. Solange unverarbeitete Traumata in der Therapie keine Beachtung finden und das Symptom „Sucht“ isoliert behandelt wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem Rückfall kommt. In vielen Fällen torpedieren die süchtigen Überlebensanteile aber auch eine Psychotherapie oder machen sie nur aus Berechnung mit, um z.B. richterliche Auflagen zu erfüllen.

3. Welche Folgen können durch die isolierte Betrachtung von Sucht in der Diagnostik auftreten?

Franz Ruppert: Häufig werden Menschen z.B. durch eine bestimmte Form der psychiatrischen und psychologischen Diagnostik zu Unrecht in eine Täterrolle gebracht und dann durch die Art der Behandlung in einer Opferrolle gehalten. Wird etwa bei einem Mädchen, welches nichts mehr isst, die Diagnose „Magersucht“ gestellt, geschieht folgendes:

    • Man definiert sie als eine kranke Person.
    • Indem man ihr Verhalten der Essensverweigerung von seinen Ursachen isoliert, wird letztendlich alleine dem Mädchen die Schuld darangegeben, dass sie sich „nicht normal“ verhält.
    • Durch diese Diagnostik wird das Mädchen notfalls mit Gewalt gezwungen, wieder „normal“ zu essen.

Wenn wir jedoch wissen, dass die Essensverweigerung eine Reaktion auf die Ablehnung und Lieblosigkeit seitens der Mutter und auf die Gewalt und den sexuellen Missbrauch seitens des Vaters ist, so wird die Absurdität einer solchen Diagnostik offenbar, dieses Mädchen wäre „süchtig“ danach, „mager“ zu sein.

In Wirklichkeit bringt das Mädchen durch seine Essenverweigerung eine Täter-Opfer-Spaltung in sich selbst zum Ausdruck, indem ihr eigener Täteranteil, der abgespalten in ihrem Kopf sitzt, den Opferanteil, den ihr eigener Körper repräsentiert, unterdrückt und auslöschen möchte.

Magersucht und Trauma - Ganzwerdung

Können Sie die Täter-Opfer-Spaltung an einem weiteren Beispiel erklären?

Franz Ruppert: Ja, gerne am Fallbeispiel “Das Zigarettenrauchen stoppen” von meiner Klientin Marlene:

Marlene möchte ihr süchtiges Rauchen beenden. Immer wenn sie das jedoch versucht, gerät sie in ein Panikgefühl. In ihrer IoPT-Aufstellung (siehe unten) zeigte dieser Anteil, den sie für ihr süchtiges Rauchen aufstellte, eine Doppelnatur. Es war ein Mann, der einerseits jemand repräsentierte, der sie als Jugendliche brutal vergewaltigt hatte. Sie hatte dies bis dato vollkommen aus ihrem Bewusstsein verdrängt, da sie während der Vergewaltigung ihren Köper die ganze Zeit bewusst verlassen hatte. Andererseits brachte der Stellvertreter für dieses süchtige Rauchen zum Ausdruck, dass er sterben wollte. Im Rauchen spiegelte sich also die Täter-Opfer-Spaltung von Merlene wieder. Mit dem Rauchen reinszenierte sie ihre orale Vergewaltigung (Zigarette in den Mund stecken und Gifte = Sperma inhalieren und hinunterschlucken) und zugleich dient das Einatmen von Nikotin dazu, ihre Panik zu narkotisieren.

Ist eine Befreiung aus der Sucht möglich?

Bei Alkoholabhängigkeit wird von einer Krankheit ausgegangen, die ein Leben lang besteht. Teilen Sie diese Definition und Ansicht? Wird eine Sucht ein Leben lang bestehen bleiben?

Franz Ruppert: Ich persönlich bin der Meinung, dass wenn man an der Ursache seiner Sucht arbeitet, man auch ganz aus der Suchtdynamik aussteigen kann. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei Sucht um eine Überlebensstrategie handelt, dann wird diese nicht mehr benötigt, sobald die Ursache Beachtung findet. Wenn die abgespaltenen Traumagefühle gesehen und gefühlt werden, besteht keine Notwendigkeit mehr, sie mithilfe der Sucht zu verdrängen.

Was ist Ihrer Ansicht nach nötig, um sich nachhaltig von Sucht und Abhängigkeit zu befreien? 

Franz Ruppert: Um die Zusammenhänge von Sucht und Trauma zu verstehen und den Willen zu entwickeln, aus Suchtprozessen auszusteigen, braucht es zunächst Persönlichkeitsanteile, die trotz jahrzehntelangen Drogenkonsums noch gesund geblieben sind.

Der erste Schritt besteht dann darin, sich die Sucht einzugestehen und sie nicht länger zu verdrängen oder zu bagatellisieren. Dann müssen aus Eigeninitiative heraus weitere Schritte gegangen werden, um sich von der Sucht zu befreien. Meiner Meinung nach funktioniert das über das Fühlen der Gefühle, die im Zusammenhang mit der eigenen Traumabiografie früher nicht gefühlt werden konnten, heute aber durchaus gefühlt werden können.

Wenn Sucht als bevorzugte Überlebensstrategie in Familien über Generationen hinweg gelebt wird, ist es eine besondere Herausforderung, sich aus diesen Dynamiken zu befreien. Dabei geht es nicht nur um das Suchtverhalten, sondern auch um die vielfältigen Formen der Traumaverdrängung, die durch Arbeits-, Konsum-, Spiel- oder Sexsucht ausgelebt werden.

Wie kann die IoPT Menschen mit Suchtproblematik helfen?

Trauma heilen und von Sucht befreien

Franz Ruppert: Die IoPT ist eine Form der Selbstbegegnung, die es ermöglicht, Zugang zu den eigenen abgespaltenen und unterdrückten Traumagefühlen zu bekommen und destruktive familiäre Verstrickungen sichtbar zu machen. Jeder, der diese Therapieform wählt, bringt ein selbst formuliertes Anliegen mit und geht dadurch in die Selbstverantwortung. Auf dieses Weise können unbewusste und unverarbeitete Traumata und Überlebensmechanismen zutage treten und Schritt für Schritt geheilt werden. Das Suchtverhalten, das bisher dazu diente, die Traumagefühle nicht zu fühlen, kann so langfristig aufgegeben werden. Neulich z.B. hat ein Mann an seiner Pornosucht gearbeitet, die dann völlig in den Hintergrund getreten ist, sobald er sich in der Aufstellung mit seinem gesunden Ich verbunden hatte.

Möchten Sie meinen LeserInnen abschließend noch etwas mit auf den Weg geben?

Franz Ruppert: Wichtig ist, sich seiner Suchtthematik offen zu stellen. Wenn Scham- oder Schuldgefühle mit der Sucht einhergehen, ist es notwendig, diese zu überwinden und z.B. in einer Gruppe die eigene Suchtthematik offen einzugestehen. Außerdem sollte man Geduld mit sich haben. Traumabewältigung braucht Zeit.

 

Vielen Dank Herr Ruppert für dieses aufschlussreiche Interview!

Wer ist Prof. Dr. Franz Ruppert?

Franz Ruppert ist ein Psychotraumatologe, der als Professor für Psychologie an der katholischen Stiftungshochschule und als psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in München tätig ist. Er hat die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) entwickelt und ist Autor zahlreicher Bücher, in denen er sich mit dem Thema Trauma auseinandersetzt.

Bevor er die IoPT entwickelte, arbeitete er viele Jahre mit dem Familienstellen nach Hellinger, bemerkte jedoch im Laufe der Zeit immer größere Unstimmigkeiten. Durch seine intensive Beschäftigung mit der Bindungstheorie von John Bowlby erkannte er in den Aufstellungen kindliche Bindungsmuster, die sich in späteren Beziehungen ständig wiederholten. Er schlussfolgerte daraus, dass ein Großteil aller Probleme durch frühe Traumata hervorgerufen werden. 

Die IoPT, die auf dem Verfahren „Selbstbegegnung mit dem Anliegensatz“ fußt, ist eine wirkungsvolle Methode, um die psychische Spaltung in Folge von frühen Traumatisierungen zu erkennen und durch das Benennen und Fühlen wieder Kontakt zu den eigenen, abgespaltenen Anteilen aufzunehmen.

Bindungstrauma - Entstehung, Folgen und Überwindung

Bindungsangst – Entstehung, Folgen und Überwindung

Genau wie ich wünschen sich die meisten Menschen glückliche Beziehungen in ihrem Leben. Bleibt dieser Wunsch unerfüllt, weil sich Konflikte und Probleme ständig wiederholen und wir uns am Ende doch wieder allein vorfinden, kann eine unbewusste Bindungsangst als Folge von Bindungstrauma die Ursache sein. Wie Bindung entsteht, welche Bindungsstile es gibt und woran Du erkennst, ob Du Bindungsangst hast, erkläre ich in diesem Beitrag. Außerdem erläutere ich die vier wichtigsten Voraussetzungen zur Überwindung von Bindungsangst.

Was ist die Ursache von Bindungsangst?

Bindungsangst ist in der Regel die Folge von frühen Bindungstraumatisierungen. Anders als beim Schocktrauma ist der Auslöser beim Bindungstrauma nicht ein einmaliges Ereignis, sondern wiederholte Erfahrungen im Entwicklungsprozess eines Menschen. Zum Beispiel, wenn wir in einem Umfeld aufwachsen, das uns ablehnt, nicht ernst nimmt, nur unter bestimmten Voraussetzungen liebt oder uns mit Gewalt und Missbrauch konfrontiert.

Neuere Erkenntnisse aus Epigenetik, Medizin und Psychologie belegen sogar, dass Bindung nicht erst nach der Geburt entsteht, sondern bereits viel früher. Demzufolge kann sich ein Bindungstrauma bereits vor und während unserer Geburt entwickeln.

Wie entsteht Bindung?

Im Folgenden beschreibe ich die drei Lebensphasen, in denen Bindung entsteht und wir besonders anfällig für Bindungstraumatisierungen sind: vor der Geburt, während der Geburt und nach der Geburt. Diese frühen Lebensphasen prägen unseren späteren Bindungsstil und können die Ursache unserer Bindungsangst sein. Der Kontakt zu unserer Mutter spielt dabei eine zentrale Rolle, denn sie ist unser erster Bezugspunkt, und an sie sind wir durch die Nabelschnur gebunden.

Vor der Geburt

Vor der Geburt ist unser Überleben von unserer Mutter abhängig, denn wir sind vollkommen eins mit ihr. Entgegen früherer Annahmen fühlten wir bereits alles, was unsere Mutter fühlte. Wenn sie enormen Stress ausgesetzt war, Gewalt erfuhr oder uns ablehnte, dann haben wir das als lebensbedrohlich wahrgenommen. Ein gescheiterter Abtreibungsversuch ist deshalb auch eine der schlimmsten Traumatisierungen eines Menschen überhaupt.

Unsere Bindung wurde auch durch das beeinflusst, was unsere Mutter zu sich nahm. Konsumierte sie während der Schwangerschaft Drogen, Alkohol oder Zigaretten, vergiftete sie uns damit und wir fühlten uns in unserer Existenz bedroht. Bindung haben wir demnach von Beginn an als toxisch und unsicher erfahren.

Während der Geburt

Auch der Geburtsprozess hatte maßgeblichen Einfluss auf das Bindungsverhalten zwischen uns und unserer Mutter. Während einer Schwangerschaft und beim Einsetzen der Wehen werden verschiedene Hormone ausgeschüttet, die die Bindung zwischen Mutter und Kind sicherstellen sollen. Kommt es zu Komplikationen wie einer zu frühen Geburt, dem Einsatz starker Medikamente oder einem Kaiserschnitt, wird diese Hormonproduktion unterbrochen.

Wurde unser Eintritt in diese Welt durch den Einsatz von Saugglocke oder eine um den Hals liegende Nabelschnur als bedrohlich oder sogar schmerzhaft erlebt, kommt das einem Schocktrauma gleich. Um dieses unmittelbar zu verarbeiten, sind wir auf die physische und emotionale Zuwendung und Nähe unserer Mutter angewiesen.
Da viele Frauen die Geburt selbst als traumatisch erleben oder währenddessen an ihr eigenes, unverarbeitetes Geburtstrauma erinnert werden, besteht die Gefahr, dass sie für den Säugling nicht verfügbar sind. Wenn sie zum Selbstschutz
emotional distanziert oder gar dissoziiert reagieren, wird sich das neugeborene Kind von ihnen verlassen fühlen und keine sichere Bindung erfahren.

Nach der Geburt

Bindungstrauma vermeiden durch Mutter-Kind-Bindung

Nachdem wir das Licht der Welt erblickt haben, wollen wir nichts als geliebt und versorgt werden. Wir sind voller Unschuld und möchten uns genährt, sicher und willkommen geheißen fühlen. Um mit unserer Mutter oder einer anderen Bindungsperson in Verbindung zu treten, konnten wir zu diesem Zeitpunkt nur weinen und schreien. Auf diese Weise haben wir deutlich gemacht, dass ein oder mehrere der folgenden Bedürfnisse befriedigt werden wollen:

    • Bedürfnis nach Nahrung
    • Bedürfnis nach Wärme
    • Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz
    • Bedürfnis nach emotionaler und körperlicher Verbundenheit (Zugehörigkeit und Liebe)

Wurden diese Bedürfnisse nicht erfüllt, war das für unsere Existenz lebensbedrohlich. Unser autonomes Nervensystem war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage zur Selbstregulation. Wir waren auf unsere Mutter oder eine andere Bezugsperson angewiesen, die uns versorgte und durch Nähe, Berührungen und Blickkontakt beruhigte oder tröstete.  

Ab einem gewissen Entwicklungsstadium entwickelten wir noch ein weiteres wichtiges Bedürfnis und zwar nach Autonomie. Wir wollten unsere Umgebung erkunden und unsere zunehmenden Fähigkeiten ausprobieren. Auch wenn dieses Bedürfnis ignoriert oder durch Überbehüten übergangen wurde, hat das unsere Entwicklung und unser Bindungsverhalten negativ beeinflusst. 

„Die Zustände des menschlichen Kleinkinds im Mutterleib und in den ersten Lebensphasen sind tatsächlich genau die Vorbedingungen für ein Trauma: Das Kind ist hilflos und kann sich schnell überwältig fühlen. Sein Leben hängt von einem anderen Menschen ab und es kann absolut nichts anderes tun als weinen. Niemand kann ihm intellektuell vermitteln, dass es sicher und geschützt ist. Es fühlt alles, was es erlebt, ohne es kognitiv zu verstehen. Das Einzige, was zu Beginn seines Lebens Sinn für es macht, ist die Verbindung zu seiner Mutter, weil es sie kennt. Es kennt ihren Geruch, ihre Berührung, wie sie sich anfühlt, schmeckt und klingt“. (Vivian Broughton, 2016)

Wie Bindung unseren Bindungsstil prägt

Mit zunehmender Entwicklung konnten wir mehr als nur weinen, um die Nähe zu unserer Mutter, zu unserem Vater oder zu anderen Bindungspersonen sicherzustellen. Je nachdem, wie erfolgreich wir mit unserem Bindungsverhalten in Form von z. B.: Suchen, Nachlaufen oder Festklammern waren, haben wir ein Bindungsmuster entwickelt, dass alle weiteren Beziehungen in unserem Leben beeinflusst. Vor, während und nach der Geburt sowie im Kindesalter wird also der Grundstein für den Bindungsstil gelegt, den wir im Erwachsenenleben pflegen.

Welche Bindungsstile gibt es?

In der Bindungstheorie wird von vier Bindungsstilen ausgegangen: sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und unsicher-desorganisiert. Die Diplom Psychologin und Bestseller Autorin Stefanie Stahl ergänzt diese Bindungsstile um zwei Weitere, die ich aufgrund ihrer Wichtigkeit in die Beschreibung mit aufnehme: gleichgültig-gebunden und Nähe-Überflutung.

Aus diesen sechs Bindungsstilen lassen sich Rückschlüsse über unser Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter ziehen, die uns dabei helfen können, neue Beziehungsmuster zu etablieren und unsere Beziehungsangst aufzugeben.

Sicherer Bindungsstil

Ein sicherer Bindungsstil entwickelt sich, wenn die Bedürfnisse eines Kindes jederzeit gehört und gestillt werden. Wenn es seine Bezugsperson als verlässliche Basis wahrnehmen kann, von der es sich einerseits entfernen, zu der es bei Gefahr oder Bedrohung aber jederzeit zurückkehren kann, um Hilfe oder Trost zu bekommen. Das Kind hat von Anfang an Zuwendung, Wärme, Verlässlichkeit, Schutz und emotionale Stabilität erfahren. Dadurch konnte es seine Umwelt selbstständig erkunden und Lernerfolge erzielen.

Im Erwachsenenalter verfügen Menschen mit diesem Bindungsstil über ein Grundvertrauen in sich, andere Menschen und die Welt. Sie sind kontaktfreudig, kennen ihre Fähigkeiten und verfügen über Lernbereitschaft. Aufgrund ihres gesunden Selbstwertgefühls sind sie in der Lage, ihre Gefühle und Bedürfnisse adäquat auszudrücken und mit Konflikt- oder Stresssituationen konstruktiv umzugehen.

Unsichere Bindungsstile

Unsichere Bindungsstile sind das Resultat mangelnder Fürsorge oder emotionaler Präsenz durch die Bindungspersonen. Kinder machen hier die Erfahrung, dass die Bezugspersonen unzuverlässig sind und nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen.

Unsicher-vermeidender Bindungsstil

Menschen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil haben früh gelernt, dass sie für sich allein sorgen müssen, weil kein verlässlicher Kontakt zur Bindungsperson vorhanden war. Die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wurden als unwichtig verinnerlicht, was zu einem geringen Selbstwertgefühl und der Annahme führt, nicht wichtig zu sein.

Bindungstrauma - Kind allein

Im Erwachsenenalter haben Menschen mit dieser Prägung sichtliche Bindungsangst. Sie sind überzeugt davon, nicht liebenswert zu sein und früher oder später verlassen zu werden, wenn sie ganz sie selbst sind. Je glücklicher und näher eine Beziehung wird, desto lauter wird ihre Angst vor Verlust oder Ablehnung. Aus diesem Grund fällt es ihnen schwer zu vertrauen, sodass Eifersucht ein häufiges Thema bei diesem Bindungsstil ist.

Unsicher-ambivalente Bindungsstil

Dieser Bindungsstil ist die Folge von unberechenbaren Verhaltensweisen der Bindungspersonen. Mal reagierten die sie liebevoll und im nächsten Moment womöglich aggressiv oder emotional distanziert. Für das Kind gab es keinen verlässlichen Kontakt und keinen sicheren Halt. Auch die Nähe- und Autonomiebedürfnisse des Kindes wurden nicht ausreichend befriedigt. In bindungsrelevanten Situationen hat es zu wenig Sicherheit und Nähe erfahren und beim Versuch, sich selbst auszudrücken, wurde es zurückgehalten.

Menschen mit diesem Bindungsstil suchen sich unbewusst Partner/innen, die sie genauso schlecht behandeln wie einst ihre Bindungspersonen. Sie haben verinnerlicht, dass ihre eigenen Bedürfnisse nicht von Bedeutung sind und sie nur geliebt werden, wenn sie die Erwartungen ihres Gegenübers erfüllen. Sie sind abhängig von der Zustimmung und Anerkennung anderer, weshalb sie sich unterordnen und zu anklammernden Beziehungsverhalten neigen. Am meisten Angst macht Ihnen die Vorstellung, allein und unabhängig zu sein, deshalb haben sie Schwierigkeiten, sich aus destruktiven Beziehungen zu lösen.

Unsicher-desorganisierter Bindungsstil

Der unsicher-desorganisierte Stil ist von Widersprüchlichkeiten im Verhalten von Kindern gekennzeichnet. Sie zeigen Stimmungsschwankungen, Aggression oder gar keine Gefühlsäußerungen, was auf eine generelle Überforderung mit dem Bindungsumfeld und den eigenen Gefühlen zurückzuführen ist. Dieser Bindungsstil ist häufig eine Folge von sehr frühen traumatischen Erlebnissen wie Gewalt oder Missbrauch durch eine Bindungsperson. Diese wird dann nicht als Quelle von Sicherheit, sondern als Auslöser von Angst und Stress wahrgenommen.

Unsicher-desorganisiert geprägte Menschen sind häufig psychisch labil und leiden an starken Traumafolgen. Sie haben oft Schwierigkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen und sich überhaupt auf Nähe einzulassen. Beziehungspartner/innen werden genau wie einst die Bezugsperson als potenzielle Gefahr wahrgenommen, sodass ein harmonisches Zusammenleben ohne therapeutische Auseinandersetzung meist gar möglich ist.

Gleichgültig-gebundener Bindungsstil

Stefanie Stahl schreibt Menschen mit diesem Bindungsstil eine Gefühlsarmut zu, die auf eine traumatisierende Kindheit zurückzuführen ist. Als Kind hatten sie gefühllose und distanzierte Eltern, sodass sie ihre eigenen Gefühle auch abgespalten haben.

Im Erwachsenenalter können sie problemlos Bindungen eingehen, fühlen aber nicht besonders viel. Sie empfinden deshalb wenig Leidensdruck und haben keine Motivation, etwas an sich oder ihren Beziehungen zu verändern. Nach außen wirken Menschen mit diesem Bindungsstil häufig stark, lebendig und humorvoll. Sie beschäftigen sich oft ununterbrochen und können im Alltag gut funktionieren. Ihrer inneren Leere und Einsamkeit sind sie sich in der Regel selbst nicht bewusst.

Nähe-Überflutung-Bindungsstil

Menschen, die diesen Bindungsstil entwickeln, wurden in ihrer Kindheit regelrecht von der Bindungsperson vereinnahmt. Sie wurden mit positiver oder negativer Aufmerksamkeit oder mit Liebe, die an Bedingungen geknüpft war, überschüttet. Die kindlichen Bedürfnisse nach Autonomie und Selbstausdruck wurde von den Bindungspersonen ignoriert und unterdrückt, sodass sie wenig Eigenständigkeit und mangelndes Vertrauen in die eignen Fähigkeiten entwickeln konnten.  

Menschen mit diesem Bindungsstil leiden oft unter Schuldgefühlen gegenüber der Bindungsperson oder späteren Stellvertretern (Beziehungspartnern). Auch sie fühlen sich verpflichtet, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen und glauben kein Recht auf eigene Bedürfnisse zu haben. Statt zu klammern, flüchten sie jedoch eher, weil sie sich nur so abgrenzen können. Eine Liebesbeziehung assoziieren sie mit Verpflichtung und Selbstaufgabe. Sie fühlen sich schnell eingeengt und haben Angst vor erneuter Nähe-Überflutung.

Wenn Du Dich intensiver mit der Entstehung und den Auswirkungen von Bindungsstilen auseinandersetzen möchtest, empfehle ich Dir das Buch *Vom Jein zum Ja! Bindungsängste überwinden und endlich bereit sein für eine tragfähige Partnerschaft von Stefanie Stahl (2020).

„Mit ihrem Buch “Jein!” entwickelte Stefanie Stahl ein Standardwerk zum Thema Bindungsangst. In “Von Jein zum Ja!” entwickelt die Bestsellerautorin diesen Ansatz weiter. Sie beleuchtet die typischen Bindungsstile, die Beziehungen immer wieder aufs Neue scheitern lassen….”

 

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Bindungsangst als Folge eines unsicheren Bindungsstils

Bindungsangst ist das, was alle Menschen mit einem unsicheren Bindungsstil gemeinsam haben. Da sie bereits so früh im Leben ihren Ursprung hat und Bindung nie anders kennengelernt wurde, ist diese Angst jedoch meist unbewusst. Mithilfe ausgeklügelter Strategien haben wir gelernt mit dieser Angst zu leben. Es kommt deshalb vor, dass Bindungsängstliche ihre Angst vor Nähe vehement abstreiten oder leugnen. Dabei ist Bindungsangst nichts, wofür wir uns schämen müssen. Sie ist im Prinzip ein Mechanismus zum Schutz vor Ablehnung, Verlust oder Vereinnahmung, den wir in unserer Kindheit tatsächlich nötig hatten.

Wenn Du Deine bisherigen Beziehungen als unbefriedigend erfährst, kann es sich lohnen, Dich der Möglichkeit zu öffnen, dass Du und/oder Dein/e Partner/in womöglich auch unbewusste Bindungsängste habt. Doch woran lässt sich Bindungsangst erkennen? 

Bindungsangst erkennen

Bindungsangst in ausgeprägter Form führt so weit, dass sich Menschen überhaupt nicht auf Bindungen einlassen. Sie fliehen vor Nähe, bevor sie entstehen kann. Entweder indem sie sich in unerreichbare Menschen verlieben oder das Verlieben ganz vermeiden und sich, wenn überhaupt nur auf oberflächliche Affären einlassen.

Da jedoch auch bindungsängstliche Menschen ein angeborenes Bedürfnis nach Nähe haben, lassen auch sie sich auf Beziehungen und Ehen ein. Ja, richtig gelesen. Auch bindungsängstliche Menschen heiraten. Es gibt zahlreiche Strategien, um in einer Beziehung zu sein, aber wirkliche Nähe zu vermeiden. Die gängigsten Strategien sind dieselben, die wir als Trauma-Überlebensmechanismen kennen: Flucht, Kampf und Totstellen.

Flucht
Der Fluchtmechanismus äußert sich bei Bindungsängstlichen häufig durch vieles Arbeiten oder eine Aufopferung in Hobbys. Auch durch Affären oder Dreiecksbeziehungen kann echte Nähe in einer Partnerschaft vermieden werden. Dazu braucht es nicht mal zwingend eine reale dritte Person, sondern nur die Gedanken oder Fantasien an andere Menschen. Fernbeziehungen gehören ebenfalls zu den gängigen Strategien von Bindungsängstlichen, um sich vor zu viel Nähe oder den eigenen Ängsten zu schützen. Weiter kann sexuelle Lustlosigkeit, Unverbindlichkeit oder eine unpersönliche und sachliche Kommunikation auch auf Bindungsängste hindeuten.

Kampf
Verlust- oder Nähe Ängste treten oft besonders dann auf, wenn eine Beziehung sehr eng wird. Dies löst Stress in Menschen mit Bindungstrauma aus, der sich in Wut und Aggression äußern kann. Vielleicht hast Du selbst schon harmonische oder romantische Situationen erlebt, in denen Du Deinem Partner/Deiner Partnerin sehr nahe warst und wie aus dem Nichts hat ein Streit die ganze Idylle zerstört.

Die tief sitzende Wut ist eine unbewusste Abwehrstrategie Bindungsängstlicher gegen etwaige Besitz- oder Näheansprüche. Häufig ist das die Notlösung für die mangelnde Fähigkeit, Grenzen zu setzen. Weil sie insgeheim glauben, kein Recht auf eigene Bedürfnisse zu haben, bleiben nur Kampf und Angriff, um die eigenen Grenzen zu schützen.

Bindungsangst - Angriff oder Kampf

Totstellen
Der Totstellreflex ist eine weitere Strategie, sich vor Nähe-Überflutung oder Verlustangst zu schützen. Dieser Überlebensmechanismus kann dazu führen, dass sich die Gefühle des Bindungsängstlichen aus heiterem Himmel verabschieden und er oder sie nicht mehr richtig anwesend erscheint.  

Anders als bei sicher gebundenen Menschen haben Menschen mit Bindungstrauma keinen kontinuierlichen Zugang zu ihren Liebesgefühlen. Es ist, als müssten sie sich ab und zu Verschnaufpausen verschaffen. Diese Pausen können eine Beziehung natürlich sehr belasten, denn für den Partner/die Partnerin ist schwer verständlich, warum der oder die andere plötzlich nicht mehr anwesend ist. 

Ein Hauptmerkmal an dem Du eine Beziehung mit mindestens einem Bindungsängstlichen erkennst, ist ein Wechselbad der Gefühle. Solch eine Beziehung beginnt oft sehr romantisch oder leidenschaftlich, denn zu Beginn fühlen sich Bindungsängstliche noch frei und es gibt keinen Grund für Flucht, Kampf oder Totstellen. Stattdessen kompensieren sie ihr Selbstwertdefizit mit der Eroberung und den Komplimenten in der Verliebtheitsphase. Sobald die Beziehung jedoch fester wird, kommen die zuvor beschriebenen Mechanismen zum Tragen. Dadurch entsteht eine typische Dynamik, in der die eine Seite ausweicht und die andere Seite klammert. Gopal Norbert Klein beschreibt diese beiden Ausprägungen in seinem Buch *„Der Vagus Schlüssel zur Traumaheilung“ als Autonomie- versus Verschmelzungstypen.

Und tatsächlich läuft es meist so ab, dass je mehr sich der Bindungsängstliche zurückzieht, desto mehr klammert der oder die andere. Weil sich aber auch der Bindungsängstliche insgeheim nach einer glücklichen Beziehung sehnt, fühlt er sich phasenweise doch wieder verliebt, woraufhin sich der oder die andere Hoffnung macht. Dieses Hin- und Her zwischen Gehen oder Bleiben kann sich über Jahre hinziehen und großen Leidensdruck verursachen.

Überwindung von Bindungsangst

Durch meine intensive Beschäftigung mit dem Thema Entwicklungstrauma sowie durch intensive Gespräche mit glücklichen Paaren habe ich vier Grundvoraussetzungen für die Überwindung von Bindungsangst zusammengefasst. 

1. Die Bereitschaft, Dich mit Deiner Bindungsangst auseinanderzusetzen

Um Ängste in Deinem Leben aufzulösen, musst Du Dir zunächst bewusst darüber sein, dass Du sie hast. Erst wenn Du Dir selbst eingestehst, dass Du Bindungsangst hast, kannst Du Veränderungen einleiten. Du musst also akzeptieren, dass Du als Folge Entwicklungstrauma in Deiner Kindheit, im Hier und Jetzt unter Bindungsängsten leidest. Das setzt auch die Bereitschaft voraus, Dich den schmerzlichen Gefühlen Deiner Kindheit zu öffnen und irgendwann Deine Schutzmechanismen (Flucht, Kampf, Totstellen) aufzugeben. Die Arbeit mit dem Inneren Kind und tief verinnerlichten Glaubenssätzen kann dabei ein erster Schritt sein.

2. Ein klares Ja für Deine Beziehung 

Wenn Du Dich in einer Beziehung befindest und Deinen unsicheren Bindungsstil aufgeben willst, braucht es ein klares Ja zu der betreffenden Beziehung, sofern es keine destruktive Beziehung ist, mit der Du Dein Bindungstrauma reinszenierst. Das bedeutet, dass Du Dich wirklich auf den anderen Menschen einlässt und entgegen Deiner bisherigen Strategien dableibst, auch wenn es schwierig oder unangenehm wird. Andersherum muss Dein Partner oder Deine Partnerin dasselbe wollen. Du wirst Dir die Zähne ausbeißen, wenn Du versuchst, einen Bindungsängstlichen zu heilen, der nicht bereit ist hinzusehen.

Solltest Du aktuell in keiner Beziehung sein, nutze die Zeit, um Dich mit Deinen bisherigen Beziehungsmustern auseinanderzusetzen. Durch Bücher oder professionelle Hilfe kannst Du herausfinden, ob Du selbst unter Bindungsangst leidest und/oder warum Du immer wieder an bindungsängstliche Partner/innen gerätst. Werde Dir klar darüber, wie Deine Traumbeziehung aussehen soll, damit Du Dich beim nächsten Mal von Anfang an nur auf jemanden einlässt, der präsent ist und sich wirklich auf eine Bindung einlassen will.

Wenn ihr in eurer Partnerschaft ein klares Ja für euch habt, dann kann die Heilreise losgehen. Bitte vergesst aber nicht, dass eine erfüllte Partnerschaft auch mit Arbeit verbunden ist. Am besten betrachtet ihr eure Beziehung als Sprungbrett für eure Heilung. Die Geschenke von Nähe, Vertrauen und Wertschätzung innerhalb eurer Beziehung werden jeden Aufwand Wert sein!

Bindungsangst überwinden

3. Offene und ehrliche Kommunikation

Eine offene und ehrliche Kommunikation ist das Fundament einer jeden guten Beziehung. Tatsächlich scheitern die meisten Beziehungen genau daran. Weil wir früh gelernt haben, dass unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, glauben wir, dass wir sie nicht haben dürfen. Wir haben uns verleugnet und angepasst, um geliebt zu werden. Diese Muster musst Du jetzt durchbrechen! Du darfst jetzt lernen, dass Du gut bist, genauso wie Du bist und das Du Dich für nichts zu schämen brauchst. Du hast ein Recht auf Deine Gefühle und Bedürfnisse und darauf, diese angemessen auszudrücken. Ansätze wie die gewaltfreie Kommunikation nach Rosenberg oder das ehrliche Mitteilen nach Gopal können hier eine wertvolle Stütze sein.

Nur wenn Du in der Lage bist mitzuteilen, was Du fühlst und was Du brauchst, kann Dein Gegenüber darauf reagieren. Schluck es nicht runter, wenn Dich etwas belastet, sondern bitte um ein Gespräch. Durch authentische, offene und ehrliche Kommunikation können innerhalb der Beziehung gemeinsam Lösungen gefunden werden. Im Alltag stellt das Miteinanderreden oft eine Herausforderung dar. Deshalb empfehle ich einen festen wöchentlichen Termin, bei dem ihr euch mitteilt, was euch auf dem Herzen liegt.

Offene Kommunikation für gute Bindung

4. Persönliche und gemeinsame Weiterentwicklung

Wir sind auf dieser Welt, um zu wachsen und uns weiterzuentwickeln. Wenn das mit der Erreichung eines bestimmten Alters aufhört, entspricht das in meinen Augen nicht unserer Natur. Auch Beziehungen gedeihen und festigen sich durch Weiterentwicklung, sowohl durch die Persönliche als auch durch die Gemeinsame.

Als Paar könnt ihr zum Beispiel Seminare besuchen, die eure Achtsamkeit schulen, eure Verbindung stärken oder euch bei bestimmten Themen (Kommunikation, Sexualität etc.) weiterhelfen. Um destruktive Muster aufzulösen, könnt ihr auch Coachings in Anspruch nehmen oder eine Paartherapie aufsuchen. Hilfe anzunehmen, ist meiner Meinung nach einer der größten Erfolgsfaktoren für eine glückliche Partnerschaft, vor allem, wenn Traumata und Bindungsängste das Leben geprägt haben.

Unabhängig von eurer Beziehung hat natürlich jeder von euch eigene Themen oder Interessen, denen ihr Aufmerksamkeit schenken dürft. Unterstützt euch in euren individuellen Prozessen und Erfahrungen, denn diese kommen eurem langfristigen Liebesglück nur zugute. Außerdem habt ihr euch so auch immer wieder etwas zu erzählen.

Zu guter Letzt darf natürlich auch die Leichtigkeit in eurer Partnerschaft nicht fehlen! Gemeinsame Reisen und Freizeitaktivitäten machen nicht nur Spaß, sie stärken auch eure Verbindung und fördern eure Weiterentwicklung.

Na, wie geht es Dir nach dem Lesen dieses Beitrags? Hast Du Dich oder Deinen Partner/Deine Partnerin vielleicht darin wiedergefunden? 

Für mich war es ein großer Mehrwert zu erkennen, dass ich durch Vor- und nachgeburtliche Traumatisierungen unter Bindungsangst leide und mich unbewusst auch immer wieder auf bindungsängstliche Partner eingelassen habe. Nur durch diese Erkenntnisse kann ich daran arbeiten, um meine Beziehungsqualität in Zukunft zu verbessern.

Ich freue mich, falls ich Dein Interesse für dieses Thema wecken konnte. Du bist herzlich eingeladen, einen Kommentar mit Deinen Eindrücken zu hinterlassen und den Beitrag mit anderen Menschen zu teilen. 

Danke und schön, dass Du da bist!

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Quellenverweise: 

Broughton, Vivian (2016): Zurück in mein Ich: Das kleine Handbuch zur Traumaheilung mit einem Nachwort von Franz Ruppert, 4. Edition, München

Klein, Gopal Norbert (2022): Der Vagus Schlüssel zur Traumaheilung: Wie “Ehrliches Mitteilen” unser Nervensystem reguliert, 4. Edition, München

Ruppert, Franz (2017): Symbiose und Autonomie: Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen, 5. Auflage, Stuttgart

Schmitt, Tobias: Kindes- und Jugendalter: Soziale Entwicklung, abgerufen am 03.11.2022 von: http://entwicklung-psychologie.de/bindungsqualitaet.html

Stahl, Stefanie (2020): Vom Jein zum Ja: Bindungsängste überwinden und endlich bereit sein für eine tragfähige Partnerschaft, 1. Auflage, München

Stegmaier, Susanne: Grundlagen der Bindungstheorie, abgerufen am 01.11.2022 unter: https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psychologie/1722/

Unbekannt: Bindungstheorie – Definition, Ansätze & Kritik, abgerufen am 03.11.2022 unter: http://www.bindungstheorie.net/#ainsworth

Schütteln zur Traumaheilung

21 Tage Schütteln zur Regulierung des Nervensystems

Im Juni dieses Jahres habe ich am BREAK FREE MOVEMENT teilgenommen. Dabei handelte es sich um einem 21-tägigen Schüttel-Workshop mit der Körperforscherin und Bestseller-Autorin Ilan Stephanie. Das Schütteln als Methode zur Traumaheilung brachte bei mir einiges in Bewegung. Auch der theoretische Inhalt des Kurses vermittelte mir wertvolles Traumawissen, das ich unbedingt mit Dir teilen will. Deshalb erkläre ich Dir in diesem Beitrag, was das Schütteln überhaupt ist, wie es zur Traumaheilung eingesetzt werden kann und was das bahnbrechende am Ansatz von Ilan ist. Am Ende erhältst Du dann noch meinen ganz persönlichen Erfahrungsbericht zum Workshop und erfährst, warum ich das Schütteln einstellen musste.

Was ist mit dem Schütteln gemeint?

Du kannst Dir unter dem Schütteln nichts vorstellen und hast keine Idee, wie so etwas funktioniert?
Beim Schütteln an sich bringst Du im Prinzip einfach Deinen ganzen Körper in Bewegung. Eine mögliche Ausgangsposition ist, dass Du mit hüftbreit geöffneten Beinen auf einer Yoga- oder Fitnessmatte stehst. Deine Wirbelsäule ist aufgerichtet und Deine Knie sind entspannt. Mit aufgestellten Füßen beginnst Du nun mit Deinen Beinen zu bouncen, also Deine Beine hoch und runter zu wippen. Dann nimmst Du Deine Handgelenke dazu und schüttelst Deine Hände kräftig aus, so als wolltest Du sie nach dem Händewaschen trocken schütteln. Deine Ellenbogen und Schultern werden sich automatisch mitbewegen.
Das ist eigentlich auch schon alles, wobei Du die Bewegungen natürlich noch ausweiten und variieren kannst. In der Regel ist es so, dass Dein Körper beim Schütteln immer lockerer wird und sich wie von selbst auch Deine Oberschenkel, die Hüften, der Bauch, die Brust, der Hals und der Kopf mit schütteln.

Grundlagen des Schüttelns als Methode zur Traumaheilung

Schütteln für ein gesundes Nervensystem

Das Schütteln als Werkzeug für Deine Heilung baut auf der Trauma-Entspannungsmethode TRE (Tension and Trauma Releasing Exercises) von David Berceli auf. Dabei handelt es sich um spezielle Körperübungen, die das neurogene Zittern im Körper auslösen. Dieses Zittern, dass wir gut im Tierreich beobachten können, ist ein regulierender Mechanismus, um erlebte Anspannung oder Stress schnell abzubauen und zu einem Zustand von Ruhe und Entspannung zurückzukehren. 

Ursprünglich steht dieser Regulationsmechanismus auch uns Menschen zur Verfügung, jedoch wurde er uns gesellschaftlich abtrainiert. Von klein auf wurden wir angehalten, unsere natürlichen und heilsamen Körperimpulse sowie den Ausdruck unserer Gefühle zu unterdrücken. Weil sich unser Körper so nicht mehr von der Spannung und den chemischen Substanzen entladen kann, die ihn in einer traumatischen Situation überladen, benötigen wir heute Übungen und Methoden, um unser Nervensystem zu regulieren. Das Schütteln steht uns neben TRE als solche Methode zur Verfügung.

Warum muss unser Nervensystem reguliert werden?

Ein Trauma ist die Folge von überwältigendem Stress, der mit unseren klassischen Regulationsmechanismen nicht bewältigt werden kann. Dieser Stress hat anhaltende Auswirkungen auf unser autonomes Nervensystem (ANS), das für unsere Selbstregulation verantwortlich ist.

Das Stress-Toleranz-Fenster nach Daniel Siegel zeigt sehr deutlich, was sich in unserem Nervensystem abspielt, wenn wir traumatische Erfahrungen machen und warum es wichtig ist, es wieder ins Gleichgewicht zu bringen:

Stress-Toleranz-Fenster

 

Befindet sich unser Nervensystem in einem natürlichen (gesunden) Zustand, sind wir in der Lage, zwischen Aktivierung und Entspannung hin und her zu pendeln. Unser ANS befindet sich sozusagen in Balance. In diesem Zustand können wir gut mit Stressoren umgehen (Aktivierung) und unsere Akkus im Nachhinein wieder aufladen (Regenerierung).   

Wirkt überwältigender Stress auf uns ein, wird von unserem Körper viel Energie freigesetzt, um uns auf unsere angeborenen Überlebensmechanismen Flucht oder Kampf vorzubereiten. Wenn die Situation mithilfe dieser beiden Bewältigungsmechanismen jedoch nicht bewältigt werden kann, bleibt eine hohe Anspannung in unserem Körper gespeichert. Die Energie findet kein Ventil. Um weiter mit dem Trauma-Stress leben zu können, benötigt unser ANS es eine andere Lösung und die lautet Erstarrung/Freeze. Wir passen uns an und unterdrücken Teile von uns selbst (Identität, Bedürfnisse, Gefühle).
Im Ansatz von Ilan existiert noch eine weitere Ebene und zwar der Kollaps. In diesem befinden wir uns, wenn wir auch unsere Körperempfindungen abtöten. Wir spüren dann Teile unseres Körpers oder den gesamten Körper nicht mehr.

In solchen ungelösten Traumazuständen pendelt unser Nervensystem nicht mehr in einem optimalen Erregungsniveau, sondern zwischen Übererregung und Untererregung. Situationen oder Menschen (Trigger), die uns bewusst oder unbewusst an die traumatischen Erfahrungen erinnern, sorgen für Übererregung in Form von Angst, Wut, Panik oder Unruhe. Durch die Vermeidung der damit verbundenen Traumagefühle folgt die Untererregung in Form von Kraftlosigkeit und Erschöpfung.

Wir sind zwar noch am Leben und funktionieren in unserem Alltag irgendwie, aber wir führen kein wirklich selbstbestimmtes und lebendiges Leben. Wir befinden uns in einem Trauma-Überlebens-Modus. Ein Beispiel soll die Entstehung eines solchen Zustandes verdeutlichen:  

Beispiel Entwicklungstrauma

Ein Kind, das von den Eltern gewünscht war, kommt mit einem zunächst funktionierenden Nervensystem zur Welt. Schnell sind die Eltern mit dem Kind überfordert und streiten sie sich häufig lautstark. Die Schreie des kleinen Kindes werden immer wieder ignoriert. Irgendwann kommt es sogar zu gewalttätigen Übergriffen gegenüber dem Kind, die auch kein Ende mehr nehmen.

Da das Überleben des Kindes von seinen Eltern abhängig ist, steht es Todesängste durch, wenn seine Schreie (mit dem Wunsch nach Nähe oder nach Nahrung) ignoriert werden oder es dafür sogar gestraft und geschlagen wird. Das Kind erfährt überwältigenden Stress.

Kind im traumatischen Umfeld
Es kann seine Bedürfnisse noch nicht artikulieren und sich nicht wehren, weil es seinen Eltern körperlich unterlegen ist. Es kann auch nicht einfach gehen, denn sein Überleben ist von seinen Eltern abhängig. Flucht und Kampf als Lösungsstrategien versagen, sodass das Kind sein Überleben anderweitig sichern muss. Es passt sich an, indem es Teile von sich (Gefühle, Bedürfnisse, Körperempfindungen) unterdrückt. Dadurch wächst das Kind in einer Erstarrung oder sogar im Kollaps zu einem erwachsenen Menschen heran.  

Früher oder später wird es mit Menschen oder Situationen konfrontiert, die an seine traumatischen Kindheitserfahrungen erinnern. In derartigen Triggermomenten kommen die ganzen alten Traumagefühle wieder hoch. Das ist natürlich nicht erwünscht, sodass die Gefühle unterdrückt werden.

Ohne die Heilung der Traumatisierungen aus der Vergangenheit befindet sich der Mensch in einem Trauma-Überlebens-Modus – ein kräftezehrendes Wechselspiel zwischen Übererregung und Untererregung. Man könnte auch sagen, es ist ein Leben im Energiesparmodus, denn Trauma-Energie ist gebundene Lebensenergie.

Durch Schütteln zurück in die Lebendigkeit

Mithilfe des regelmäßigen Schüttelns versorgen wir unser System mit viel Energie und rütteln die festsitzende Trauma-Energie sozusagen kräftig durch. Das ist aber noch nicht alles. Das Besondere an der Schüttelmethode von Ilan ist, dass wir auch unsere Gefühle mit dazu nehmen. Und zwar genau die Gefühle, die uns als Folge unserer Traumatisierungen im Alltag belasten.

Statt wie gewohnt in die Vermeidung auszuweichen, nutzen wir unsere Trigger (Gefühle, Situationen, Personen) als Sprungbrett für unsere Heilung. Auf diese Weise durchbrechen wir festgefahrene Routinen und lernen, dass wir Einfluss auf unsere inneren Zustände nehmen können. 

Schütteln zur Traumaheilung

Bevor eine Schütteleinheit mit Ilan beginnt, werden wir deshalb aufgefordert, ein Triggerthema zu wählen. Es soll hier kein tief sitzendes Trauma genommen werden, sondern ein sich wiederholendes, belastendes Thema aus dem Alltag (z.B. Wut auf den Chef, Angst vor Sichtbarkeit, Schuldgefühle wegen zu vielen Süßigkeiten o. Ä.). Dann beginnt im Prinzip direkt die Schütteleinheit.

Drei Phasen des Schüttelns nach Ilan Stephanie

Die Schüttelsequenzen dauern etwa 20 Minuten und untergliedern sich immer in folgende drei Phasen, die von Ilan so angeleitet werden, dass wir nur ihren Worten folgen müssen:

Phase 1: Schütteln, um Energie aufzubauen (ca. 5-7 Minuten)

    • Wir fangen an unseren gesamten Körper zu schütteln.
    • Wir atmen tief durch den Mund ein und aus. 
    • Unser Nervensystem wird aktiviert und Energie wird aufgebaut.

Phase 2: Rein in das Triggerthema (ca. 2 Minuten)

    • Wir stellen das Schütteln vorerst wieder ein.
    • Wir verbinden uns mit dem Thema/Gefühl, das uns im Alltag belastet.
    • Wir beobachten, wie sich unsere Atmung, Körperhaltung und Gefühle verändern.

Phase 3: Schütteln, um frei zu werden (ca. 8-10 Minuten)

    • Wir bleiben bei dem Triggerthema/-gefühl und nehmen das Schütteln wieder auf.
    • Wir gehen so von null auf hundert raus aus dem Belastungszustand rein in die Lebendigkeit!

Die Einhaltung dieser drei Phasen hat selbstverständlich einen bestimmten Grund und ist das Erfolgsrezept von dieser Methodik! Denn die drei Phasen beziehen sich auf die drei Stufen, die uns in ein Leben im Trauma-Überlebens-Modus hineingeführt haben!  

Raus aus dem Trauma-Überlebens-Modus!

Der folgenden Grafik kannst Du entnehmen, von welchen drei Stufen die Rede ist. Es handelt sich um Flucht/Kampf, Erstarrung und Kollaps.

Schütteln zur Regulierung des Nervensystems
Ilans Schüttelmethode ermöglicht Dir nun, diese Stufen wieder hinauf zu klettern, zurück zu einem gesunden Nervensystem. Du gehst also den Weg, der Dich in den Trauma-Überlebens-Modus hineingeführt hat rückwärts:

    1. Du kommst raus aus dem Kollaps, in dem Du lernst, das Nichtspüren wieder zu spüren (besonders in Phase 2) 
    2. Indem Du Deinen Körper bewegst und durch das Schütteln viel Energie aufbaust, kommst Du raus aus der Erstarrung (Phase 1 und 3).
    3. Du dringst zu den beiden Gefühlen vor, die Du im Kampf-Flucht-Mechanismus abspalten musstest: Angst und Wut. (Phase 1-3)

Die Bedeutung von Angst und Wut

Angst und Wut sind die beiden wichtigsten Gefühle auf dem Weg der Ganzwerdung, weil sie maßgeblich an der Entstehung von Trauma beteiligt sind. Angst und Wut sind die beiden Gefühle, die dem Flucht-Kampf-Mechanismus vorgeschaltet sind. Die Angst ist die Basis für die Überlebensstrategie Flucht und Wut ist die Basis für die Überlebensstrategie Kampf.

Die Heilung von Trauma geht demnach letztendlich über das nachträgliche Fühlen von der Angst und der Wut, die damals unterdrückt und abgespalten werden mussten. Sobald es uns gelingt, wieder zu diesen Gefühlen vorzudringen und sie bewusst durch unseren Körper hindurchfließen zu lassen, kann unser Nervensystem in seine ursprüngliche Balance zurückfinden. Wir können uns wieder regenerieren und die jahrelang gebundene emotionale und körperliche Ladung wird als Lebensenergie freigesetzt.

Aber VORSICHT: Was in der Theorie so leicht klingt, ist in der Praxis wirklich heftig! Es handelt sich bei der Angst und Wut immerhin um abgespaltene Traumagefühle! Wenn diese plötzlich aufkommen, kann es sich anfühlen, als ob sich der Boden unter den Füßen auftut.

Ob ich während des Schüttel-Workshops zu meiner Angst oder Wut vorgedrungen bin, welche Herausforderungen mir in den 21 Tagen begegnet sind und warum ich das Schütteln wieder einstellen musste, erfährst Du in meinem abschließenden Erfahrungsbericht.

Meine Erfahrungen mit dem Schüttel-Workshop

Allgemeine Infos zum Kurs

21 Tage lang ging der erstmalig angebotene Online-Kurs „Break Free Movement“, bei dem es sich um eine Kooperationsveranstaltung zwischen Freelosophy.Live und Ilan Stephanie handelte. Die Aufgabe lautete: Schüttle Dich in dieser Zeit einmal pro Tag.

In den insgesamt sechs Live-Calls mit unterschiedlichen Schwerpunktthemen gab es zu dem auch theoretischen Input und die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Außerdem konnten sich alle Teilnehmer/innen in einer Telegram-Gruppe vernetzten, um sich auszutauschen und zu unterstützen.

Die Live-Calls dauerten etwa 90 Minuten und waren in vier Teile untergliedert: Schütteleinheit – Theorieteil – Frage-Runde – Praxisteil (mit weiteren Übungen zur Regulierung des Nervensystems).

Natürlich wurde für uns Kursteilnehmer alles aufgezeichnet. Durch die verschiedenen Schwerpunktthemen (z.B.: Angst, Wut, Scham, Schuld, Ohnmacht, Grenzen etc.) hatten wir am Ende des Kurses also ein gutes Repertoire an angeleiteten Schüttelsequenzen und Übungen zur Regulierung unserer Nervensysteme zur Verfügung.

Am Anfang lief es super!

Ich hatte von Anfang an große Lust auf dieses Experiment und habe mich dementsprechend jeden Tag geschüttelt, sogar über die 21 Tage hinaus! Überraschenderweise musste ich mich an keinem Tag zum Schütteln zwingen oder überwinden. Ganz selbstverständlich habe ich mich jeden Morgen auf meine Yogamatte gestellt, um Ilans Anleitung zu folgen.

Schüttelworkshop
Als Thema für die ersten Tage wählte ich meine Angst vor Sichtbarkeit. Entgegen Ilans Empfehlung, sich einige Tage mit demselben Thema zu schütteln, damit das Nervensystem lernen kann und wir Veränderungen im Alltag beobachten können, switchte ich schon nach zwei oder drei Tagen. Ich wählte jeden Tag etwas anderes, je nachdem, was bei mir an dem Tag gerade aktiv war (Wut, Traurigkeit …). Habe ich damit womöglich schon einen wesentlichen Fehler gemacht?

Zumindest an den ersten Tagen fühlte es sich nicht nach einem Fehler an. Im Gegenteil. Ich nahm eher positive Veränderungen in meinem Alltag wahr, spürte mich mehr in meinem Körper und fühlte mich irgendwie lebendiger und selbstbewusster.

Während einiger Schütteleinheiten kamen zwar ab und zu starke Gefühle wie Traurigkeit, Scham, Schuld und Wut in mir hoch, aber ohne das sie mich im Anschluss weiter belastet haben. Das fühlte sich sehr befreiend an. 

Die Konfrontation mit meiner Angst

Nach etwa einer Woche stand mir in meinem Bürojob eine kleine Herausforderung bevor. Ich sollte eine Schulung vor einigen Kollegen geben. Diese Aufgabe löste Stress in mir aus, weil ich ungern vor Gruppen spreche. Am Tag der Schulung war ich sehr aufgeregt und ängstlich. Ich integrierte diese Gefühle, wozu auch meine Angst vor Sichtbarkeit gehörte, in die Schütteleinheit an diesem Tag und ging danach recht zuversichtlich zur Arbeit. Als ich vor den Kollegen saß, konnte ich leider keine Veränderung zu sonst wahrnehmen. Wie gewohnt war ich extrem nervös und angespannt. Irgendwie habe ich die Schulung dann hinter mich gebracht. Was aber weiter anhielt, waren Anspannung und Angst!  

Es kam in den kommenden Tagen zu kleineren Ereignissen, die mich völlig aus der Bahn geworfen haben. Obwohl es diese Auslöser nicht rechtfertigten, stand ich tagelang unter einem latenten Schockzustand, der von einem Gefühl von Bedrohung begleitet wurde. Ich fühlte mich unsicher, klein und allein. Es waren massive Gefühle, die ich bereits aus der Zeit kannte, in der ich erstmals mit meinen Traumagefühlen in Kontakt gekommen bin.

Im Kontakt mit meinen Traumagefühlen

Bedauerlicherweise konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht richtig einordnen, was bei mir los war. Die Gründe dafür sind mir bis heute ein Rätsel, denn Ilan beschrieb in ihren Vorträgen ja genau dieses Zurückfinden zu seinen Traumagefühlen. Ich habe jedoch zunächst gar nicht begriffen, dass mein Zustand mit dem Schüttelworkshop zusammenhing, weil sich die Gefühle außerhalb der Schütteleinheiten zeigten und nicht währenddessen. Vielleicht war meine Verwirrung aber auch Teil der Traumagefühle, die plötzlich an die Oberfläche kamen?

Nach etwa vier Wochen Schüttelpraxis und dem unterstützenden Austausch mit anderen Teilnehmer/innen in der Telegram-Gruppe erkannte ich dann endlich die Zusammenhänge. Weil es mir aber überhaupt nicht gut ging und ich so überfordert mit meinen Gefühlen war, sah ich mich gezwungen das Schütteln einzustellen.  

Mein Resümee

Im Nachhinein weiß ich, das Schütteln hat bei mir zum vollen Erfolg geführt, denn ich bin zu meiner abgespaltenen Angst vorgedrungen. Deshalb lautet mein Fazit, dass das regelmäßige Schütteln nach Ilan Stephanie das Potenzial hat, Traumata zu heilen. ABER!

Was war bei mir los? Warum sah ich mich gezwungen das Schütteln einzustellen? Ich habe die Theorie, dass ich einige Fehler gemacht habe. Ich bin zu leichtfertig an den Kurs ran gegangen, habe einen Zeitpunkt gewählt, in dem ich nicht besonders stabil war und ich hatte keinerlei Unterstützung im Außen. Ich war also nicht gut auf die Konfrontation mit meiner Trauma-Angst vorbereitet und fühlte mich völlig überflutet. Das Schütteln einzustellen war also zu diesem Zeitpunkt das einzig Richtige, damit ich erst mal wieder in einen Zustand von Sicherheit zurückfinden konnte. 

Für mich steht fest, dass ich den Kurs erneut machen möchte, beim nächsten Mal aber aufmerksamer und besser vorbereitet! Denn hätte ich schon beim ersten Mal die Zusammenhänge verstanden, hätte ich mich mit der Angst bewusst weiter schütteln können. Vielleicht hätte ich sie so endgültig integrieren und von den Erfahrungen meiner Vergangenheit loslösen können. 

Mein Rat an Dich

Wenn mein Beitrag Dich neugierig gemacht hat und Du tiefer in die Materie eintauchen willst, kann ich Dir die Teilnahme an einem von Ilans Online-Kursen grundsätzlich empfehlen, zumal auch das theoretische Wissen sehr bereichernd ist. Bitte mach jedoch nicht denselben Fehler wie ich und stelle vor einer Teilnahme sicher, dass Du folgende zwei Fragen mit ja beantworten kannst:  

  1. Fühlst Du Dich gerade stabil, sicher und in Deiner Kraft?
  2. Hast Du jemanden in Deinem Umfeld, der Dich während der Teilnahme begleiten kann, sei es ein/e gute/r Freund/in oder ein Therapeut/in?

Wenn Du ein klares Ja hast und bereit bist, Deinen Traumagefühlen zu begegnen, dann wünsche ich Dir viel Freude bei Ilans Kursen. Vielleicht hast Du sogar bereits an einem ihrer Schüttelkurse teilgenommen oder anderswo Erfahrungen mit dem Schütteln gemacht. Teile gerne Deine Erfahrungen in einem Kommentar! 

Liebeskummer

Liebeskummer – Warum er sich anfühlt wie ein Trauma

Wir alle kennen ihn – den Herzschmerz, der uns nach einer Trennung den Boden unter den Füßen wegzieht. Liebeskummer wird oft bagatellisiert, obwohl er eine starke seelische Belastung darstellt, die uns regelrecht aus der Bahn werfen kann.

Wenn Du gerade unter Liebeskummer leidest, Dich verzweifelt, kraft- und orientierungslos fühlst, wird Dir der folgende Beitrag helfen. Du findest heraus, warum sich der Trennungsschmerz wie ein Trauma anfühlt und wieso er auch eine Chance zur Traumaheilung darstellt. Nach dem Lesen wirst Du mehr Verständnis für Deinen aktuellen Zustand haben und Zuversicht dafür entwickeln, dass Du den Liebeskummer gesund und nachhaltig verarbeiten kannst.

Wann entsteht Liebeskummer?

Liebeskummer bezeichnet die emotionale Reaktion auf eine verloren gegangene partnerschaftliche Liebe. Er entsteht durch die physische Trennung von dem Menschen, zu dem oder der Du eine Bindung aufgebaut hast. Häufig wird davon ausgegangen, dass der Beziehungsteil, von dem die Trennung ausgegangen ist, stärker unter dem Verlust leidet. Das muss jedoch nicht immer zutreffen und ist abhängig vom Trennungsgrund.

Egal in welcher Position Du Dich befindest, Du hast einen nahestehenden Menschen verloren, mit dem Du gemeinsame Erfahrungen, Erinnerungen und Zukunftspläne geteilt hast. Es ist ganz natürlich, dass diese Veränderung Gefühlsreaktionen in Dir auslöst, die von Deinem Nervensystem verarbeitet werden wollen.

Wie äußert sich Liebeskummer?

Die Merkmale von Liebeskummer ähneln häufig den Symptomen von Trauma. Denn wenn der wichtigste Bezugspunkt in Deinem Leben plötzlich nicht mehr da ist, kann der Schmerz darüber wie eine existenzielle Bedrohung wirken.

Liebeskummer

Neben Trauerreaktionen in Form von sozialem Rückzug und weinen leidest Du vielleicht vermehrt unter Ängsten. Du fängst an, an Dir selbst zu zweifeln, fühlst Dich allein, klein und wertlos. Deine Gedanken überschlagen sich und sind in Negativspiralen gefangen. Deine tiefe Traurigkeit überträgt sich auf Deinen Körper. Du fühlst Dich schlapp, hast Schmerzen und bist in Deinem Ess- und Schlafverhalten beeinträchtigt. Im schlimmsten Fall kann sich dieser Zustand sogar zu einer Depression entwickeln.

Viele Menschen greifen zu Alkohol, Medikamenten oder Drogen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Eine Lösung ist das jedoch nicht. Im Gegenteil, auf diese Weise schaden wir unserem Körper und verschlechtern auch unseren mentalen Zustand langfristig betrachtet noch mehr.

Fühlt sich Liebeskummer für jeden gleich an?

Wie bereits erwähnt sind Trennungen immer mit schmerzlichen Gefühlen verbunden und doch fühlt sich Liebeskummer nicht für jeden gleich an. Bestimmte Faktoren beeinflussen unseren individuellen Umgang mit Liebeskummer. So spielen unser Hormonhaushalt, unsere persönliche Resilienz und psychische Vorbelastungen eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von Trennungsschmerz.

Hormone

In einer Beziehung produziert unser Körper das sogenannte Bindungshormon Oxytocin. Auch Kuschelhormon genannt, stärkt es in uns das Gefühl von Vertrauen und Bindung und reduziert Stress. Nach einer Trennung nimmt die Oxytocinproduktion ab. Die Folgen können innere Unruhe auf der einen und Antriebslosigkeit auf der anderen Seite sein. Wir fühlen uns dann wie auf einem schmerzhaften Drogenentzug. Dieser Zustand scheint manchmal so unerträglich, dass wir unseren Partner mit allen Mitteln zurückgewinnen wollen, selbst dann, wenn wir die Trennung selbst veranlasst haben.

Persönliche Resilienz

Wie wir auf eine Trennung reagieren, hängt auch von unserer persönlichen Resilienz oder Anpassungsfähigkeit ab. Welche Eigenschaften es sind, die für eine gute Resilienz sprechen, verraten uns die sieben Säulen der Resilienz, welche hier nur kurz erwähnt und nicht genauer beschrieben werden:

    1. Akzeptanz
    2. Optimismus
    3. Lösungsorientierung
    4. Opferrolle verlassen
    5. Verantwortung übernehmen
    6. Netzwerke aufbauen
    7. Zukunft planen

Wie stark diese Säulen jeweils in uns ausgeprägt sind, ist abhängig von unseren Lebenserfahrungen, familiären Verhältnissen und sozialen Prägungen. 

Selbstverständlich sind resiliente Menschen auch nicht frei von Liebeskummer. Auch sie trauern um ihren Verlust und sind zeitweise niedergeschlagen, verzweifelt oder orientierungslos. Die Fähigkeit zur Selbsthilfe ist bei ihnen jedoch stärker ausgeprägt als bei weniger resilienten Menschen, sodass sie schneller über einen Verlust hinwegkommen.

Psychische Vorbelastungen (Trauma-Biografie)

In keinem Lebensbereich werden wir so stark mit unseren psychischen Vorbelastungen in Form von Traumata konfrontiert wie in unseren Liebesbeziehungen.
Haben wir bereits in frühen Jahren traumatische Erfahrungen gemacht, die mit Todesangst verbunden waren, kommen wir spätestens bei einer Trennung damit in Berührung. 

Trennungsschmerz

Aus der Bindungstheorie wissen wir, dass Babys und kleine Kinder ohne psychische und physische Nähe zu anderen nicht überleben können. Das wir heute am Leben sind bedeutet aber nicht, dass bei uns diese elementaren Bedürfnisse jederzeit gestillt wurden. Sind wir beispielsweise von einem Elternteil abgelehnt wurden oder hat man uns schreien lassen, war das für unsere Existenz tatsächlich lebensbedrohlich. Auch wenn wir keine bewussten Erinnerungen mehr daran haben, leiden wir durch derartige Erfahrungen an den Folgen von Bindungs- und/oder Entwicklungstraumata.

Mussten wir im Laufe unseres Lebens mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen durch Tot, Trennung oder Scheidung umgehen und konnten diesen nicht ausreichend verarbeiten, haben wir mit großer Wahrscheinlichkeit ein Verlusttrauma erlitten. Wenn Gewalt und Missbrauch unser Leben geprägt haben, sind weitere unverarbeitete Traumatisierungen sehr wahrscheinlich.

Kann Liebeskummer zu einer (Re-) Traumatisierung führen?

Auch wenn eine Trennung als ein überwältigendes Ereignis wahrgenommen werden kann, das den Anschein macht, es nicht überleben zu können, kann hier nicht von einer Retraumatisierung gesprochen werden. Was traumatisierend erscheint, ist in Wahrheit „nur“ ein Trigger. 

Durch die Trennung von unserem Geliebten oder unserer Geliebten trifft der Herzschmerz auf unsere unverarbeiteten Kindheitstraumata und ruft diese wieder wach. Dies erklärt auch, warum wir uns in einem Trennungsprozess häufig wie ein kleines Kind fühlen: einsam, allein und unfähig zu überleben.

Eine Re-traumatisierung würde bedeuten, dass wir erneut einer Situation ausgesetzt sind, die der damaligen gleicht. Rein objektiv betrachtet ist das jetzt, wo wir erwachsen sind, nicht mehr der Fall. Auch wenn wir allein sind, ist jetzt unser Leben davon nicht mehr bedroht. Im Vergleich zu damals sind wir im Hier und Jetzt handlungsfähig und in der Lage, all die schmerzlichen Gefühle liebevoll anzunehmen. Wir werden den Liebeskummer überleben und so aus dem alten Modus er-wachsen.

Phasen von Liebeskummer

Um Deine Gefühle oder das Gefühlschaos, das Du gerade erlebst, besser einordnen zu können, ist es hilfreich, Dir die vier Phasen von Liebeskummer bewusst zu machen. Sie verdeutlichen Dir, dass Dein aktueller Zustand normal ist und auch wieder vorübergehen wird.

1. Nicht-wahrhaben-wollen-Phase

Diese Phase wird maßgeblich durch unseren Hormonhaushalt herbeigeführt. Wie bereits erwähnt, nimmt nach einer Trennung die Bildung des Bindungshormons Oxytocin ab. Wir fühlen uns dadurch wie auf einem Drogenentzug. Letztendlich sind wir auch Entzug, nämlich von dem bisher geliebten Menschen. Die Trennung in dieser Phase anzuzweifeln, auch wenn sie von uns selbst ausgegangen ist, ist eine typische Begleiterscheinung.  Auch das Leugnen der Trennung als Verlassene oder Verlassener ist typisch. Wir wollen nicht wahrhaben, dass die Beziehung vorbei ist und hoffen, dass für alles noch eine Lösung gefunden werden kann.

2. Phase von Akzeptanz und Trauer

Dass die Trennung real ist, begreifen wir in der zweiten Phase. Wir beginnen jetzt um unseren Verlust zu trauern und haben Liebeskummer. Damit wir unsere Trennung wirklich gut verarbeiten, ist es sehr wichtig, all unseren Gefühle Raum zu geben.

Häufig entwickeln wir in dieser Phase auch Groll oder sogar Rachefantasien, weil wir uns ungerecht behandelt fühlen. Dahinter verbirgt sich meist Wut, die auch gefühlt werden will, ohne dass wir sie an uns selbst oder dem Ex-Partner ausagieren.

3. Phase der Selbstreflexion

In der dritten Phase der Selbstreflexion beginnen wir die Trennung weniger emotional zu betrachten. Wir erkennen, welche Gründe zum Scheitern der Beziehung geführt haben und sind in der Lage, unseren eigenen Anteil daran zu sehen. Es kann durchaus sein, dass wir noch immer traurig über den Verlust sind, aber wir öffnen uns jetzt auch der Möglichkeit, dass unser Leben von nun an ohne den Ex-Partner weitergeht. Vielleicht sind wir sogar in der Lage anzuerkennen, dass die Trennung ein wichtiger Schritt für unsere eigene Entwicklung war.  

4. Phase der Neuorientierung

Liebeskummer verarbeiten

Abschließend kommt es zur Phase der Neuorientierung, in der wir unser Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Diese Phase erkennen wir durch unsere zunehmende Neugier auf das Leben und die Offenheit für Neues. Wir stecken uns neue Ziele und widmen uns endlich wieder den Dingen, die uns Freude bereiten (z. B.: Sport, Kunst, Wandern, Tanzen etc). Die Trennung ist verarbeitet und wir fühlen uns emotional wieder stabil.

Bis es zur Phase der Neuorientierung kommt, ist es möglich, dass wir zwischen den drei vorherigen Phasen hin und her pendeln. Das ist Teil des Verarbeitungsprozesses und ganz normal. Wir sollten uns also nicht unter Druck setzen, egal wie lang es insgesamt dauert.  

6 Tipps zum Verarbeiten von Liebeskummer

Wie bereits erwähnt bist Du Deinem Trennungsschmerz nicht schutzlos ausgeliefert. Als erwachsener Mensch bist Du handlungsfähig und kannst Dir bei der Verarbeitung Deines Liebeskummers Hilfe suchen. Vielleicht gelingt es Dir sogar, die Trennung als Chance zu betrachten, um Deine alten Traumawunden zu heilen. Die folgenden Tipps sollen Dich bei der Verarbeitung Deiner Trennung unterstützen und Dir helfen, in einen Zustand von Stabilität und Sicherheit zurückzufinden.

Bleib Abstinent!

Mach Dir bewusst, dass Du Dich nach einer Trennung auf einem hormonellen Entzug befindest. Wenn Du immer wieder Kontakt zum Ex-Partner suchst, wirst Du nicht von der „Sucht“ loskommen und verlängerst Deinen Leidenszustand. Vermeide persönliche Begegnungen und andere Arten der Kontaktaufnahme (Anrufe, SMS, Nachrichten auf sozialen Medien), so gut es geht. Versuche bewusst Deine Gedanken von ihm oder ihr abzulenken, ohne Dir selbst dabei zu schaden. Statt in Erinnerungen zu schwelgen oder darüber nachzugrübeln, was falsch gelaufen ist, lenke Deine Aufmerksamkeit immer wieder in die Gegenwart.

Nimm Unterstützung an

Es ist normal, wenn Du Dich nach einer Trennung eine Zeit lang zurückziehen willst. Irgendwann solltest Du aber wieder aus Deinem Schneckenhaus herauskommen und die Unterstützung von Freunden, Bekannten und der Familie annehmen. Auch andere soziale Kontakte (Arbeitskollegen, Selbsthilfe-, Fitnessgruppen) können Dir dabei helfen zu begreifen, dass Du nicht allein bist und Dein Leben auch ohne Deinen Partner oder Deine Partnerin einen Sinn hat.

Erlaube Deine Gefühle

Auch wenn die Trennungsgefühle sehr schmerzhaft sind, ist Verdrängung keine Lösung. Statt Dich abzulenken oder direkt in eine neue Liebschaft zu stürzen, solltest Du versuchen, Deine Gefühle zuzulassen und zu fühlen. Trauer und Wut sind wichtig, um über Deinen Verlust hinwegzukommen. Versuche herauszufinden, welche Geschenke diese Gefühle für Dich bereithalten. Verbirgt sich hinter der Trauer womöglich Selbstliebe? Und schenkt Dir die Wut vielleicht innere Klarheit und Stärke?

Finde zu Deinem inneren Kind

Wir alle tragen ein verletztes Kind in uns, dass unter den unverarbeiteten Traumawunden leidet, die jetzt wach gerufen wurden. Indem Du Dich diesem Kind-Anteil in Dir zuwendest, heilst Du nicht nur Deinen Liebeskummer, sondern auch Deine Traumata. Wie Du den Zugang zu Deinem inneren Kind findest und es heilen kannst, erfährst Du in folgendem Beitrag:

Dein inneres Kind
Die wichtigste Beziehung in Deinem Leben! 

Inneres Kind


Fokussiere Dich auf Kraftquellen und Positives

Fokussiere Dich auf die positiven Dinge in Deinem Leben und alles, wofür Du dankbar bist. Finde Deine persönlichen Kraftquellen und schöpfe so oft es geht aus ihnen. Yoga, Meditation oder Atemübungen können genauso hilfreich sein wie Naturerfahrungen, Sport oder Kreatives (Basteln, Malen, Singen). Was hat Dir in der Vergangenheit immer gutgetan? Zögere nicht und tu es wieder, solange es Dir und anderen nicht schadet.

Such Dir therapeutische Unterstützung

Um Hilfe zu bitten, wenn Du Dich von schmerzlichen Gefühlen überwältigt fühlst, kennzeichnet ein liebevolles und verantwortungsbewusstes Verhalten Dir selbst gegenüber. Scheue Dich also nicht davor, Dir Hilfe zu suchen, sei es bei einem Therapeuten, einer Selbsthilfegruppe oder im Rahmen eines Coachings. Gerade jetzt gibt es auch online sehr viele Angebote.

Bitte setze Dich auch bei der Umsetzung dieser Tipps nicht unter Druck. Räume dem Prozess die Zeit ein, die er nun mal braucht. Egal ob es Wochen, Monate oder sogar Jahre sind. Wenn Du gut für Dich sorgst und Dir die Tipps zu Herzen nimmst, wird es aber sicher keine Jahre dauern, um über den Verlust hinwegzukommen. Indem Du Dir Zeit lässt, stellst Du außerdem sicher, dass Du die Trennung wirklich verarbeitest und keine Altlasten in eine neue Beziehung überträgst.

Sei Dir gewiss, dass Du am Ende geheilt und gestärkt aus dieser Phase Deines Lebens herauskommen wirst. Zweifellos folgt nach jedem Regen auch wieder Sonnenschein.

Liebeskummer verarbeiten

Wie bist Du nach Deiner letzten Trennung mit dem Herzschmerz umgegangen? Weißt Du noch, was Dir am meisten geholfen hat? Teile Deine Erfahrungen gerne in einem Kommentar, damit andere wissen, dass sie damit nicht allein sind. Teile diesen Beitrag bitte auch mit Menschen, die gerade unter Liebeskummer leiden. Herzlichen Dank! ♥

Schön, dass Du da bist!

Finanzielles Trauma

Trauma und Geld – Finanzielles Trauma verstehen und heilen

Statistiken zufolge leben 13,4 Millionen Menschen in Deutschland in Armut. Obwohl so viele Menschen Mangel leiden, gibt es relativ wenige Quellen, die sich mit den Ursachen von finanziellen Problemen des Einzelnen auseinandersetzen. Ein wenig bekannter, aber häufiger Grund ist ein finanzielles Trauma. Entweder durch selbst gemachte Erfahrungen in der Kindheit oder transgenerational übernommene Traumata. Woran Du so ein finanzielles Trauma erkennst, wie es sich auf Deinen Umgang mit Geld auswirkt und wie Du es heilen kannst, erfährst Du in diesem Beitrag.

Was formt unseren Umgang mit Geld?

Der Ursprung unseres Denkens und Handelns liegt in tief verwurzelten Überzeugungen und verinnerlichten Glaubenssätzen. Diese Glaubensmuster haben wir uns meist nicht selbst ausgesucht. Sie sind das Resultat unserer Erziehung sowie der Prägungen unserer Kindheit und schlummern größtenteils in unserem Unterbewusstsein.

Als Kinder sind wir wie Schwämme. Sehr aufmerksam nehmen wir alles aus unserer Umgebung auf. Unsere nahen Bezugspersonen sind für uns wie Götter und was sie uns vorleben, speichern wir unbewusst als Vor-Bild ab.

Wenn Du immer wieder in finanziellen Schwierigkeiten steckst oder Geld für Dich ein leidiges Thema ist, weil einfach nicht genug davon da ist, dann hast Du mit großer Wahrscheinlichkeit negative und begrenzende Überzeugungen über Geld verinnerlicht. Vielleicht hast Du als Kind immer wieder ähnliche Sätze wie diese zu hören bekommen:

  • “Bei Geld hört die Freundschaft auf”
  • „Geld muss man sich erst verdienen“
  • „Für Geld muss man hart arbeiten“,
  • „Über Geld spricht man nicht“,
  • „Geld stinkt“.

Womöglich hast Du auch mitbekommen, wie sich Deine Eltern oder andere Bezugspersonen wegen der Finanzen viel gestritten haben. Entweder hast Du dann verinnerlicht, dass Geld nur Ärger einbringt und Du besser die Hände davonlassen solltest oder Du hast den Schluss gezogen, dass es wichtig ist, Geld zu haben, um sich später nie streiten zu müssen.

In beiden Fällen hast Du ein Thema mit Geld. Wenn Deine Eltern ein angespanntes Verhältnis zu Geld hatten, kannst Du davon ausgehen, dass Du ein genauso angespanntes Verhältnis in Dein Erwachsenenleben übernommen hast.

Finanzielles Trauma - Geldprobleme

Warst Du als Kind von traumatischen Erfahrungen betroffen, musstest Du mithilfe von Bewältigungsmechanismen Dein Überleben sichern. Auch dieser Überlebenskampf hat Dich geprägt und es ist durchaus möglich, dass Du ihn im Umgang mit Geld aufrechterhältst. Eine ständige, mit Angst verbundene Fixierung auf das Thema Geld kann eine Reinszenierung unserer frühen Traumatisierungen darstellen, genauso wie Bindungsängste eine Reinszenierung früher Bindungstraumata darstellen. Ein finanzielles Trauma ist das jedoch nicht.

Was ist ein finanzielles Trauma?

Von einem finanziellen Trauma sprechen wir erst dann, wenn der Mangel an Geld zum Dauerstress wird und mit eigenen Ressourcen nicht mehr bewältigt werden kann. Wenn das eigene Leben bedroht ist, weil die finanziellen Mittel fehlen, um sich Obdach leisten und Nahrung kaufen zu können, ist das lebensbedrohlich, besonders für ein Kind.

“Finanzielle Traumatisierungen sind eine dysfunktionale Reaktion auf chronischen finanziellen Stress. Die Indikatoren ähneln oft posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Sie manifestieren sich in mehreren Bereichen des Lebens und verhindern oft, dass sich Betroffene jemals erfolgreich, sicher oder wohl fühlen, wenn es ums Thema Geld geht“. (Anya Meyerowitz, Q~E.T.)

Wenn Deine Eltern beispielsweise ihre Arbeitsstellen verloren hatten und dadurch in finanzielle Not geraten sind, als Du noch ein Baby warst, bedeutete das auch für Dich enormen Stress. Ohne zu wissen, wie das Leben funktioniert und was Geld überhaupt ist, war Dein Leben durch den Mangel an Geld bedroht. Vielleicht gab es nicht ausreichend zu essen oder Deine Eltern konnten die Heizkosten nicht zahlen, sodass Du frieren musstest und womöglich habt ihr sogar euer zu Hause verloren. Je nachdem, wie intensiv und lang eine solch belastende Zeit ist, kann sie zu einem finanziellen Trauma führen.

Finanzielles Trauma übernommen

Mögliche Anzeichen für ein finanzielles Trauma

Die Indikatoren von finanziellen Traumata ähneln häufig denen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und betreffen mehrere bis hin zu allen Lebensbereichen:

  • Vermeidung und Verdrängung des Geschehens oder die Auseinandersetzung mit dem Thema Geld
  • unwillkürliches Erinnern und Wiedererleben (oft nur emotional oder körperlich) der belastenden Situation (Armut, Kälte, Hungersnot, Obdachlosigkeit)
  • Allgemeine Ängste, Nervosität, Reizbarkeit, Aggressivität oder auch Taubheit der Gefühle sowie Interessensverlust.

Ich persönlich habe in Bezug auf Geld einige dieser Anzeichen bei mir beobachten können. Vor allem, wenn es mal wieder eng wurde, habe ich oft mit starken Emotionen wie Angst, Nervosität und Reizbarkeit zu tun gehabt. Obwohl es rückblickend irrational ist, hatte ich oft Angst, mir nicht genug Essen kaufen zu können und daran letztlich zu sterben. Doch wo kam diese schreckliche Angst her? Ich selbst habe in meiner Kindheit keinen finanziellen Mangel miterlebt.

Selbst wenn es Dir in Deiner Kindheit nie an etwas gefehlt hat, kann es sein, dass Du von einem finanziellen Trauma betroffen bist. Denn viele Menschen leiden auch unter transgenerational übernommenen Traumatisierungen.

Übernommenes finanzielles Trauma

Aus der Epigenetik wissen wir, dass Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden können. Gerade in den Nachkriegsgenerationen kommen finanzielle Traumata als weitergegebenes, unbewusstes Glaubenssystem deshalb sehr häufig vor.

Waren unsere Großeltern in Kriegszeiten, Obdachlosigkeit und Hungersnot infolge von finanzieller Knappheit ausgesetzt, war dieser lebensbedrohliche Zustand nicht zu bewältigen. Durch das Empfinden von Ohnmacht und Ausgeliefertsein kam es zu einer Übererregung des Nervensystems und einer psychischen Spaltung. Zahlreiche Bewältigungsmechanismen mussten zum Tragen kommen, die, solange dieses Trauma nicht aufgearbeitet wurde, an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden.

Der uns allen bekannte Glaubenssatz: „Über Geld spricht man nicht“ kann beispielsweise ein Anzeichen für ein finanzielles Trauma sein, denn er fungiert als Verdrängungsmechanismus, um sich nicht mit dem belastenden Thema (Geld) auseinandersetzen zu müssen.

Wie beeinflusst ein finanzielles Trauma Dein Leben?

Um besser einordnen zu können, ob auch Du unter einem selbst erlebten oder übernommenen finanziellen Trauma leidest, möchte ich Dir nachstehend aufzeigen, wie ein solches Dein Leben beeinflussen kann.  

  • Starke, meist negative Gedanken und Gefühle in Bezug auf Geld
  • Begrenzende Glaubenssätze und Überzeugungen in Bezug auf Geld
  • Wiederkehrender Mangel an Geld (Budgetüberschreitungen; zu geringes Einkommen; Anhäufung von Schulden; mehr ausgeben als vorhanden)
  • Zwanghaftes Sparen von Geld oder Anhäufen von materiellen Dingen
  • Arbeiten bis zur Erschöpfung, um Geld zu verdienen
  • Irrationale Existenz-Ängste vor Armut, Hungersnot, Obdachlosigkeit etc.
  • Vermeidung der Auseinandersetzung mit allem, was mit Geld zu tun hat
  • Finanzielle Abhängigkeit zu Ehepartner, Elternteil oder Geschwistern
  • Mangel am eigenen Selbst-WERT (besonders im Umgang mit erfolgreichen Menschen)

Die meiste Zeit meines Lebens konnte ich nicht gut mit Geld umgehen. Selbst als ich gut verdiente, war am Ende des Monats doch immer zu wenig vorhanden. Auch die intensive Auseinandersetzung mit meinen Glaubenssätzen führte nicht zu nachhaltigen Veränderungen. Heute weiß ich, dass es an den übernommenen Traumatisierungen meiner Eltern und Großeltern lag. 

Erst mit Mitte dreißig, als ich den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen habe, erkannte ich, dass ich mich in einem finanziellen Abhängigkeitsverhältnis mit meiner Mutter befand. 

Dass sie in ihrer Kindheit Mangel leiden musste, kompensierte sie bei meinem Bruder und mir mit materiellem Überfluss. Durch diese Bewältigungsstrategie hat es mir finanziell glücklicherweise nie an etwas gefehlt. Selbstständig mit Geld umzugehen, habe ich dadurch jedoch nie gelernt.

Finanziell abhängig

Als ich erwachsen war, bot meine Mutter mir bei jeder Gelegenheit Geld an. Manchmal hat sie es mir regelrecht aufgezwungen, obwohl es mir unangenehm war. Ich schämte mich, wenn ich sie bei Engpässen um Geld bitten musste. Gleichzeitig wusste ich aber, dass sie es mir gerne gibt und machte deshalb öfter davon Gebrauch. 

Ohne den Kontakt zu ihr war ich plötzlich das erste Mal in meinem Leben finanziell ganz auf mich allein gestellt. Das konfrontierte mich mit den bereits weiter oben beschriebenen Existenzängsten. Die Angst zu verhungern, hatte aber nichts mit meiner Realität zu tun. Es war nicht mein eigenes Gefühl, sondern ein übernommenes finanzielles Trauma meiner Mutter und ihren Eltern. 

Wie heile ich ein finanzielles Trauma?

Sobald Du festgestellt hast, dass auch Du unverarbeitete finanzielle Traumatisierungen in Dir trägst, helfen Dir diese drei Schritte, um zu heilen:

1. Zuwendung und Akzeptanz

Um ein finanzielles Trauma zu heilen und nicht erneut an nachfolgende Generationen weiterzugeben, ist es notwendig, Dich dem übernommenem oder selbst erlebtem Trauma zuzuwenden und die Gefühle zu fühlen, die das in Dir auslöst.

Vielleicht empfindest Du es als ungerecht, dass die Aufarbeitung jetzt an Dir hängen bleibt, wenn Du ein übernommenes Trauma vermutest. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn Deine Eltern ihre finanziellen Traumatisierungen selbst geheilt hätten. Jetzt ist die Situation aber so, wie sie ist und wenn Du aus dem Opfermodus aussteigen willst, um jetzt die Verantwortung für Deine finanzielle Situation zu übernehmen, dann musst Du den Fokus ganz auf Dich selbst richten.

Wir können nicht die anderen verändern,
sehr wohl aber uns selbst.

Auf meiner Info-Seite Traumaheilung habe ich acht Einflussfaktoren zusammengefasst, die für die Heilung von Traumatisierungen allgemein maßgeblich sind. Die acht Säulen der Traumaheilung können Dir auch bei der Heilung finanzieller Traumatisierungen behilflich sein. 
Eine wesentliche Säule ist die Akzeptanz. Trau Dich hinzusehen und Dir einzugestehen, dass es passiert ist. 

Ob Du zur Aufarbeitung von finanziellen Traumatisierungen eine Therapie benötigst, hängt davon ab, wie massiv es sich auf Dein Leben auswirkt. Wenn Du kaum über die Runden kommst und Dein weniges Geld womöglich für Suchtmittel oder Ähnliches ausgibst, solltest Du eine Therapie ernsthaft in Betracht ziehen. Ich persönlich bin ein großer Freund von therapeutischer Unterstützung, denn in uns allen schlummert viel mehr Potenzial, als wir leben. Ein Therapeut oder eine Therapeutin helfen uns dabei, all die Schichten (Traumatisierungen) abzutragen, die dieses Potenzial noch verdecken.

2. Aktualisierung Deiner Gedanken und Gefühle in Bezug auf Geld

Im nächsten Schritt ist es sinnvoll, Dir über Deine verinnerlichten Glaubenssätze und Überzeugungen in Bezug auf Geld bewusst zu werden. Vermutlich wirst Du in diesem Prozess mit all den Gefühlen konfrontiert, die das finanzielle Trauma ausmachen: Existenzangst, Verzweiflung, Wut, Scham, Traurigkeit etc. Es ist wichtig, dass Du diese Gefühle zulässt und fühlst. Sei dabei aber geduldig und liebevoll mit Dir.

Schreib alle Glaubenssätze auf, die Dir in den Sinn kommen, wenn Du Dich an Deine Kindheitserfahrungen mit Geld erinnerst. Anschließend kannst Du all die Sätze, die sich begrenzend und schmerzlich anfühlen, verabschieden, indem Du sie gegen Neue ersetzt.

Überlege Dir, wie Du ab jetzt über Geld denken willst und vor allem, wie Du Dich damit fühlen willst. Wie würde es sich denn anfühlen, wenn Du Dir alles leisten könntest? Würdest Du Dich sicher, freudvoll und frei fühlen?

Am Abend vorm Einschlafen und/oder morgens direkt nach dem Aufwachen solltest Du dann regelmäßig Deine neuen Formulierungen durchlesen. Oder Du sprichst sie Dir auf und hörst sie Dir immer wieder an. Du kannst Dir auch Post-its oder hübsche Kärtchen mit Deinen neuen Glaubenssätzen basteln und überall in Deiner Wohnung verteilen. Deiner Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. 

Es braucht eine Zeit, um die Überzeugungen zu überschreiben, die wir so viele Jahre verinnerlicht haben. Aber wenn wir bestimmte Sätze oft genug wiederholen, werden sie irgendwann auch wahr. Manchmal sogar schneller, als man denkt.

-> Transformiere negative Glaubenssätze in sieben Schritten. <- 

3. Veränderung Deines Verhaltens (Deiner Handlungen) im Umgang mit Geld

Dein bisheriger Umgang mit Geld hat Dich dahin geführt, wo Du heute finanziell stehst. Um daran nachhaltig etwas zu verändern, braucht es neue Handlungsweisen.  

Ausgaben minimieren und sparen
Es ist gar nicht so schwer zu lernen, wie man sinnvoll mit Geld umgeht. Ein Haushaltsbuch ist ein guter Ansatz, um Dir zunächst einen Überblick darüber zu verschaffen, wo Du aktuell stehst und wie hoch Deine monatlichen Einnahmen und Ausgaben sind. Außerdem wirst Du dadurch erkennen, welche Ausgaben vielleicht nicht notwendig sind, sodass Du auch Geld sparen kannst. Denn sparen sollte für Dich ab jetzt an Attraktivität gewinnen. Sei es nur 1,00 € pro Tag, mit dem Du lernst, dass auch Du sparen kannst.  

Finanzielle Unabhängigkeit

Neue Einkommensquellen finden
Als Nächstes kannst Du überprüfen, ob es Möglichkeiten gibt, Deine Einnahmen zu erhöhen. Vielleicht kannst Du Dir einen besser bezahlten Job suchen oder endlich nach einer Gehaltserhöhung fragen. Vielleicht finden sich in Deiner Wohnung auch noch einige Schätze, die Du auf Ebay Kleinanzeigen gewinnbringend verkaufen kannst. Stellst Du gerne eigenen Schmuck her oder bist anderweitig künstlerisch begabt? Oder kannst Du vielleicht besonders gut eine Fremdsprache sprechen oder Texte formulieren? Mache Dein Hobby zu einer zusätzlichen Einnahmequelle. Die Zeit dafür ist optimal.

Geld für Dich arbeiten lassen
Sobald Du etwas Geld zusammengespart hast, kannst Du anfangen, Dein Geld clever zu investieren, sodass es für Dich wächst. Auf der Bank liegt es vielleicht ganz gut, aber Zinsen gibts heutzutage keine mehr. Du musst kein Finanzgenie sein und auch kein BWL-Studium absolvieren, um Geld sinnvoll anzulegen. Du brauchst nur etwas Neugier, um von den zahlreichen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, alles im Umgang mit Geld neu zu lernen: Bücher, Gruppen, Blogs, Online-Seminare und Coaches warten nur darauf, ihr Wissen an Dich weiterzugeben, um Dich zu neuen Handlungsweisen zu inspirieren.

Ich selbst arbeite seit Jahren mit der Transformation alter Glaubenssätze und habe bereits einige Bücher zum Thema gelesen. Das Buch *„Der Weg zur finanziellen Freiheit“ von Bodo Schäfer war eine echte Offenbarung und hat meinen Umgang mit Geld nachhaltig verändert. Inzwischen schaue ich vertrauensvoll und ohne belastende Gefühle in meine finanzielle Zukunft. Ich habe mittlerweile sogar richtig Spaß daran, mich um mein Geld zu kümmern und das kann Dir schon bald genauso gehen!

Immer wieder bin ich fasziniert davon, wie das (An-) Erkennen von Traumatisierungen und die Zuwendung zu den schmerzlichen Gefühlen letztlich dazu führt, wieder ein bisschen über mich selbst hinaus zu wachsen. Was ich bisher über Geld wusste, war nicht viel und es war geprägt von Traumatisierungen meiner Verwandtschaft. Jetzt darf ich alles über Geld ganz neu kennenlernen, auch das Potenzial, das es meinem Leben bietet.  

Wie geht es Dir nach dem Lesen dieses Beitrags? Hast Du vorher schon mal von finanziellen Traumatisierungen gehört? Glaubst Du selbst betroffen zu sein oder hast Du vielleicht andere Heilungsansätze gefunden, die Du hier teilen magst? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!

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Quellenverweise: 

Schäfer, Bodo (2018): Der Weg zur finanziellen Freiheit. Ihre erste Million in 7 Jahren, Bergisch Gladbach

Meyerowitz, Anja (2021): Finanzielle Traumata: So überwindest Du sie. Abgerufen am 12.01.2022, von https://www.refinery29.com/de-de/finanzielle-traumata-ueberwinden-tipps

Reiblein, Jana: Finanzielle Belastung kann zu schmerzen führen. Abgerufen am 14.01.2022, von https://www.wiwo.de/technologie/forschung/stress-durch-unsicherheit-finanzielle-belastung-kann-zu-schmerzen-fuehren/12997500.html

Bin ich traumatisiert

Habe ich ein Trauma? Woran Du erkennst, dass Du traumatisiert bist

Glücklicherweise rückt das Thema Trauma in unserer Gesellschaft mehr und mehr in den Blickpunkt und wird öffentlich diskutiert. Dadurch stellen sich Menschen vermehrt die Frage, ob sie womöglich selbst traumatisiert sind. Mit diesem Beitrag versuche ich Licht ins Dunkel zu bringen, indem ich Merkmale aufzeige, die auf Traumatisierungen hindeuten können.
Für ein besseres Verständnis empfehle ich Dir, falls Du es noch nicht getan hast, meine Infoseiten “Was ist Trauma”, “Arten von Trauma” und “Überlebensmechanismen” durchzulesen.

Wieso fällt das Erkennen von Traumatisierungen so schwer?

Am leichtesten zuordnen lässt sich ein Traumahintergrund beim sogenannten Schocktrauma, welches nach außergewöhnlichen Bedrohungssituationen wie Krieg, Naturkatastrophen oder Unfällen auftritt. Betroffene entwickeln nach derartigen Erfahrungen verschiedene Symptome zum Beispiel unwillkürliches Erinnern und Wiedererleben der belastenden Situation (Flashbacks), Vermeidung und Verdrängung des Geschehens, Nervosität, Angst, Reizbarkeit, Aggressivität oder Taubheit der Gefühle sowie Interessensverlust.

Dieselben Symptome können auch bei anderen Trauma-Arten auftreten, mit dem Unterschied, dass der Auslöser nicht bekannt ist. So fällt das Erkennen von Entwicklungstrauma (Bindungstrauma und sexuelles Trauma eingeschlossen) und generationsübergreifendem Trauma deutlich schwerer, weil sie ihren Ursprung häufig vorgeburtlich oder in sehr jungen Jahren haben. Es sind dann keine bewussten Erinnerungen an die Traumasituationen in uns vorhanden.

Außerdem reagieren wir auf ein Trauma mit einem Schutzmechanismus, der zwar unser Überleben sichert, uns aber lang anhaltend den Zugang zu den traumatisierenden Ereignissen verwehrt. Es handelt sich dabei um die psychische Spaltung, die ich nachfolgend genauer beschreibe.

Psychische Spaltung durch Trauma

Traumatisiert - Anteile
Hast Du manchmal das Gefühl, verrückt zu sein? Oder sogar schizophren? Kannst Du Dir nach manchen Deiner Reaktionen oder Gefühlsausbrüche selbst nicht mehr erklären, wieso Du Dich so und nicht anders verhalten hast? Den meisten Menschen mit Traumahintergrund geht es so oder ähnlich. Das liegt daran, dass wir uns, um eine traumatische Situation zu überleben, psychisch spalten mussten. In seinem Spaltungsmodell legt Dr. Franz Ruppert drei entscheidende Anteile zugrunde, die in uns aktiv sind und zwischen denen wir situationsbedingt hin und her wechseln:

Traumatisierter Anteil:

Der traumatisierte Anteil ist der psychische Anteil, welcher der Traumasituation physisch und psychisch ausgesetzt war. In ihm sind die Traumaerfahrungen gespeichert. Er beinhaltet die starken Gefühle von Schmerz, Angst, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ekel und weitere, die in der bedrohlichen Situation nicht zu bewältigen waren und daher abgespalten werden mussten. Der traumatisierte Anteil versucht immer wieder ins Bewusstsein zu gelangen, er möchte sozusagen gesehen werden, um die Traumasituation endlich abzuschließen. Diesem Anteil ist auch Dein inneres Kind bzw. Deine Inneren-Kind-Anteil zuzuordnen.

Überlebens-Anteil:

Der Überlebensanteil hat den Zweck, alle Empfindungen, Gefühle und kognitive Erinnerungen an das Trauma zu unterdrücken. Dazu entwickelt er komplexe Strategien und vermeidet Situationen, die das Trauma erneut auslösen könnten. Dieser Anteil ist manipulativ, versucht Kontrolle auszuüben oder sich mit allem Möglichen abzulenken. Er ist häufig verwirrt, fühlt sich von Gefühlen der Schuld und Scham belastet, dissoziiert schnell und ist nicht in der Lage, gute Beziehungen zu gestalten. 

Wenn es zu weiteren Traumatisierungen kommt (was bei Entwicklungstrauma meistens der Fall ist), können sich durch weitere Spaltungen mehrere Überlebensanteile herausbilden.

Unverletzter Anteil

Der unverletzte Anteil ist sozusagen das, was heilgeblieben ist. Befinden wir uns in diesem Anteil, haben wir Zugriff auf unsere erlernten Fähigkeiten, wir haben einen klaren Bezug zur Realität, sind zuversichtlich und können gute Entscheidungen treffen, wie zum Beispiel Hilfe zu suchen. Dieser Anteil ist in der Lage, seine Gefühle auszudrücken, nährende Beziehungen zu gestalten und die traumatischen Erfahrungen anzuerkennen.

Vielleicht geht es Dir jetzt wie mir, als ich zum ersten Mal von diesen drei Anteilen gehört habe. Bis dahin war ich tatsächlich verwirrt über meine Ambivalenz und Zwiespältigkeit. Ich glaubte selbst verrückt oder sogar schizophren zu sein.
Du kannst jetzt aufatmen, denn Du bist nicht verrückt. Du hast lediglich Verletzungen davongetragen, die bisher noch nicht geheilt werden konnten. Das Schöne ist, dass auch Du über den unverletzten Anteil verfügst, der immer stärker werden wird, je mehr Du heilst.

Wie unsere Anteile unser Leben beeinflussen

Schauen wir uns jetzt uns noch etwas genauer an, wie diese drei Anteile unser Leben unbewusst beeinflussen. Für einen besseren Überblick untergliedere ich unser Leben in drei Hauptbereiche. Den Bereich der physischen und psychischen Gesundheit, die Beziehungsebene und die Gefühlsebene. Am Ende jeden Bereiches findest Du einige konkrete Symptome, wobei jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht.

1. Ebene der physischen und psychischen Gesundheit

Gesundheit ist in den meisten Fällen das Ergebnis unseres Lebensstils und dem Umgang mit uns selbst. Wenn unser Körper Symptome entwickelt, will er uns nichts Böses. Er ist nicht unser Feind, sondern will uns darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht im Gleichgewicht ist, was unserer Aufmerksamkeit bedarf.

Wir Menschen sind Körper, Geist und Seele. Klassische medizinische Ansätze lassen das außer Acht und versuchen Symptome nur auf einem dieser Bereiche zu beseitigen. Das heißt, wir gehen mit unseren Problemen zum Arzt und bekommen nach der meist symptombezogenen Anamnese den ärztlichen Befund und damit den Stempel krank verpasst. Medikamente sollen das Problem beheben, aber die zu Grunde liegenden Ursachen bleiben so unberücksichtigt.
Kurzfristig ist uns so zwar geholfen, aber langfristig kommt es dem Versuch gleich eine feuchte Wand trocken zu legen, ohne das Loch im Dach zu beseitigen.

Statt unsere Symptome mit starken Medikamenten beseitigen zu wollen, die unserem Körper schaden (siehe Nebenwirkungen in den Beipackzetteln) sollten wir uns lieber der Ursache zuwenden. Und die liegt meist ganz tief in uns vergraben.

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es sich um meine persönliche Betrachtungsweise handelt und ich akzeptiere, dass Du womöglich eine andere Sichtweise hast. Außerdem ist mir wichtig zu betonen, dass ich Medikamente nicht per se ablehne. Ich selbst wäre ohne eine hohe Medikation während zwei langwieriger Krankenhausaufenthalte nicht mehr am Leben. Auch aktuell bin ich auf Medikamente für meine Schilddrüsenunterfunktion angewiesen. Ich bin froh, dass es Medikamente gibt, die uns auf unserem Weg unterstützen. Langfristig gesehen sollten sie aber keine Dauerlösung sein.

Durch eigene Erfahrungen weiß ich, wie chronische Beschwerden heilen, wenn ich mich ihnen zuwende und die dahinterliegenden Themen erforsche. Es braucht manchmal natürlich etwas Mut, sich den ursächlichen und oft schmerzlichen Themen zuzuwenden, aber wenn unser Körper immer wieder seelische und körperliche Krankheitssymptome entwickelt, will er uns auf die Dringlichkeit hinweisen, das zu tun.

Mögliche Symptome auf der Gesundheitsebene:

  • Häufig wiederkehrende, meist langwierige Krankheiten (Hals- und Rachenentzündungen, Unterleibsbeschwerden, Magen- Darmbeschwerden, Nacken- und Rückenschmerzen, Krebs etc.)
  • Psychische Störungsbilder mit Diagnosen wie Angststörung, Depression, Phobien, ADHS, Schizophrenie und weitere
  • Schlafstörungen

Buchtipp 1:

*Mein Körper, mein Trauma, mein ich: Anliegen Aufstellen – aus der Traumabiografie aussteigen von Dr. Franz Ruppert (2017)

25 Autoren-Beiträge verdeutlichen den Zusammenhang zwischen Körpersignalen, Psyche und Trauma am Beispiel von Kopfschmerzen, Rücken- und Gelenkschmerzen, Herz- und Kreislauf- sowie Hauterkrankungen, Krebs und Schlafstörungen. 

2. Beziehungsebene

Die Beziehungsebene meint nicht nur die Beziehungen zu anderen Menschen, sondern auch die Beziehung zu uns selbst und zur Welt. Besonders nach Entwicklungstrauma kann es hier zu Gedanken- und Verhaltensmustern kommen, die uns das Leben schwer machen. Einige Fragen sollen Dir dabei helfen einzuschätzen, ob sich in Deinem Beziehungsverhalten Traumatisierungen vermuten lassen:

a.) Beziehung zur Welt

In welcher Beziehung stehst Du zum Leben und der Welt? Wie fühlst Du Dich als Mensch in Deiner Umwelt? Empfindest Du das Leben grundsätzlich als schön und freudvoll oder eher als schwierig und schmerzhaft? Plagen Dich viele Ängste und ein mangelndes Selbstwertgefühl oder verfügst Du über ein generelles Grundvertrauen in das Leben? Bist Du oft niedergeschlagen und depressiv, weil Du die Welt für einen feindlichen Ort hältst, der an jeder Ecke Gefahren birgt? Vielleicht fühlst Du Dich vom Pech verfolgt, weil Du bei allen Versuchen etwas in Deinem Leben zu verändern, scheiterst. Du willst Dich gern weiterentwickeln, aber hast einfach keinen Erfolg mit Deinen Vorhaben.

Wenn Deine Antworten tendenziell eher negativ ausfallen, kann es sein, dass in Dir noch etwas ungesehen ist. Womöglich ist es Dein Trauma-Anteil, der die schrecklichen Geschehnisse von damals ins Hier und Jetzt überträgt.  

b.) Beziehung zu uns selbst

Wie gehst Du mit Dir und Deinem Körper um? Bist Du jederzeit in Deinem Körper präsent und kannst Dich gut in ihm spüren?
Menschen mit Entwicklungstrauma spüren sich nicht gut im eigenen Körper. Exzessives Treiben von Sport oder Sex, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen, übermäßiger Konsum von Alkohol und Drogen können dem Versuch dienen, sich intensiver oder überhaupt nicht spüren zu wollen. Sie vergessen ihren Körper im Alltag auch oft und nehmen ihre Bedürfnisse nicht wahr oder nicht ernst.

Kommst Du am Abend manchmal nach Hause und bemerkst, dass Du den ganzen Tag nichts getrunken hast? Oder fühlst Du Dich plötzlich kraftlos und erschlagen, weil Du den ganzen Tag extrem angespannt warst?

Und wie sieht es mit Deinem inneren Dialog aus? Wie denkst und sprichst Du innerlich über Dich? Lehnst Du Teile von Dir ab oder empfindest Hass gegen Dich selbst? Glaubst Du im Grunde wertlos zu sein oder es nicht verdient zu haben, glücklich zu sein?

Vielleicht ist so ein unachtsamer Umgang mit Dir selbst für Dich ganz normal, weil mit Dir genauso umgegangen wurde, als Du noch klein warst. Verurteile Dich bitte nicht dafür, wie Du im Moment bist. Versuche, stattdessen einen neuen und liebevolleren Umgang mit Dir selbst zu erlernen.

c.) Beziehung zu anderen Menschen

In Beziehungen zu anderen Menschen werden Entwicklungstraumata ganz stark deutlich, vor allem in Liebesbeziehungen. Obwohl wir uns einerseits nach Nähe und Verbindung sehnen, schaffen wir es nicht, eine liebevolle und langfristige Beziehung zu führen.

Bist Du im Grunde eh fest davon überzeugt, dass Du anderen Menschen nicht vertrauen kannst? Suchst Du Dir unbewusst immer wieder Partner, die Dir das bestätigen, indem sie sich nicht auf Dich einlassen, Dich ablehnen oder im schlimmsten Fall sogar verletzten?

Toxische Beziehungen müssen aber auch nicht immer so gravierende Ausmaße annehmen. Auch eine unbewusste Angst vor wirklicher Nähe und Verbindung kann schon zu immer wiederkehrenden destruktiven Beziehungsmustern führen. Die zugrunde liegenden Bindungsängste, die eine Folge früher Kindheitsverletzungen sind, sind uns meist gar nicht bewusst, weil sie eine Schutzstrategie unseres Überlebens-Anteils sind.

Siehst Du Dich auch außerhalb Deiner Liebesbeziehung immer wieder mit Schwierigkeiten konfrontiert? Fühlst Du Dich von anderen Menschen oft unverstanden und nie wirklich zugehörig? Reagierst Du bei Kritik schnell gekränkt, bist Du oft genervt, verärgert oder wütend über andere Menschen und froh, wenn Du zu Hause Deine Ruhe vor ihnen hast? Glaubst Du insgeheim besser zu sein als alle anderen und grenzt Dich deshalb von anderen Leuten ab?

An einem Bedürfnis nach Rückzug und Alleinsein ist per se nichts verkehrt. Das Warum ist entscheidend. Willst Du von anderen Menschen Abstand, weil sie Gefühle in Dir auslösen, die Dir unangenehm sind? Wenn das der Fall ist, dann handelt es sich vermutlich um eine Vermeidungsstrategie. Es lohnt sich der Ursache auf den Grund zu gehen, denn meistens dienen andere Menschen uns als Projektionsflächen für eigene ungelöste Themen.

Mögliche Symptome auf der Beziehungsebene

  • Suchtverhalten (Alkohol, Drogen, Arbeit, Essen, Computer/Internet, Sex)
  • Kontrollversuche (Essstörungen, exzessives Sporttreiben, Arbeitsverhalten, Eifersucht)
  • Selbstmordgedanken oder Selbstmordversuche
  • Geringes Selbstwertgefühl und Misserfolge bei der persönlichen Weiterentwicklung
  • Das Gefühl, anders zu sein als andere und nirgends dazuzugehören
  • Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Angst vor Berührungen, Nähe oder Blickkontakt
  • Bindungsängste, dauernde Konflikte in Partnerschaften
  • Wiederkehrendes Empfinden von Scham und Schuldgefühlen
  • Eine negative Lebenseinstellung und allgemeines Misstrauen in das Leben

3. Gefühlsebene

Wenn wir traumatisiert wurden, agieren wir unbewusst zu großen Teilen aus unseren Überlebensanteilen heraus. Ohne uns dessen bewusst zu sein, versuchen wir mit allem, was wir tun, unseren Traumagefühlen aus dem Weg zu gehen.

Unser Nervensystem scannt unsere Umgebung permanent nach möglichen Gefahren ab, sodass wir uns in ständiger Alarmbereitschaft befinden. Dieses hohe Aktivitätsniveau bedeutet Stress und beeinflusst unsere Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu regulieren.

Eine mangelnde Gefühlsregulation kann verschiedene Ausprägungen haben. Während wir phasenweise regelrecht von Gefühlen überrollt werden, kann es zu einem anderen Zeitpunkt sein, dass wir den Eindruck haben, uns gar nicht zu spüren. Der Ausdruck und Umgang mit unseren Emotionen und Gefühlen ist nicht im Gleichgewicht, sodass wir in einem Moment voller Verzweiflung sein können und im nächsten Moment schon wieder himmelhochjauchzend oder wütend und aggressiv. Wir neigen zu Hypersensibilität, das heißt, kleine Reize können schnell überfordern, sodass wir uns ausgebrannt fühlen. Wir sind schnell energielos und benötigen viel Rückzug und Ruhe, um unsere Akkus wieder aufzuladen.

Auch unser traumatisierter Anteil beeinflusst uns auf der Gefühlsebene. Wenn wir uns in ihm wiederfinden, fühlen wir uns wie damals als Kind. Vielleicht kommt es Dir bekannt vor, dass Du Dich in bestimmten Situationen plötzlich ganz klein fühlst. Entweder bedürftig und nach Liebe sehnend oder aber auch wütend, bockig und irrational, so als wolltest Du Dich am liebsten auf den Boden werfen.

Während der traumatisierte Anteil immer wieder versucht, sich zu zeigen, um endlich integriert zu werden, arbeitet der Überlebensanteil gegen ihn. Er ist darum bemüht, ihn in Schach zu halten, um nicht wieder mit den überwältigenden Traumagefühlen konfrontiert zu werden. Dieser innere Kampf steht Deinem ursprünglichen Gefühlsausdruck im Weg. Vor allem kostet er immens viel Energie. Traumaarbeit ist hier in jedem Fall lohnenswert.

Mögliche Symptome auf der Gefühlsebene:

  • Beeinträchtige Fähigkeit zur Regulation von Gefühlen (wir reagieren irrational, langanhaltend oder extrem mit Traurigkeit, Verzweiflung, Ohnmacht, Angst, Ekel, Aggression, Wut)
  • Andauernde innere Unruhe, Stressempfinden, Burn-out
  • Antriebs- und Kraftlosigkeit, Niedergeschlagenheit
  • Schwierigkeiten beim Spüren von Gefühlen, Emotionen und Empfindungen im Körper

Buchtipp 2:

*Bin ich traumatisiert?: Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen von Verena König (2021)

Mit zahlreichen Fallbeispielen, Übungen und Erklärungen aus Psychologie und Neurobiologie hilft die Traumatherapeutin Verena König, die Ursprünge und Wirkungen von Traumatisierungen zu verstehen und sich dem Thema achtsam anzunähern.

Ich würde mich doch erinnern, wenn ich traumatisiert worden wäre!

Vielleicht hast Du Dich jetzt schon in einigen der beschriebenen Merkmale wiedergefunden, traust der Sache aber nicht, weil Du keine wirklichen Erinnerungen hast.

Wie weiter oben bereits erwähnt, ist es möglich, dass Du überhaupt keine bewussten Erinnerungen an die Traumatisierungen hast. Entweder, weil Du noch zu klein warst oder weil Deine Schutzmechanismen gute Arbeit geleistet haben. Diese Mechanismen haben die Fähigkeit, Erinnerungen an schlimme Erfahrungen so sehr abzuspalten, dass wir nicht mehr darauf zugreifen können. Das nennt man dissoziative Amnesie und hat Dein Überleben gesichert.

Ohne bewusste Erinnerungen fällt es uns schwer zu glauben, dass uns etwas Furchtbares passiert ist. Aber irgendwie haben wir auch so eine leise Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmt. Warum sonst ist unser Leben geprägt von sich wiederholenden Mustern? Und aus welchem Grund sonst leiden wir auf den genannten Ebenen immer wieder innere Qualen?

Wenn wir vermuten, dass uns etwas angetan wurde oder irgendetwas an unserer Lebensgeschichte nicht stimmt, dann steckt da meistens eine Wahrheit dahinter. Wir dürfen lernen, unsere Ahnung ernst zu nehmen und uns zu vertrauen.

Bei mir war es lange Zeit so, dass ich nur emotionale und körperliche Erinnerungen hatte, jedoch keine bildhaften. Ich bin immer wieder in Kontakt mit den schrecklichen Gefühlen meiner Vergangenheit zu kommen, ohne mich zu erinnern, wo diese ihren Ursprung hatten. Bei anderen Menschen kann das genaue Gegenteil der Fall sein. Sie erinnern sich an schreckliche Dinge und können darüber erzählen, aber es ist, als würden sie über einen Film sprechen, statt über ihr eigenes Schicksal. Sie erinnern sich zwar, haben aber die dazugehörigen Gefühle abgespalten. Auch hier handelt es sich um einen Schutzmechanismus durch einen dissoziativen Zustand.

Wie geht es weiter, wenn ich glaube, traumatisiert zu sein?

Wenn sich Deine Vermutung verstärkt, traumatisiert zu sein, ist das Wichtigste nicht in Panik zu geraten. Alles ist genau richtig, so wie es ist. Du hast es bis hier hingeschafft und es ist wunderbar, dass Du da bist.
 
Solltest Du den inneren Wunsch verspüren, Dich dem Thema noch mehr zuzuwenden, dann lass Dir Zeit, gehe liebevoll mit Dir um und überfordere Dich nicht.
Du kannst zum Beispiel damit anfangen, Dich in das Thema Trauma einzulesen. Es gibt viele gute Bücher zum Thema, meine persönliche Empfehlung für den Einstieg ist das kompakte Büchlein *„Zurück in mein Ich – Das kleine Handbuch zur Traumaheilung” von Vivian Broughton.

Ich empfehle Dir sehr, den Weg nicht allein zu gehen. Suche Dir mindestens eine Vertrauensperson, die Dir glaubt und Dich wirklich unterstützt. Noch besser suche Dir eine gute Therapeutin oder einen Therapeuten, dem Du vertraust und der auf Traumaarbeit spezialisiert ist.

Außerdem bist Du herzlich eingeladen, meine Wegbegleiterin zu werden und Dein Traumawissen durch meine Beiträge zu vertiefen oder Dich von meinen Erfahrungen inspirieren zu lassen.
 
Ich schreibe meine Beiträge für Dich und hoffe, dass Du Dich durch sie ein wenig verstanden und weniger allein fühlst. Außerdem möchte ich Dich ermutigen, erste Schritte zu wagen, um langfristig ganz zu werden.
 
Aus eigener Erfahrung kann ich Dir sagen, dass sich der Weg der Ganzwerdung lohnt. Es ist zwar ein längerer Weg, auf dem es Höhen und Tiefen geben wird, aber Deine Lebensqualität wird zu nehmen, wenn Du ihn gehst. 
 
Traumaenergie ist gebundene Lebensenergie. Sie wartet darauf, ins Fließen zu kommen, damit Du ein freies und erfülltes Leben führen und Dein volles Potenzial entfalten kannst!

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Quellenverweise: 

Broughton, Vivian (2016): Zurück in mein Ich: Das kleine Handbuch zur Traumaheilung mit einem Nachwort von Franz Ruppert, 4. Edition, München

König, Verena: Woran erkenne ich, ob ich traumatisiert bin – Podcast. Abgerufen am 09.11.2021, von https://verenakoenig.de/blog-und-podcast/134-woran-erkenne-ich-ob-ich-traumatisiert-bin

Ruppert, Franz & Banzhaf, Harald (2017): Mein Körper, mein Trauma, mein ich: Anliegen aufstellen – aus der Traumabiografie aussteigen, 3. Edition, München

Täter-Opfer-Dynamik

Täter-Opfer-Dynamik – Wie Dir der Ausstieg gelingt

Hast Du Dich im Zusammenhang mit Trauma schon mit der Täter-Opfer-Dynamik auseinandergesetzt? Kannst Du anerkennen, dass Du Opfer warst, wenn Du traumatisiert wurdest? Und bist Du bereit, Dir einzugestehen, dass Du in der Folge auch zum Täter geworden bist? Das persönliche Opfersein anzuerkennen und sich der eigenen Täterschaft zuzuwenden, sind mitunter die schwersten und gleichzeitig wichtigsten Schritte auf dem Weg der Ganzwerdung.

Dieser Beitrag ist in Kooperation mit Andrea Stoffers entstanden. Andrea ist Heilpraktikerin für Psychotherapie mit eigener Praxis, dem Zentrum Mensch in Neuss. Seit 2010 arbeitet sie mit der Anliegenmethode auf Basis der Identitätsorientierten Psychotraumatherapie nach Franz Ruppert. Danke, liebe Andrea, dass Du mich als meine Therapeutin bei diesem wichtigen Thema unterstützt hast.

Rollenverständnis Täter - Opfer

Im Trauma Kontext sprechen wir von einem Täter, wenn ein Mensch einem anderen körperlichen oder psychischen Schaden zufügt. Der Mensch, dem ein Schaden zugefügt wird, wird als Opfer bezeichnet.

Wenn eine Mutter die eigenen Kinder schlägt, wird sie zum Täter und macht die Kinder zu Opfern. Die Taten müssen von beiden Parteien verarbeitet werden. Die Mutter (Täterin) muss mit der Tatsache zurechtkommen, die eigenen Kinder verletzt zu haben und die Kinder (Opfer) sind gezwungen, einen Umgang mit den physischen und psychischen Verletzungen zu finden, die ihnen zugefügt wurden.

Viele von Trauma betroffene Menschen tun sich schwer, den Begriff Opfer auf sich selbst anzuwenden, weil er im Sprachgebrauch negativ behaftet ist und mit Schwäche gleichgesetzt wird. Tatsächlich bringt er jedoch lediglich die Hilf- und Wehrlosigkeit zum Ausdruck, die das Tatgeschehen auslöste.

Ist ein Täter bereit, die Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen, seine Schuld anzuerkennen und eine Kompensation für den erlittenen Schaden anzubieten, kann der traumatisierende Vorfall von allen Beteiligten verarbeitet werden. Gelingt die Klärung auf diese Weise jedoch nicht, besteht die Gefahr, dass Täter eine Täterhaltung und Opfer eine Opferhaltung einnehmen.

Merkmale von Täter- und Opferhaltungen

Eine Täterhaltung nimmt jemand ein, der die Verantwortung sowie das eigene Verschulden an der Tat abstreitet oder sie sogar als gerechtfertigt empfindet (z.B.: weil er sich zu bestimmten Handlungen genötigt fühlt). Menschen in Täterhaltung schreiben dem Opfer die Schuld an ihren Handlungen zu und es fehlt ihnen an jeglichem Mitgefühl. Das kann so weit gehen, dass sie das Opfer sogar verspotten.

Beispiel für eine Täterhaltung: Ein erwachsener Mann gibt seiner Tochter die Schuld daran, dass er sie sexuell missbraucht hat, weil sie im Alter von vier Jahren immer wieder seine Nähe gesucht hat und Neugier am männlichen Geschlecht zeigte. Er rechtfertigt, dass die sexuellen Handlungen nicht von ihm ausgingen, sondern er von seiner Tochter verführt worden sei.
Als der Mann sexuelle Gefühle gegenüber seiner Tochter bemerkte, hätte er sich Hilfe suchen müssen, statt sie auszuagieren. Dass er als Erwachsener in der Verantwortung gewesen wäre, der unschuldigen Experimentierfreude des Kindes mit Nähe und Intimität Grenzen zu setzen, blendet er aus.

Menschen, die sich in einer Opferhaltung befinden, geben sich selbst die Schuld an den Taten (wodurch ungerechtfertigter Weise eine Mitschuld übernommen wird) und empfinden diese häufig sogar als gerechtfertigt, weil sie glauben, es nicht anders verdient zu haben. Sie schämen sich für sich selbst und für das, was sie erleiden mussten und verschweigen deshalb das Geschehen. Oft nehmen sie die Täter sogar in Schutz, indem sie die Taten verdrängen oder verharmlosen.

Täter-Opfer-Dynamik

Beispielfür eine Opferhaltung: Eine inzwischen 35-jährige Frau fühlt sich verantwortlich, zu jeder Zeit für ihre alkoholabhängige und gewalttätige Mutter da zu sein und ihr auch finanziell immer wieder auszuhelfen. Die Frau erinnert sich zwar daran, wie ihre Mutter sie während ihrer Kindheit misshandelte und vernachlässigte, übt sich aber in Verständnis, da es ihre Mutter selbst nicht leicht hatte. Sie redet sich ein, dass es für sie alles halb so schlimm gewesen sei. Es ginge ihr ja schließlich so weit gut. Außerdem beteuert sie immer wieder, dass sie als Kind auch sehr hohe Ansprüche hatte, die wahrscheinlich niemand hätte erfüllen können.

„Die Täter- wie die Opferhaltung ist eine Überlebensstrategie, um in einem destruktiven Beziehungssystem bleiben zu können und die Beziehung nicht endgültig auflösen zu müssen. Weder Täter noch Opfer kennen eine Alternative zu dieser Form der Beziehung. Sie nehmen die Destruktivität in ihren Beziehungen in Kauf, weil überhaupt keine Beziehung und noch nicht einmal jemanden zu haben, mit dem man sich streiten oder schlagen kann, noch mehr gefürchtet wird als alles andere.“ (Franz Ruppert, 2012)

Opfer- und Täterhaltungen gehen nicht ausschließlich aus so gravierenden Szenarien hervor, wie sie in den Beispielen verwendet wurden. Vielen von uns fehlte es augenscheinlich an nichts und dennoch haben wir Wunden durch Entwicklungstrauma davongetragen. Diese entstanden unter anderem, weil unsere Eltern und Großeltern Strafen als geeignetes Erziehungsinstrument ansehen oder es bis heute als gerechtfertigt empfinden, dass sie uns als Kinder weinen lassen haben, damit wir lernen, uns selbst zu beruhigen. Und wie viele von uns ignorieren ihre Wunden zugunsten der eigenen Familie, indem wir uns einzureden versuchen, dass das alles sei berechtigt oder halb so wild gewesen?

Begleiterscheinungen von Täter-Opfer-Beziehungen

Täterintrojekt – Täter gegen Dich selbst

Bei einem Täterintrojekt handelt es sich um eine Art der Identifikation mit dem Täter. Es sind Zuschreibungen und Verhaltensweisen, die das Opfer ursprünglich über lange Zeit vom Täter erfahren und als eigene Überzeugungen übernommen hat.

Wird dem Opfer durch Worte und Handlungen des Täters wiederholt signalisiert, wie schlecht und wertlos es sei, kommt das einer Gehirnwäsche gleich. Trauma-Opfer glauben dann irgendwann nicht nur den Worten des Täters, sie empfinden diese Zuschreibungen sogar als etwas Eigenes. Der Täter ist quasi Teil von uns selbst geworden.

Viele Opfer glauben ihr Leben lang selbst schuld, nicht normal oder sogar verrückt zu sein, weil ihnen das von Täterseite immer wieder eingeredet wurde. Die Gehirnwäsche wirkt so stark, dass es uns nicht mehr möglich ist zu erkennen, dass uns diese Informationen von außen eingegeben wurden und wir das nicht sind.  

Solange die Traumatisierungen nicht mit therapeutischer Hilfe verarbeitet wurden, werden wir durch Täterintrojekte selbst zu Tätern, vor allem an uns selbst. Wir reinszenieren unsere Traumata, indem wir uns selbst abwerten, verletzen, drogen- oder alkoholabhängig werden und oder lieblose und gewaltvolle Beziehungen eingehen.

Täter-Opfer-Dynamiken

Opfer-Täter-Dynamiken sind das, was als Verstrickung bekannt ist. Es bedeutet, dass wir nicht bei uns selbst sind und dementsprechend nicht unser eigenes Leben leben. Wir sind mit unserer Aufmerksamkeit nicht wirklich bei uns, sondern immer zu einem gewissen Teil bei dem Täter oder Stellvertretern für den Täter. Die Verstrickung wird sowohl vom Täter als auch vom Opfer aufrechterhalten.

Wenn beispielsweise eine Frau in ihrer Kindheit von ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten nicht ausreichend versorgt wurde, hatte sie keine Möglichkeit, sich zu einer gesunden erwachsenen Frau zu entwickeln. Solange diese Frau ihre Traumatisierungen nicht verarbeitet, wird sie immer wieder Beziehung eingehen, in denen sie genauso vernachlässigt und unterversorgt wird. Weil es das ist, was die Frau unter Nähe versteht, macht sie Partnern mit Tätertendenzen sogenannte Vestrickungsangebote. Sie lässt sie in ihr Leben und opfert sich womöglich sogar für sie auf. Auf diese Weise bleibt sie nicht nur in einer Dauerschleife ihres Traumas verhaftet, sondern hält auch ein Abhängigkeitsverhältnis zum Täter aufrecht, der inzwischen auch das Gesicht ihres Geliebten oder Ehemanns tragen kann. 

Täter.Opfer

Wie steige ich aus destruktiven Täter-Opfer-Dynamiken aus?

1. Schritt: Das eigeine Opfersein anerkennen

Um aus der Täter-Opfer-Dynamik auszusteigen, ist es im ersten Schritt notwendig, das eigene Opfersein anzuerkennen. Dir einzugestehen, Opfer geworden zu sein ist ein schmerzhafter Prozess, der viel Mut abverlangt. Vor allem, weil er einschließt Menschen, die wir lieben, als Täter oder Mittäter zu identifizieren, besonders wenn es sich um Mitglieder aus der eigenen Familie handelt.

2. Schritt: Mitgefühl für Dich selbst entwickeln

Im nächsten Schritt müssen wir Mitgefühl für uns selbst entwickeln. Wir dürfen uns jetzt unseren verletzten Kindanteilen zuwenden, die in der Vergangenheit traumatisiert wurden und so furchtbar gelitten haben. Dann sind wir in der Lage, all den Schmerz zu fühlen, den wir damals nicht hätten überleben können. Wir können nun lernen, uns selbst die Eltern zu sein, die wir verdient und gebraucht hätten.

3. Schritt: Opferhaltung ablegen

Der dritte Schritt besteht darin, unsere Opferhaltung abzulegen, indem wir die Wahrheit anerkennen, wie sie wirklich ist. Wir hören auf, uns selbst die Schuld zu geben oder den Tätern zuliebe alle Geschehnisse unter den Teppich zu kehren. Ab sofort stellen wir uns selbst und unser eigenes Erleben an erste Stelle. Auf diese Weise übernehmen wir die volle Verantwortung für unser Leben und geben den Tätern die Verantwortung für ihre Taten zurück.  

Muss ich den Kontakt zu den Tätern abbrechen, um Verstrickungen aufzulösen?

Wenn Du verstanden hast, wie verstrickt Du mit den Tätern bist, wirst Du von selbst erkennen, dass es Abstand braucht, um den oft jahrzehntelang verinnerlichten Täter-Opfer-Dynamiken ein Ende zu setzen.

Vor allem, wen es sich bei den Tätern um Mitglieder der eigenen Familie handelt, ist ein Kontaktabbruch mit großen Ängsten und Zweifeln verbunden. Letztendlich ist es aber das wohl wertvollste Geschenk, dass Du Dir selbst machen kannst. Denn durch das Auflösen von Verstrickungen legst Du den Grundstein für die Entwicklung einer eigenen gesunden Identität und somit auch für glückliche und konstruktive Beziehungen. Am Ende entscheidest Du aber natürlich immer selbst.

Täter-Opfer Kontaktabbruch

Wann ist Kontakt wieder möglich?

Ein gesunder Kontakt zu den Tätern ist überhaupt erst dann möglich, wenn Du die oben genannten Schritte durchlaufen und Deine Opferhaltung aufgegeben hast.

Das ist der Fall, wenn Du Verstrickungsangebote von Tätern erkennen und entschieden ablehnen kannst und sie nicht länger in der Lage sind, Dich emotional zu beeinflussen. Sobald Du feststellst, dass ein bedürftiger (Kind) Anteil von Dir angesprochen bzw. getriggert wird, musst Du in der Lage sein Dich zu schützen, indem Du die Situation sofort verlässt.

Es kann den Heilungsprozess der Beziehung beschleunigen, wenn sich der Täter selbst bereit erklärt, die Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen, indem er seine eigenen Traumatisierungen aufarbeitet. Du solltest aber nicht allzu große Hoffnung haben. Die meisten Menschen haben zu viel Angst, sich das Trauma durch eigene Täterschaft anzusehen und sich einzugestehen, dass sie anderen Menschen Schaden zugefügt haben.

Was ist das Trauma durch eigene Täterschaft?

Laut Franz Ruppert handelt es sich beim Trauma durch eigene Täterschaft um eine eigene Traumakategorie. Er legt die Annahme zugrunde, dass es in jedem Menschen immer auch gesunde psychische Anteile gibt, die sich im Klaren über Recht und Unrecht sind. Fügt ein Täter also einem anderen Menschen einen Schaden zu, traumatisiert er sich damit auch selbst. Um mit den der Tat einhergehenden Gefühlen von Schuld, Scham, Ekel, Wut und Hilflosigkeit weiter leben zu können, muss er sie abspalten und als Überlebensstrategie die Täterhaltung einnehmen.

Es ist eine schreckliche und traurige Endlosspirale, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass ein Mensch überhaupt erst dann zum Trauma-Täter wird, wenn er einst selbst Trauma-Opfer war. Und das Trauma-Opfer wiederum zu Trauma-Tätern werden (mindestens bei sich selbst), wenn sie ihre Traumatisierungen nicht aufarbeiten.

Beim Verabschieden von Täter-Opfer-Dynamiken wird es früher oder später also notwendig sein, Dich Deinem Trauma durch eigene Täterschaft zuzuwenden. Es ist nicht leicht, die Verantwortung dafür zu übernehmen, Dir selbst oder anderen Menschen furchtbare Dinge angetan zu haben. Wenn Du dem jedoch ein Ende setzen willst, um ein gesundes, glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen, ist es dringend notwendig. Nur so können wir den Teufelskreis der Täter-Opfer-Dynamiken beenden.

Trau Dich Täter und Opfer in Dir zu verabschieden!

Selbstbestimmung

Sobald Du anerkennst, dass Du selbst Opfer warst und bereit bist, die Opferrolle aufzugeben, wirst Du sensibler für Verstrickungsangebote von (potenziellen) Tätern. Du wirst dann auch Bewusstheit darüber erlangen, wo Du selbst Täterverhalten zeigst. Es ist ein natürlicher Prozess, der ganz von allein voranschreitet, wenn Du die richtigen Schritte gehst.

Sei Dir immer bewusst, dass Du den Weg nicht allein gehen musst. Ein erster Schritt kann zum Beispiel sein, Dich Deiner besten Freundin anzuvertrauen oder Dir eine kompetente Therapeutin zu suchen, die Dich begleitet. Ich empfehle Dir die Anliegenmethode von Dr. Franz Ruppert sehr, weil ich mit ihr in so kurzer Zeit große Fortschritte gemacht habe.

Sei mutig und werde der Mensch, den Du Dir selbst als Kind an Deiner Seite gewünscht hast.

Schön, dass Du da bist!

Quellenverweise: 

Bass, Ellen & Davis, Laura (2001): Trotz allem – Wege zur Selbstheilung für sexuell mißbrauchte Frauen, 9. Edition, Berlin

Ruppert, Franz (2019): Liebe, Lust und Trauma: Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität, 1. Aufl., München

Ruppert, Franz (2012): Trauma, Angst und Liebe: Unterwegs zu gesunder Eigenständigkeit. Wie Aufstellungen dabei helfen, 6. Edition, München

Gefühle wollen gefühlt werden

Gefühle – Warum es uns so schwerfällt alles zu fühlen

In einer idealen Welt könntest Du jederzeit alle Deine Gefühle wahrnehmen und angemessen ausdrücken. In der Realität funktioniert das für viele von uns nicht so selbstverständlich. Besonders die sogenannten negativen Gefühle wie Angst, Wut und Scham unterdrücken wir meist, weil wir gelernt haben, dass es nicht angemessen ist, sie zu zeigen. Wie können wir aber eine authentische und gesunde Beziehung zu uns selbst und anderen eingehen, wenn wir nicht mit all unseren Gefühlen in Kontakt sind? Ist es möglich, das Unterdrücken von Gefühlen aufzugeben und sie alle gleichermaßen willkommen zu heißen?

Was sind Gefühle eigentlich?

Gefühle zu definieren ist gar nicht so einfach. Das ist erstaunlich, da sie im Alltag unsere ständigen Begleiter sind. Unsere Gefühle entstehen als Reaktion auf innere und äußere Gegebenheiten. Es sind wechselnde Zustände, die unter anderem stark durch unsere Gedanken beeinflusst werden und in Zusammenhang mit den Empfindungen unseres Körpers stehen. Wir alle haben also Gefühle, ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht.

 „Auf der Grundlage von Gefühlen entwickeln wir unsere Einsichten und die Fähigkeit, uns zu orientieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Gefühle, auch schmerzliche Gefühle, sind Verbündete, die uns wissen lassen, was in uns abläuft, und oft auch, wie wir auf Situationen reagieren sollen.“ (Bass, Ellen & Davis, Laura 2001)

Wir bringen ein vielfältiges Repertoire an Gefühlen mit auf diese Welt, die Ausdruck unserer Lebendigkeit sind. Die Fähigkeit zu fühlen macht uns menschlich und ermöglicht uns mitfühlende und nahe Beziehungen zu anderen Menschen.

Können wir uns immer gut fühlen?

Seien wir mal ehrlich. Wir wünschen uns doch alle insgeheim immer nur angenehme Gefühle zu haben oder? Das ist nachvollziehbar, denn im Körper empfinden wir Freude, Glück und Entspannung als angenehmer und leichter als Trauer, Wut oder Stress.

Die Positiv-Denken-Szene unterstützt die Idee, dass „gut drauf sein“ ein Dauerzustand sein kann, den es zu erreichen gilt. Der Anspruch oder das Ziel, sich immer nur gut zu fühlen, ist aber entgegen allen Gesetzmäßigkeiten. Wenn Du Dich regelmäßig in der Natur aufhältst, kannst Du genau beobachten, wie alles im ständigen Wandel ist. Die Jahreszeiten, das Wetter und der Kreislauf von Leben und Tod. Die Welt der Dualität ist eine Welt mit zwei Seiten. Licht kann nur da scheinen, wo Dunkelheit ist. Es ist nie andauernd nur sonnig und schön.

Genauso verhält es sich beim menschlichen Leben. Es lässt sich nicht vermeiden, dass wir auch mal mit unangenehmen Gefühlen konfrontiert werden. Wir alle werden mal krank, haben Liebeskummer und erleben Niederlagen und Verluste.

Nur positiv drauf sein zu wollen heißt, Du bist verdammt dazu, Deinen Schatten zu unterdrücken. Du bist verdammt dazu, alle Energien und Emotionen, die Du als negativ empfindest, zu unterdrücken. Das ist eine Katastrophe.“ (Lindau, Veit, 2020)

All unsere Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung und verdienen es gleichermaßen gesehen und gefühlt zu werden. Lernen wir also alle Gefühle zu uns einzuladen und ihnen Raum zu geben. So als seien wir ein Gasthaus, dass es sich zum Ziel gesetzt hat seinen Besuchern eine angenehme Durchreise zu ermöglichen. Nachdem die Gäste eine schöne Zeit bei uns hatten, werden sie weiterziehen wollen und von neuen Gästen abgelöst werden. 

Gefühle

Warum fällt es uns so schwer, alles zu fühlen?

Unsere Fähigkeit zu fühlen spiegelt den Grad unserer Lebendigkeit wieder. Der Versuch, bestimmte Gefühle aus unserem Leben auszuschließen, ist also immer mit Einbußen verbunden.

Besonders wenn wir traumatisiert wurden, fällt es uns schwer, bestimmte Gefühle zu erlauben. Die Liebe und das Vertrauen, was wir unseren Eltern oder anderen Erziehungsberechtigten entgegenbrachten, wurden missachtet oder sogar missbraucht. Das war so schmerzhaft, dass wir die Gefühle unterdrücken mussten, um weiter damit zu leben. Was damals lebenswichtig war, blockiert heute jedoch unsere Lebensenergie und unseren Selbstausdruck.

Wir haben es uns zur Angewohnheit gemacht, gegen Gefühle anzukämpfen, sie zu ignorieren oder an ihnen festzuhalten. Um unsere Lebensenergie wieder ins Fließen zu bringen, müssen wir die Gründe erkennen, die uns daran hindern, Gefühle als das zu verstehen, was sie sind – natürliche und sich ständig verändernde Zustände.

1. Bewertung der Gefühle

Den natürlichen Ausdruck und die Veränderlichkeit unserer Gefühle können wir am Besten bei Babys oder Kleinkindern beobachten. Bekommt ein kleines Kind im Supermarkt nicht den ersehnten Schokoriegel, wirft es sich wütend und traurig auf den Boden und weint bitterliche Tränen. Einige Minuten später erblickt das Kind einen Welpen und wird ruhig. Es ist entzückt vom Anblick des kleinen Hundes und strahlt vor Freude bis über beide Ohren.

Was unterscheidet dieses Kind von uns? Warum hat es keine Scheu, seine Gefühle jederzeit frei auszudrücken? 
Es bewertet seine Gefühle nicht so wie wir es tun. Kleine Kinder drücken einfach frei aus, was gerade in ihnen vorgeht. Wir Erwachsenen hingegen verfügen über ein inneres Bewertungssystem, dass uns in unserer Kindheit antrainiert wurde.

Wenn unsere Eltern oder andere Erziehungsberechtigte keinen rationalen Grund für unsere Tränen oder unsere Wut gesehen haben, sprachen sie uns die Daseinsberechtigung dieser Gefühle ab. Wir wurden getadelt oder sogar bestraft, wenn wir uns unerwünscht verhielten und gelobt oder belohnt, wenn wir vermeintlich etwas richtigmachten. Auf diese Weise haben wir innere Überzeugungen und Glaubenssätze verinnerlicht, mit denen wir unsere Gefühle bis heute in die Kategorien richtig oder falsch einordnen.

2. Angst vor Konsequenzen

Die zuvor beschriebene Programmierung sorgt auch dafür, dass wir bestimmte Gefühle bei unserem Gegenüber mit bestimmten Verhaltensweisen verknüpfen. Wenn wir beispielsweise als Kinder bestraft wurden, weil wir unserer Wut Ausdruck verliehen haben, kann es sein, dass wir unsere Wut auch heute unterdrücken, um nicht alleingelassen zu werden.

 

3. Identifikation mit Gefühlen

Ohne uns dessen bewusst zu sein, identifizieren wir uns häufig auch mit unseren Gefühlen. Wenn unser Leben zum Beispiel von schlimmen Erfahrungen geprägt war oder wir uns in schwierigen Lebensphasen befinden, fühlen wir uns womöglich dauerhaft traurig, depressiv oder schwach. Vielleicht beschreiben wir uns sogar als traurige oder ängstliche Person.

Selbst wenn wir uns bemühen, etwas an unserem Zustand zu verändern, indem wir Selbsthilfebücher lesen oder positive Affirmationen zu Hilfe ziehen, halten wir womöglich unbewusst an unserem gewohnten Gefühlszustand fest.

Gefühle nicht festhalten

Wir haben noch nicht erkannt, dass Gefühle keine Dauergäste sind und sie sich ständig verändern. In Wahrheit sind wir keine per se ängstlichen, wütenden oder traurigen Menschen. Wir haben die Fähigkeit, diese Gefühle zu fühlen und daneben auch all die vielfältigen anderen Gefühle.

Um Dir der Unbeständigkeit Deiner Gefühle bewusst zu werden, ist Meditation eine hilfreiche Methode, weil Du damit Deine Achtsamkeit stärkst. Du musst nicht unbedingt an einem Meditationskurs teilnehmen oder täglich mehrere Stunden im Lotussitz verharren. Auch kurze Momente der Stille, die Du in Deinen Tagesablauf einbaust, können schon eine transformierende Wirkung haben. Versuche Dir solche Momente zur festen Gewohnheit zu machen und sie zu nutzen, indem Du Dir folgende Fragen stellst:

„Was spüre ich in meinem Körper?“

„Wie fühle ich mich gerade?“

Wenn Du Dir, Deiner Gefühle und Körperwahrnehmungen immer mehr bewusst wirst und sie jederzeit wahrnehmen kannst, wirst Du bemerken, dass Deine Selbstakzeptanz zunimmt und Du beginnst Dich mehr zu lieben.

4. Falsche Affirmationen 

Affirmationen sind kurze Sätze, die unsere Gefühle und Gedanken positiv beeinflussen sollen. Unumstritten sind positive Affirmationen ein sehr wirksames Tool, um alte und begrenzende Glaubenssätze zu erneuern. Die Arbeit mit positiven Affirmationen ist aber mit Vorsicht zu genießen. Sie können nämlich auch zur Verdrängung von Gefühlen eingesetzt werden.

Angenommen Du fühlst Dich eine Zeit lang kraftlos und müde und rezitierst dann immer wieder die Affirmation „Ich bin voller Kraft und Energie“. Dabei handelt es sich nicht um eine wirkungsvolle Affirmation, sondern salopp gesagt um einen Satz, mit dem Du Dich selbst belügst. Du würdigst Dein Gefühl nicht und versuchst stattdessen, es wegzumachen. Womöglich wiederholst Du auf diese Weise dasselbe, was Deine Eltern oder andere Bezugspersonen früher mit Dir gemacht haben. Jetzt hast Du die Chance, Dir selbst die Liebe zu geben, die schon als Kind verdient hast. Erlaube Dir alles zu fühlen und bleib liebevoll an Deiner Seite.

Um sicherzugehen, dass Deine Affirmationen zu Deiner Entwicklung beitragen, statt sie zu behindern, kannst Du Dir bei der Formulierung folgende drei Fragen stellen:

  • Ist das wirklich wahr?
  • Handelt es sich um einen Wunsch?
  • Will ich damit ein Gefühl vermeiden?

Nehmen wir an Du kannst Dich gerade nicht besonders gut leiden und wählst die Affirmation „Ich liebe mich.“ Wenn Du Dich jetzt fragst, ob das wirklich wahr ist, wird die Antwort vermutlich Nein lauten. Du wirst Dir also im Folgeschluss eingestehen müssen, dass es sich um einen Wunsch handelt und Du Dich in Wahrheit gerade klein und kraftlos fühlst oder sogar Ablehnung gegen Dich empfindest. 

Wähle stattdessen die Formulierung „Ich bin gewillt mich zu lieben“. Wenn Du jetzt die Fragen durchgehst, wirst Du herausfinden, dass Du damit eine gelungene Affirmation formuliert hast.

Fühlen statt positiv Denken

Sobald wir die Gründe dafür verstanden haben,  dass wir unsere Gefühle nicht gut wahrnehmen und ausdrücken können, dürfen wir uns wieder an das Fühlen herantasten. Gerade in Bezug auf Trauma stellst Du damit die Weichen zu Deiner Heilung. Denn Traumaheilung bedeutet das Fühlen der schmerzlichen Gefühle aus Deiner Vergangenheit.

a.) Fühlen wieder neu lernen

Es gibt verschiedene Wege, um zu lernen, Deine Gefühle wahrzunehmen. Kreative und schöpferische Tätigkeiten wie Tanzen oder Malen können Dir behilflich sein. Wenn Dir der Zugang dazu schwerfällt, kannst Du auch Deinen Verstand als Helfer einsetzen. Du kannst Dich in bestimmten Situationen fragen, wie sich wohl die Mehrheit der Menschen in derselben Lage fühlen würde.

Eine weitere Möglichkeit ist es, eine umfangreiche Liste mit sämtlichen Gefühlen zu erarbeiten. Diese kannst Du immer bei Dir tragen und in verschiedenen Situationen mit ihrer Hilfe herausfinden, welche Gefühle jetzt auf Dich zutreffen. Die Wissenskarten aus der Gewaltfreien Kommunikation können Dich bei der Erarbeitung einer Gefühlsliste unterstützen.

Besonders hilfreich ist es, bei Deinem Körper zu beginnen. Denn wie bereits erwähnt, gehen unsere Gefühle immer mit Körperempfindungen einher. Redewendungen wie „Ich hatte vor Angst einen Kloß im Hals“ oder „Ich habe gerade so eine Wut im Bauch“ zeigen bildhaft den Zusammenhang von Gefühl und Körperempfindung auf.

Wenn Du Deinem Körper bis heute wenig Bedeutung beigemessen hast, kann es Dir zu Beginn schwerfallen, Deine Körperempfindungen wahrzunehmen. Lass Dich nicht davon abschrecken, wenn Dein Kopf denkt, dass Du gar nichts spüren kannst. Vertraue auf Deinen Körper. Du hast alle Zeit der Welt und es gibt hilfreiche Werkzeuge, um den Zugang zu Deinen Körperempfindungen zu unterstützen, zum Beispiel progressive Muskelentspannung, geführte Meditationen und Yoga.

b.) Umgang mit schmerzlichen Gefühlen

Sobald Du Deine innere Ablehnung gegen bestimmte Gefühle aufgegeben hast, kann es sein, dass sich sehr schmerzliche Gefühle zeigen, die lange keinen Raum bekamen. Traumagefühle können so stark sein, dass wir Angst haben, überwältigt zu werden, die Kontrolle über uns zu verlieren oder nie mehr aufhören können zu leiden.

Es ist gut möglich, dass Du eine Zeit lang viel Schmerz und Trauer, später Wut und Angst fühlst. Scheue Dich nicht Dir Hilfe zu suchen, wenn Du bemerkst, dass Deine Gefühle Dir Angst machen. Wenn Du so lange Zeit bestimmte Gefühle meiden musstest, kann es eine überwältigende Erfahrung sein, diese in ihrer ganzen Intensität zu fühlen. Du kannst Dir aber sicher sein, dass sich auch dies wieder verändern wird. Und indem Du ab jetzt Deine Gefühle achtsam beobachtest, wirst Du zunehmend auch Freude, Hoffnung, Stolz und wachsende Zufriedenheit spüren.

Um die gesamte Tiefe Deiner Gefühle zu fühlen, musst Du das ganze Spektrum Deiner Gefühle wieder zu Dir einladen.

Schön, dass Du da bist!

Koautor: Marco Sascha Heyn

 

Quellenverweise: 

Bass, Ellen & Davis, Laura (2001): Trotz allem – Wege zur Selbstheilung für sexuell mißbrauchte Frauen, 9. Edition, Berlin

Lindau, Veit (2020): Erfolgswerk. Abgerufen am 23. Januar 2021, von https://app.homodea.com/suche/erfolgswerk

Vergebung

Vergebung – Du musst nicht vergeben, um zu heilen

Wenn es um die Heilung von Traumata geht, die uns durch andere Menschen zugefügt wurden, werden wir früher oder später unweigerlich mit dem Thema Vergebung konfrontiert. Es heißt, dass Vergebung der erste Schritt sei, um zu heilen. Entgegen dieser weitverbreiteten Meinung möchte ich in meinem Beitrag aufzeigen, dass Du, um zu heilen, niemandem vergeben musst, außer Dir selbst.

Was heißt Vergebung eigentlich?

Der Begriff Vergebung ist stark von Religionen geprägt und wird sehr unterschiedlich gedeutet. Die meisten Menschen sehen ihn als moralisch an, weil er ihnen als Tugend beigebracht wurde. Vielleicht hast Du auch schon von der Redewendung gehört, dass Vergebung die Tür zu Glück und Frieden sei.  

Ganz klassisch wird Vergebung als Verzicht auf Schuldvorwurf einer Person bezeichnet, die sich als Opfer empfindet.
In spirituellen Kreisen heißt es, dass ein Vorankommen auf dem spirituellen Weg nur möglich sei, wenn der Groll gegenüber anderen Menschen aufgegeben wurde. Man könne erst heil werden, wenn einem Menschen, der Dir Schlimmes angetan hat, vergeben wurde.

Wenn wir diesen Begriffsdeutungen Glauben schenken, ist Heilung also erst möglich, wenn wir vergeben haben. Und wenn wir das noch nicht getan haben, fühlen wir uns als Opfer und sind voller Zorn und Groll.

Aber ist Heilung wirklich eine Folge von Vergebung oder ist es nicht vielmehr umgekehrt? Und fühle ich mich automatisch als Opfer und voller Zorn, wenn ich nicht verziehen habe? Meiner Meinung nach handelt es sich hier um zwei Paar Schuhe.

Aus eigener Erfahrung kann ich behaupten, dass Vergebung nicht notwendig ist, um zu heilen. Vergeben und verzeihen sind Begleiterscheinungen, die sich im Rahmen des eigenen Heilungsprozesses einstellen können, aber gewiss nicht müssen. Es kann sogar sein, dass der Versuch zu vergeben Deinen Heilungsprozess behindert.

Wie Vergebung unserer Heilung im Weg stehen kann

Durch die Prägungen religiöser, philosophischer und spiritueller Schriften haben viele Menschen Angst davor, nicht heilen zu können, weil sie sich außerstande fühlen zu vergeben. Es entsteht dann ein regelrechter Druck durch die Annahme, dass Vergebung eine Notwendigkeit für Heilung darstellt. Solange wir nicht vergeben haben, seien wir nicht frei und erleuchtet, sondern hartherzig, gnadenlos oder intolerant. Ziemlich verdreht uns, die misshandelt oder missbraucht wurden, solche Eigenschaften zuzuschreiben, findest Du nicht?

Auch ich selbst habe während meiner Yogalehrerausbildung viel Energie in Vergebungsarbeit gelenkt und diverse Methoden und Praktiken probiert, um meinen Eltern und meinem Bruder zu verzeihen. Irgendwann redete ich mir ein, mit allen im Reinen zu sein, weil ich die Hintergründe ihrer Handlungen verstanden hatte. Aber hat mir diese Form von Vergebung geholfen? Kein Stück! Mein innerer Leidenszustand hat sich dadurch kein bisschen verändert.

Vergebung nicht immer möglich

Vergebung als Kopfentscheidung

Wir können nicht beschließen zu vergeben und auf Knopfdruck Liebe und Mitgefühl für diejenigen empfinden, die uns Schlimmes angetan haben. Diese Gefühle können überhaupt erst dann für andere entstehen, wenn wir sie für uns selbst fühlen.

Also spar Dir die Anstrengung, Deinen Schmerz durch kopfmäßige Begründungen wegzurationalisieren. Es nützt Dir nichts zu verstehen, wie es zu Deinen Traumatisierungen gekommen ist. Denn echte Vergebung geschieht nicht über den Kopf, sondern über das Fühlen Deiner eigenen Traumagefühle.

Vergebung

Vergebung als zusätzliche Belastung

Wir müssen uns von dem Dogma befreien, dass wir erst Heilung finden, wenn wir vergeben haben. Wenn ein Mensch in seiner Kindheit schwer misshandelt oder über Jahre hinweg missbraucht wurde, leidet er ein Leben lang innere Qualen. Einen solchen Menschen aufzufordern, den Verursachern zu vergeben oder ihn sogar als unbarmherzig oder intolerant zu bezeichnen, ist keine Hilfe, sondern eine zusätzliche Belastung. Dieser Mensch glaubt ohnehin schon, dass mit ihm etwas nicht stimmt und jetzt verzweifelt er an dem Versuch zu vergeben und wird in diesem Glauben noch bestärkt. Auf diese Weise kann Heilung nicht gelingen.

Vergebung als Überlebensmechanismus

Wird Vergebung auf Kopfebene oder aus moralischem Druck heraus erzwungen, kann sich dahinter auch ein unbewusster Überlebensmechanismus verbergen. Es erscheint Dir vielleicht leichter zu verzeihen, statt Dich im vollen Ausmaß Deinen schmerzlichen Gefühlen zuzuwenden. Du verleugnest also womöglich Deine Traumagefühle, wenn Du Deine gesamte Energie und Aufmerksamkeit nur auf Vergebungsarbeit lenkst.  

„Wer meint, dem Täter verzeihen zu müssen, ist noch nicht bei sich und nimmt den Täter noch immer wichtiger als sich selbst. Er hat noch nicht die innere Klarheit gefunden, auch ohne den Täter leben zu können bzw. nur ohne den Bezug zu ihm wirklich bei sich zu sein. Das gilt noch mehr, wenn jemand meint, sich mit dem Täter aussöhnen zu müssen bzw. zu können. Er hat dann noch immer Angst vor ihm oder Mitleid mit ihm und meint, sich vor ihm schützen oder ihn retten zu müssen. Er steckt also weiterhin im Trauma der Liebe fest.“ (Franz Ruppert, 2019)

Mit falscher Vergebung willst Du vielleicht auch einer Konfrontation mit den Verursachern Deines Leidenszustands aus dem Weg gehen. Statt Deinen berechtigten Gefühlen von Trauer und Wut Ausdruck zu verleihen und Dich von ihnen abzugrenzen, passt Du Dich an, um weiterhin mit diesen Menschen auszukommen. Im Prinzip wiederholst Du so dasselbe Verhalten aus Deiner Kindheit und verhinderst Deine Heilung.

Du musst nur einer Person vergeben – Dir selbst

Vergebung für sich selbst

Statt Deine Energie auf die Verursacher Deiner Traumatisierungen zu lenken, unterstützt Du Deinen Heilungsprozess vielmehr, indem Du Dich Dir selbst zuwendest. Denn auf die Täter kommt es gar nicht an. Es ist nicht Deine Aufgabe, sie von ihren Handlungen freizusprechen. Du bist nur für Dich verantwortlich! Wenn Du also überhaupt jemandem vergeben solltest, dann Dir selbst!

Vielleicht helfen Dir die folgenden Punkte, um eine Idee davon zu bekommen, was Du Dir selbst vergeben möchtest. Du darfst Dir selbst vergeben, dass Du:

  • ein hilfloses Kind warst,
  • Dir Nähe und Zuwendung gewünscht hast,
  • Dich nicht wehren oder fliehen konntest,
  • keine Möglichkeit gesehen hast, Dich jemandem anzuvertrauen,
  • körperliche Reaktionen hattest, die Du nicht wolltest,
  • nicht in der Lage warst, die Taten zu verhindern,
  • so viel Zeit brauchtest, um Deine Traumatisierungen anzuerkennen
  • bis jetzt ein Leben mit Einbußen geführt hast,
  • bisher mehr überlebt, statt wirklich gelebt hast
  • als Erwachsene Deine Opferrolle weitergelebt hast,
  • Dich selbst und Deinen Körper bis jetzt nicht liebevoll behandelt hast,
  • Dir und womöglich auch anderen Menschen Schaden zugefügt hast.

Wenn Du beim Lesen dieser Punkte Traurigkeit oder Wut verspürst, ist das ein gutes Zeichen. Der Zugang zu Deinen Gefühlen ist ein erster Schritt, um Dir selbst zu verzeihen. Es ist gut möglich, dass sich dadurch mit der Zeit Vergebung für andere ganz natürlich einstellt. Es ist nämlich ein Prozess im Rahmen Deiner Heilung, den Du nicht beeinflussen musst.

Vergebung ist nicht das Ziel

Sobald Du den Entschluss gefasst hast zu heilen, wirst Du früher oder später eine Lösung finden, um mit Deiner Vergangenheit abzuschließen und nach vorne zu blicken. Wenn Du denen, die Dir Furchtbares angetan haben nicht verzeihen kannst oder willst, ist das vollkommen in Ordnung. Du bist dann weder ein schlechter Mensch noch weniger moralisch oder spirituell. Du bist einfach ein Mensch, der tiefe Wunden davongetragen hat.

Susan Forward beschreibt in ihrem Buch *Vergiftete Kindheit – Elterliche Macht und ihre Folgen sehr anschaulich zwei Aspekte der Vergebung. Zum einen das Bedürfnis nach Rache aufzugeben und zum anderen den Schuldigen von seiner Verantwortung zu befreien:

 „Ich konnte akzeptieren, dass man den Gedanken an Rache aufgeben muss. […] Denn sie fesselt durch Fantasien von Gegenschlägen, um Befriedigung zu erlangen. Sie schafft viel Unglück und Frustration. Sie arbeitet gegen emotionales Wohlbefinden. […] Der Verzicht auf Rache ist schwer, bedeutet aber einen gesunden Schritt.
Doch der andere Aspekt des Vergebens war nicht so eindeutig zu bestimmen. Ich hatte das Gefühl, etwas stimme nicht, wenn man jemanden fraglos von seiner rechtmäßigen Verantwortung entbindet, besonders, wenn er ein unschuldiges Kind schwer misshandelt hat. Warum in aller Welt sollte man einem Vater verzeihen, der geprügelt und terrorisiert hat? Wie soll man die Tatsache übersehen, dass man fast jeden Tag in ein dunkles Zuhause zurückkam und sich um die betrunkene Mutter kümmern musste? Und muss man wirklich einem Vater verzeihen, der einem im Alter von sieben Jahren vergewaltigte?“ (Susan Forward, 1993)

Wichtig ist also nur, dass Du Deinen Groll hinter Dir lässt und erkennst, dass Du heute kein Opfer mehr bist. Meiner Erfahrung nach geschieht dies ganz automatisch, wenn wir die verschiedenen Phasen der Heilung durchlaufen: Akzeptanz, Erinnerung, Trauer und auch Wut.

Vergebung

Traue Dich wütend zu sein

Gerade für uns Frauen ist es häufig eine große Herausforderung, unsere Wut zu erlauben. Denn von klein auf wurde uns beigebracht, dass es sich für brave Mädchen nicht gehört, wütend zu sein. Dabei ist es sehr heilsam, die eigene Wut im Körper wahrzunehmen und auszudrücken. Wie andere Traumagefühle ist auch sie gebundene Lebensenergie, die darauf wartet, freigesetzt zu werden.

Einige Menschen, darunter manchmal auch Therapeuten, fühlen sich durch die Kraft, die sich in der Wut verbirgt, unbehaglich. Besonders dann, wenn sie selbst nicht schaffen, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Sie raten uns dann zu Vergebung, damit wir sie nicht länger mit ihren ungelösten Gefühlen konfrontieren. Lass Dich von solchen Menschen nicht verunsichern. Nachdem, was uns angetan wurde, haben wir allen Grund, wütend zu sein! Solange wir unsere Wut nicht ausagieren, indem wir uns selbst oder anderen Schaden zufügen, ist sie ein wichtiger Schritt zur Heilung. Erlaube Dir also wütend zu sein und tausche Deine Wut keinesfalls gegen falsche Vergebung ein.

Komme ganz bei Dir an

Spätestens, wenn Du alle Phasen der Heilung durchlaufen hast, hast Du die volle Verantwortung für Dein Leben und Dein Glück übernommen. Wahrscheinlich hältst Du es dann gar nicht mehr für notwendig, Dich mit den Verursachern Deiner Traumatisierungen auseinanderzusetzen. Franz Ruppert beschreibt es im Buch *Liebe, Lust und Trauma – Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität wie folgt:

„Du erkennst, dass Du Dein Trauma wirklich verarbeitet hast, wenn Dir die Verursacher Deines Leides gleichgültig geworden sind. Du verschwendest dann keinerlei Gedanken oder Emotionen mehr an diese Personen.“ (Franz Ruppert, 2019).

Ich selbst bin noch nicht an diesem Punkt angekommen. Ich kann auch nicht sagen, ob ich je in der Lage sein werde meinen Eltern und meinem Bruder zu vergeben, was sie mir angetan haben. An manchen Tagen fühle ich noch große Trauer, an anderen Tagen überwiegt die Wut. Gelegentlich empfinde ich sogar auch Mitgefühl. 

Es ist ein Prozess. Und wie mein Beitrag gezeigt hat, ist Vergebung auch nicht das Ziel. Ich mache einen Schritt nach dem anderen auf meinem Weg der Ganzwerdung und wenn sich so eines Tages Vergebung einstellt, ist das ein schöner Nebeneffekt meiner eigenen Heilung. Wenn nicht, ist das auch vollkommen okay.

Wie geht es Dir nach dem Lesen dieser Zeilen? Glaubst Du noch immer, dass Vergebung der erste Schritt zur Heilung ist? Oder fühlst Du gerade Erleichterung, weil es nicht so ist? Ich freue mich, wenn Du andere Leserinnen und mich in einem Kommentar an Deiner Sichtweise teilhaben lässt.

Schön, dass Du da bist!

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Quellenverweise: 

Forward, Susan (1993): Vergiftete Kindheit: Elterliche Macht und ihre Folgen, 1. Edition, München

Ruppert, Franz (2019): Liebe, Lust und Trauma: Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität, 1. Aufl., München

Identitätsorientierte Psychotraumatherapie IoPT

Identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) – Begegne Dir selbst

Die identitätsorientierte Psychotraumatherapie (IoPT) bildet die Basis für eine von Dr. Franz Ruppert entwickelte Aufstellungsmethode. Diese Methode ermöglicht es, unbewusste Traumatisierungen bewusst zu machen und die in Folge von Traumata abgespaltenen Anteile wieder zu integrieren. Es ist die Therapieform, mit der ich in kürzester Zeit große Fortschritte auf meinem Weg gemacht habe. Aus diesem Grund kann ich es nicht länger abwarten, Dir die Methode etwas genauer vorzustellen

Was ist eine Aufstellung

Der Begriff Aufstellung wurde durch das Familienstellen nach Bert Hellinger geprägt. Dabei handelt es sich um eine Methode aus der systemischen Therapie, bei der einzelne Personen als Stellvertreter für Familienmitglieder im Raum positioniert werden, um belastende Beziehungsmuster und –dynamiken innerhalb der Familie sichtbar zu machen.

Franz Ruppert, Professor für Psychologie und approbierter psychologischer Psychotherapeut, arbeitete viele Jahre mit dieser Methode nach Hellinger. Im Laufe der Zeit bemerkte er jedoch immer größere Unstimmigkeiten in Bezug auf das Familienstellen.

Durch seine intensive Beschäftigung mit der Bindungstheorie von John Bowlby erkannte Ruppert in den Aufstellungen kindliche Bindungsmuster, die sich in späteren Beziehungen ständig wiederholten. Er schlussfolgerte daraus, dass ein Großteil aller Probleme durch frühe Traumata hervorgerufen werden.

Auf Grundlage der Erkenntnis, dass es bei Traumatisierungen zu einer seelischen Spaltung kommt, entwickelte er eine eigene Aufstellungsmethodik – die Identitätsorientierte Psychothraumatherapie (IoPT).

IoPT

Abgrenzung der IoPT vom Familienstellen

Im Vergleich zum Familienstellen repräsentieren die Stellvertreter bei der Aufstellungsmethode von Franz Ruppert keine kompletten Personen, sondern nur gewisse Anteile von ihnen, z.B. den traumatisierten Anteil der Mutter oder einen verletzten Kind-Anteil.

Das Hauptziel dieser Methodik liegt darin, dass sich diese Anteile wieder zu einer Gesamtpersönlichkeit zusammenfinden. Der Fokus rückte also weg vom Familiensystem, hin zum inneren System eigener psychischer Anteile. Demnach geht es also nicht darum mit der Familie ins Reine zu kommen, sondern mit sich selbst.

„Im Prinzip kann man die Unterschiede so zusammenfassen: Während mittels Familienaufstellungen der Versuch unternommen wird, Verstrickungen innerhalb der Familie aufzulösen, biete ich mit meiner Theorie und Methodik an, sich aus den symbiotischen Verstrickungen innerhalb der Familie zu lösen.“ Franz Ruppert (2019)

Für mich persönlich ergibt dieser Ansatz großen Sinn. Denn ich bin nicht in der Lage, die Traumatisierungen meiner Eltern, Geschwister oder Großeltern zu heilen, so sehr ich mir das in der Vergangenheit auch gewünscht habe. Wenn andere nicht von sich aus den Entschluss fassen, die eigenen Traumatisierungen aufzuarbeiten, liegt das nicht in meiner Verantwortung. Es liegt aber in meiner Verantwortung, meine eigenen Leidenszustände aufzulösen.

Wie funktioniert die Identitätsorientierte Psychotraumatherapie?

Die Anliegenmethode 

Die zur identitätsorientierten Psychotraumatherapie passende Methode nennt Franz Ruppert „Anliegenmethode“ oder auch „Selbstbegegnung“.

Ein Klient übernimmt dabei die Verantwortung für seinen Heilungsprozess, indem er selbst ein Anliegen formuliert, das er in einer Aufstellung anschauen möchte. Das kann alles Mögliche sein – körperliche Beschwerden, emotionale Belastungen oder auch zwischenmenschliche Schwierigkeiten. Das Anliegen kann als Satz formuliert werden (Wurde ich sexuell missbraucht?) oder nur aus Worten bestehen (Ich – Wut – Vater).

Einzel- oder Gruppentherapie

Die Anliegenmethode wird nach meinem Kenntnisstand in zwei Varianten angeboten. Als Einzeltherapie und als Gruppentherapie. Während ich bei der Gruppentherapie einzelne Personen als Resonanzgeber für mein Anliegen auswähle, steht mir bei der Einzeltherapie der Therapeut oder die Therapeutin als alleiniger Resonanzgeber zur Verfügung. Mithilfe von Platzhaltern (z.B.: Kissen) nimmt er oder sie die Positionen meines Anliegens ein und teilt mir mit, was an Empfindungen, Gefühlen und Gedanken jeweils wahrgenommen wird.

Meine Therapeutin Andrea Stoffers vom Zentrum Mensch in Neuss beschreibt die beiden Varianten der Anliegenmethode in einem Artikel des Magazins Freie Psychotherapie (02/2012) wie folgt:

Die Aufstellungsarbeit von Prof. Dr. Franz Ruppert ist eine wirkungsvolle Methode, um die psychische Spaltung zu erkennen, sich Stück für Stück zusammen mit dem Klienten heranzutasten und letzthin durch Erkennen, Benennen und Fühlen, Kontakt zu den abgespaltenen Personenanteilen aufzunehmen. Durch eigene, authentische Gefühle zu sich selbst können die Selbstheilungskräfte aktiviert und dadurch die Spaltung geheilt werden.
Der Therapeut begleitet den Klienten behutsam Schritt für Schritt, immer im Bewusstsein, die Geschichte und das Arbeitstempo des Klienten anzuerkennen. In der Einzelarbeit stellt sich der Therapeut als Anliegen zur Verfügung, ist dem Menschen ein neutraler Spiegel. In gruppentherapeutischen Sitzungen „liest“ er die Aufstellungen, begleitet klar und transparent, statt zu lenken.

Ich persönlich bevorzuge die Arbeit in der Gruppe, weil mein Anliegen durch mehrere Resonanzgeber gespiegelt wird, die miteinander interagieren können. Dadurch kann ich die Zusammenhänge und Dynamiken meiner abgespaltenen Anteile leichter erkennen.

Bisher habe ich in der Gruppe 11 eigene Anliegen aufgestellt und an über 50 Aufstellungen anderer Menschen teilgenommen. Damit Du Dir ein Bild von so einer Gruppensitzung machen kannst, möchte ich den Ablauf nachfolgend skizzieren.

Psychotraumatherapie

Ablauf einer Gruppensitzung

Bei der Gruppentherapie komme ich mit einer Gruppe von Menschen zusammen, die von einem Therapeuten oder in meinem Fall einer Therapeutin angeleitet wird, die in der Methode ausgebildet ist. Als Klientin bringe ich ein selbst gewähltes Anliegen mit, welches ich an eine Tafel anschreibe.

Ich wähle dann drei Worte aus diesem Anliegen aus, die ich aufstellen möchte, denn ich darf aus der Gruppe drei Personen als Resonanzgeber aufstellen. Zunächst schreibe ich aber die Worte auf drei kleine Zettel, die als Namenschilder für die Resonanzgeber dienen sollen.

Im nächsten Schritt wähle ich dann die Resonanzgeber aus. Ich gehe auf die entsprechende Person zu und frage sie, ob sie bereit ist, mit meinem Anliegen-Wort in Resonanz zu gehen. Willigt die Person ein, befestigt sie den Zettel mit dem Wort an ihrer Kleidung, sodass die Therapeutin den Prozess gut begleiten kann.

Nun habe ich noch einen Moment Zeit, um mich auf die Aufstellung einzustimmen. Erst wenn ich meine Bereitschaft äußere, beginnt der Prozess.
Zu Beginn bleibe ich noch in der Beobachterrolle, indem ich schaue, wie sich die Resonanzgeber verhalten. Vielleicht legt sich jemand auf den Boden oder läuft ruhelos durch den Raum. Vielleicht geschieht auch gar nicht viel. Nach einer Weile, meist durch ein Zeichen meiner Therapeutin, trete ich in Aktion. Ich werde nun Teil der Aufstellung, indem ich nacheinander auf die Resonanzgeber zugehe, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen.

Begegnung meiner Anteile

Ganz intuitiv gehe ich zunächst auf den Resonanzgeber zu, der mich momentan am meisten anzieht. Vielleicht, weil er oder sie sich am auffälligsten verhält oder weil es scheint, als brauchte er oder sie meine Aufmerksamkeit. Ich frage den Resonanzgeber dann nach seinen Gefühlen und gebe Rückmeldungen zu den Äußerungen, wenn ich das Beschriebene selbst sehr gut kenne. Auf diese Weise kann ich herausfinden, ob ich es mit einem Anteil von mir selbst zu tun habe oder nicht. Ich bin in Aufstellungen auch schon Anteilen meiner Eltern oder meines Bruders begegnet.

Wenn es ein Anteil von mir ist, frage ich auch nach dem Alter, um herauszufinden, um welche Kindheitserfahrungen es geht. Es können aufschlussreiche Dialoge entstehen und die Anteile lassen mich wissen, was sie gerade benötigen, sofern es ihnen selbst bewusst ist.

Während ich dann zum nächsten Resonanzgeber gehe, um ihn zu befragen, kann es zu sichtbaren Veränderungen bei den übrigen Anteilen kommen. Häufig ist das auch der Fall, wenn ich selbst mit Gefühlen in Kontakt komme. Ein klassisches Bild könnte sein, dass, wenn ich den Schmerz eines Kind-Anteils von mir fühle, dann der Anteil zur Ruhe kommt, der sich versucht abzulenken, um den Schmerz nicht zu fühlen.

Inneres Kind

Durch diese Form der Selbstbegegnung mittels Anliegen spiegeln mir andere Menschen, wie es in meiner Psyche aussieht. Wenn ich mich selbst darin wiedererkenne (damit in Resonanz gehe), wird eine Aufhebung der traumabedingten Spaltung möglich, sofern ich das auch will.

Immer wieder bin ich beeindruckt davon, wie sehr ich mich in dem wiedererkenne, was die Resonanzgeber mir spiegeln. Sie beschreiben Empfindungen und Gefühle, die mich tatsächlich sehr belasten oder benutzen Worte und Sätze, die ich aus meiner Familie sehr gut kenne. Es klingt fast wie Magie, aber eigentlich macht es nur deutlich, dass wir Menschen alle miteinander in Verbindung stehen.

Identitätsorientierte Psychotraumatherapie und seine Wirkung

Während andere Therapiemethoden sich als nützlich erweisen, um Verhaltensweisen zu fördern, die zu mehr Stabilität beitragen packt die Aufstellungsmethode auf Basis von identitätsorientierter Psychotraumatherapie das Problem an der Wurzel an. Du stellst ein Anliegen zu einem Thema auf, was Dich in Deinem aktuellen Leben gerade beschäftigt und findest heraus, welche unbewussten Traumatisierungen die Ursache sind. Allein durch das Bewusstwerden geschieht schon eine Veränderung. Vor allem aber durch das in Kontakt kommen mit den entsprechenden Gefühlen.

Ich habe noch keine Therapieform kennengelernt, die mir so schnell und unkompliziert Zugang zu meinen Traumagefühlen ermöglicht. Und das in einem sicheren Raum, indem ich mit Verbündeten gemeinsam aufstelle. Außerdem ermöglicht diese Methode, die eigenen Überlebensmechanismen aufzudecken und zu begreifen. Wenn ich meine Überlebensstrategien durch die Resonanzgeber so klar vor Augen geführt bekomme, weiß ich im Anschluss genau, welche Veränderungen es braucht, um mich liebevoll meinen Gefühlen zuzuwenden.

Dadurch kommt es zu einer Stärkung meiner gesunden Ich-Anteile. Im Alltag drückt sich das so aus, dass ich meine Bedürfnisse besser erkenne und mich von denen anderer Menschen auf gesunde Weise abzugrenzen lerne. Für mich ist es fast so, als ob ich erst jetzt wirklich erwachsen werde und im Hier und Jetzt und in meinem eigenen Körper ankomme. Denn jetzt lerne ich wieder oder vielleicht sogar zum ersten Mal wirklich Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. 

Braucht es eine zusätzliche Therapie?

Umgang mit Traumagefühlen

Als ich im Jahr 2019 angefangen habe, mit dieser Methode zu arbeiten, fühlte ich mich nach den Sitzungen manchmal überfordert und allein mit all den neuen Erkenntnissen und Gefühlen. Durch das in Kontaktkommen mit Traumagefühlen fehlte mir zeitweise der Zugriff auf meine erwachsenen Ressourcen, mit denen ich mich hätte stabilisieren können. Zeitweise griff ich dann auf alt bewährte Schutzstrategien zurück und versuchte mich abzulenken oder zu betäuben.

identitätsorientierte Psychotraumatherapie IoPT

Was mir fehlte, war eine Therapeutin, die mich auch nach den Aufstellungen in meinen Prozessen begleitete.
Damit Du es von Anfang an leichter hast, möchte ich Dir also eine Begleittherapie dringend empfehlen. Im Idealfall mit dem gleichen Therapeuten, der die Aufstellungen leitet. Bei mir war das leider nicht realisierbar, weil das Zentrum Mensch in Neuss zwei Stunden von meinem Wohnort entfernt ist.

Falls auch Du Dir anderweitig Unterstützung suchen musst, solltest Du darauf achten, dass die Person mit Traumatherapie vertraut ist. Therapeuten anderer Ausrichtungen können nämlich schon mal davon abraten, an die alten Traumagefühle heranzutreten. Wenn Du jedoch verstanden hast, wie Trauma funktioniert, weiß Du auch, dass kein Weg an den Gefühlen vorbeiführt. 

Phasen der Gefühlsintegration

Mittlerweile habe ich für mich einen guten Umgang mit den Nachwirkungen einer Aufstellung gefunden. Ich beobachte fast jedes Mal, dass sie sich in drei Phasen unterteilen:

1. Gefühlstaubheit/Dissoziation

An den Tagen direkt nach der Aufstellung habe ich oft gar keinen Zugang zu meinen Gefühlen. Ich denke, dass es eine unbewusste Schutzstrategie ist, die mir nach der Konfrontation mit den Traumagefühlen während der Aufstellung zu etwas Ruhe verhelfen will.

2. Starke Gefühlsreaktionen (Angst, Schock, Hilflosigkeit, Trauer, Wut etc.)

Nach einigen Tagen kommen dann die in der Aufstellung aufgedeckten Gefühle wieder zum Vorschein und ich habe die Möglichkeit, sie in ihrer vollen Intensität durchzufühlen.

3. Integration der Gefühle/Stabilisierung

Wenn ich keinen Widerstand gegen meine Gefühle leiste und mir stattdessen Zeit nehme, um mich mir selbst zuzuwenden, können die abgespaltenen Gefühle sich wieder integrieren. Diese Phase geht bei mir auch oft mit wichtigen Erkenntnissen und nachhaltigen Verhaltensänderungen einher.

Was ist Dein Anliegen?

Wenn auch Du mit belastenden Themen oder ungeklärten Fragen in Deinem Leben konfrontiert bist, kann die identitätsorientierte Psychotraumatherapie Dir mit Sicherheit weiterhelfen. Du kannst ohne Weiteres Deinen körperlichen und psychischen Symptomen auf den Grund gehen und zeitgleich die Entwicklung einer gesunden Identität fördern. Das einzige, was Du brauchst, ist ein klares Anliegen und etwas Mut!

Weil ich so gute Erfahrungen mit meiner Therapeutin Andrea Stoffers vom Zentrum Mensch gemacht habe, komme ich nicht drumherum Sie weiterzuempfehlen!

Unter der Leitung von Andrea fühle ich mich in den Aufstellungen gut begleitet und unterstützt. Sie lässt genug Raum für eigene Erkenntnisse und gibt zur rechten Zeit Impulse, wenn ich im Prozess feststecke. Vor allem bewundere ich ihre Fähigkeit, immer genau zu erkennen, welche Anteile sich bei einer Aufstellung zeigen.
In meinen Augen ist Andrea eine sehr kompetente Therapeutin mit einer authentischen und direkten Art, die ich sehr sympathisch finde. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und steht trotzdem an den richtigen Stellen einfühlsam zur Seite. Weil ich mich so gut bei ihr aufgehoben fühle, werde ich auch weiterhin die Strecke nach Neuss auf mich nehmen, um von meinen Traumata ganz zu werden.

Wenn Neuss für Dich nicht gut zu erreichen ist, findest Du über die Empfehlungsliste von Dr. Franz Ruppert weitere Therapeuten in Deiner Nähe.

Hast Du bereits Erfahrungen mit Aufstellungen gemacht? Vielleicht sogar mit der Anliegenmethode? Welche Erkenntisse hast Du daraus gewonnen? Ich freue mich, wenn Du mich in einem Kommentar an Deinen Einsichten teilhaben lässt.  

Schön, dass Du da bist!


Quellenverweise: 

Ruppert, Franz (2019): Liebe, Lust und Trauma: Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität, 1. Aufl., München

Ruppert, Franz (2017): Symbiose und Autonomie: Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen. 5. Aufl., Stuttgart

Ruppert, Franz (2012): Trauma, Angst und Liebe: Unterwegs zu gesunder Eigenständigkeit. Wie Aufstellungen dabei helfen, 6. Edition, München

Ruppert, Franz (2019): Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft?: Wie Täter-Opfer-Dynamiken unser Leben bestimmen und wie wir uns daraus befreien, Stuttgart

Stoffers, Andrea (2012): Trauma-Aufstellungen. Eine psychotherapeutische Methode in der Praxis. Abgerufen am: 13.07.21, von https://www.vfp.de/magazine/freie-psychotherapie/alle-ausgaben/heft-02-2012/trauma-aufstellungen

Inneres Kind

Dein inneres Kind – Die wichtigste Beziehung in Deinem Leben

Dein inneres Kind ist die wohl wichtigste Beziehung Deines Lebens. Warum das so ist und wie Du Dein Kind zu Dir einladen kannst, um eine liebevolle Beziehung aufzubauen, erfährst Du in diesem Beitrag. Außerdem gebe ich Dir Übungen an die Hand, mit denen Du Dein inneres Kind ins Hier und Jetzt holst, um es in seiner Weiterentwicklung zu unterstützen.

Warum ist Dein inneres Kind so wichtig?

Wir alle tragen ein kleines, verletztes Kind in uns, denn wir alle haben in unserer Kindheit Verletzungen davongetragen, die meisten von uns wurden sogar traumatisiert. Wenn wir verletzt und gedemütigt wurden, konnten wir nicht einfach unsere Koffer packen und gehen. Wir waren gezwungen, uns anzupassen und meist war das nur möglich, indem wir die schlimmen Gefühle in unser Unbewusstes verdrängt haben. Unser ganzes Leben versuchen wir diese schmerzhaften Erfahrungen dort zu vergraben, weil wir glauben, es nicht ertragen zu können, noch einmal damit in Berührung zu kommen.

Auch wenn wir es schaffen, unsere verletzenden Kindheitserfahrungen so weit zu verdrängen, dass wir damit nicht in bewusstem Kontakt sind, wird unser gesamtes (Er-) Leben unbewusst von den Prägungen unserer Kindheit beeinflusst. Es sind die tief verankerten Überzeugungen unseres Kindes, die unsere Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken und Handlungen im Hier und Jetzt lenken.

Das innere Kind ist sozusagen die Summe unserer kindlichen Prägungen – guter wie schlechter, die wir durch unsere Eltern und andere wichtige Bezugspersonen erfahren haben. Stahl, Stefanie (2015)

Solange das Kind auf der Erfahrungsebene von damals allein bleibt, werden wir in bestimmten Situationen selbst immer wieder zu diesem Kind. Eine Geste, ein Blick oder das Wort eines anderen Menschen kann ausreichen, um uns völlig aus der Bahn zu werfen. Wir fühlen uns dann womöglich überflutet von Gefühlen wie Hilflosigkeit, Angst, Scham oder Ekel. Vielleicht werden wir wütend und agieren das unserem Gegenüber aus.

Es sind dieselben Gefühle von damals, auf die wir auf dieselbe Weise reagieren, die uns einst geschützt hat. Weil die ursprüngliche Gefahr aus Deiner Kindheit längst vorüber ist, sind diese Reaktionsmuster in Deinem Erwachsenenleben meist unpassend. Dass wir emotional überreagiert haben, erkennen wir auch, sobald sich die Gefühle wieder beruhigt haben.

Die Zuwendung zu Deinem inneren Kind hilft Dir erwachsen zu werden, sodass Dein Leben und Deine Beziehungen nicht länger von verdrängten Kindheitserfahrungen beeinflusst werden. Es geht nicht darum, zurück in alten Wunden rumzustochern, sondern die Gefühle, die im Hier und Jetzt Dein Leben beeinflussen, einzuordnen und zu heilen.

Verzweifelte Suche nach Liebe

Wenn wir in unserer Kindheit tiefe Verletzungen davongetragen haben, wurde uns die Liebe, Anerkennung und Geborgenheit verwehrt, die jedem Kind zusteht. Wir konnten kein Urvertrauen entwickeln, haben Probleme mit dem Selbstwertgefühl und Schwierigkeiten inneren Halt zu finden. Ohne das bewusst wahrzunehmen, suchen wir bis heute verzweifelt nach dieser elterlichen Zuwendung.

Wir versuchen noch immer unsere Eltern zu beeindrucken, um irgendwann doch noch ihre Anerkennung zu erhalten. Oder wir suchen bei unseren Beziehungspartnern, Kindern oder Vorgesetzten nach der Liebe, Anerkennung und Geborgenheit, die wir als Kinder nicht erfahren durften.

Wenn ein erwachsener Mensch im Außen nach elterlicher Zuwendung sucht, führt das über kurz oder lang natürlich zu Ent-täuschung auf allen Seiten. Keine äußeren Umstände und kein anderer Mensch kann die Wunden heilen, die Deine Kindheitserfahrungen hinterlassen haben. Nur Du selbst bist in der Lage, diese Wunden zu verarzten. Dafür ist es notwendig, den Anteil in Dir zu begrüßen, der damals so maßlos enttäuscht und verletzt wurde. Dein inneres Kind!

Inneres Kind - Wir sehen Welt nur einmal

Den Widerstand aufgeben

Manchmal haben wir anfangs Widerstände gegen unser inneres Kind. Wir verknüpfen es mental mit der schlimmen Vergangenheit oder verurteilen es für seine Schwäche, die es damals erst ermöglicht hat, dass uns furchtbare Dinge angetan wurden.

Hinter dieser selbstverneinenden Betrachtungsweise verbirgt sich womöglich ein Schutzmechanismus. Vielleicht erscheint es Dir noch zu schmerzhaft anzuerkennen, wie groß Deine Verletzungen tatsächlich sind. Womöglich traust Du Dich auch noch nicht einzugestehen, dass die Menschen, die Du geliebt hast und die für Deinen Schutz verantwortlich waren, Dich allein gelassen oder Dir Schlimmes angetan haben.

Häufig taucht auch ein Widerstand auf, wenn es darum geht, die Eltern zur Verantwortung zu ziehen. Als Kinder lieben wir unsere Eltern bedingungslos, auch wenn sie uns Verletzungen zufügen. Wir fühlen uns schuldig, wenn wir sie jetzt kritisch betrachten sollen.

Meist sehen wir die Dinge auch nicht ganz klar. Weil wir als Kinder weiter in der Familie leben mussten, war es notwendig, ein Bild von unseren Eltern zu erschaffen, dass nicht die ganze Realität widerspiegelt. Dieses Bild jetzt mit der Wirklichkeit abzugleichen, kann sehr schmerzhaft sein. So schmerzhaft, dass wir vorziehen, mehr Verständnis für unsere Eltern aufzubringen als für uns selbst. Es geht aber gar nicht darum, Deine Eltern anzuklagen oder zu verurteilen. Es geht einzig um die Anerkennung Deiner Gefühle. Du darfst Dich jetzt so wichtig nehmen, dass Du Deine Gefühle in den Mittelpunkt stellst.

Dein inneres Kind zu Dir einladen

Um eine liebevolle Beziehung zu Deinem inneren Kind herzustellen, darfst Du Dein inneres Kind zunächst zu Dir einladen. Es muss erfahren, dass Du Dich ihm jetzt zuwendest und nicht länger von Dir weist. Du kannst diese Einladung schriftlich, gedanklich oder verbal aussprechen. Oder am besten alles in Kombination. Deine Einladungssätze könnten wie folgt aussehen:  

  • „Liebes inneres Kind, ich lade Dich jetzt ein, Dich mir zu zeigen – Du bist willkommen“.
  • „Liebe/r (DEIN NAME), ich möchte Dich kennenlernen und habe die Absicht, ab jetzt für Dich da zu sein“.

Vielleicht hältst Du es auch für notwendig, Dich bei ihm zu entschuldigen, weil Du es solange ignoriert hast. Dann formuliere:

  • „Mein geliebtes kleines Ich, es tut mir Leid, dass ich Dich solange allein gelassen habe, ab jetzt möchte ich für Dich da sein“.

Ganz wichtig ist, dass Du ehrlich mit Dir und Deinem inneren Kind bist. Es merkt schnell, wenn Du Versprechungen machst, von denen Du selbst noch nicht weißt, ob Du sie halten kannst. Deshalb erkläre ihm lieber Deine ehrliche Absicht, ohne voreilige Versprechungen zu machen. Du kannst Deinem Kind auch offen anvertrauen, dass Du womöglich gerade noch etwas Angst vor seiner Nähe hast oder vielleicht sogar wütend auf es bist. Füge dann aber hinzu, dass Du an einer liebevollen Beziehung interessiert bist. Dein inneres Kind wird es zu schätzen wissen, dass Du ihm auf Augenhöhe begegnest.

Wenn Du Dich erstmalig Deinem verletzten Kind zuwendest, geht es erst mal darum, Vertrauen aufzubauen. Dein inneres Kind wurde so lange allein gelassen, dass es vielleicht etwas Zeit braucht, bis es sich traut, sich Dir zu zeigen. Sei geduldig und nachsichtig und sprich ihm gut zu, dass es sich in seiner Zeit zeigen darf.

Inneres Kind

Dein inneres Kind wartet sehnsüchtig darauf, endlich gesehen und gehört zu werden. Wenn Du es immer wieder einlädst, wird es Deine Einladung früher oder später annehmen. Das kann über Deine Gefühle, Gedanken, innere Bilder oder auch über Träume geschehen. Sei aufmerksam und lausche. 

Deinem inneren Kind neue Überzeugungen schenken

Sobald sich Dir Dein inneres Kind mitteilt, wirst Du unweigerlich mit seinen inneren Überzeugungen konfrontiert werden. Aufgrund der verletzenden Kindheitserfahrungen hat Dein inneres Kind viele negative Glaubenssätze über sich selbst und das Leben verinnerlicht.

Es glaubt vielleicht wertlos zu sein, dumm oder sogar böse. Womöglich denkt es tief im Inneren eine Last für andere zu sein oder immer für andere da sein zu müssen. Solche tief verankerten Überzeugungen beeinflussen Dein gesamtes Leben und sollten deshalb schleunigst überprüft und aktualisiert werden.

Nimm Dir Zeit, um alle Glaubenssätze und Überzeugungen aufzuschreiben, sobald sie Dir im Kontakt mit Deinem inneren Kind bewusst werden. Schau Dir die Liste, die Du jederzeit erweitern kannst, dann in Ruhe an und überlege Dir, wie Du die jeweiligen Überzeugungen ersetzen möchtest. Meist eignen sich gegenteilige Entsprechungen:

Ich bin wertlos                      ->               Ich bin wertvoll 

Ich bin ein Last                      ->               Ich bin eine Bereicherung 

Ich muss funktionieren       ->               Ich darf einfach sein 

Ich muss für Dich da sein   ->               Ich darf mich abgrenzen 

Ich persönlich arbeite schon seit vielen Jahren mit Glaubenssätzen und habe gute Erfahrungen damit gemacht, sie aufzuschreiben und täglich durchzulesen oder sie aufzusprechen und vorm Einschlafen anzuhören. Wichtig ist, dass die Formulierung der neu gewählten Affirmationen sich stimmig für Dich anfühlt und Du regelmäßig damit arbeitest. Es braucht viel Zeit und Geduld, um die jahrzehntelang verinnerlichten Überzeugungen gegen neue zu ersetzen.

Wenn Du Dich tiefer mit Deinen Glaubenssätzen auseinandersetzen möchtest, empfehle ich Dir das Buch *Das Kind in Dir muss Heimat finden: Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme von Stefanie Stahl (2015).

„Erfolgsautorin Stefanie Stahl hat einen neuen, wirksamen Ansatz zur Arbeit mit dem inneren Kind entwickelt: Er geht on dem verletzten „Schattenkind“ aus, in dem unsere negativen Glaubenssätze und die daraus resultierenden belastenden Gefühle abgespeichert sind. Wenn wir Freundschaft mit ihm schließen, lässt sich das „Sonnenkind“ befreien – unser lebenszugewandter freudiger und starker Wesenskern, der glückliche Beziehungen und ein Leben in Fülle erst möglich macht.“

Affiliate-/Werbelink: Wenn Du Dir das Buch über diesen Link kaufst, unterstützt Du meine Arbeit, ohne das Dir dadurch ein Nachteil entsteht. Lieben Dank!

Eine liebevolle Beziehung gestalten

Um eine liebevolle Beziehung zu Deinem inneren Kind aufzubauen, musst Du in erster Linie den Raum schaffen, in dem es mit all seinen Gefühlen sein darf. Dein Kind leidet noch immer unter den schrecklichen Gefühlen der Vergangenheit. Es trägt diese Last ganz allein auf seinen Schultern und wartet sehnsüchtig darauf, dass Du ihm diese Last abnimmst, damit es endlich einfach Kind sein darf.

Es geht also darum, eine Beziehung zwischen der/dem Erwachsenen, die/der Du heute bist und dem Kind von damals in Dir herzustellen. Als Erwachsene/r kannst Du für Dein Kind da sein und ihm die Liebe, Anerkennung und Geborgenheit schenken, die es verdient hat.

Dafür begleitest Du es in seinen Gefühlen, spendest ihm Trost und bleibst an seiner Seite. Drei Bedürfnisse Deines inneres Kindes solltest Du bei der Kommunikation besonders beachten:

1.) Es will gesehen und ernst genommen werden.

2.) Es will seine Gefühle ungehindert ausdrücken können.

3.) Es will Gewissheit, dass Du da bist.

Wenn Dein inneres Kind seine tief verwundeten Gefühle also zum Ausdruck bringt, dann verdeutliche, dass Du es siehst und ernst nimmst, indem Du wiederholst, was es Dir sagt oder zeigt:

„Ich sehe, wie traurig, wütend, ängstlich…Du bist. Das ist ok. Alles darf sein.“

Versuche dabei nicht in Erklärungen oder Rechtfertigungen zu gehen. Es geht einzig und allein darum Dein inneres Kind mit all seinen Gefühlen da sein zu lassen und für es da zu sein!

Um Deinem inneren Kind die Gewissheit zu geben, dass Du da bist und nicht weggehst, füge dem oben genannten Satz hinzu:

„Ich bin da und ich gehe nicht weg.„ und/oder „Du bist jetzt nicht mehr allein.“

Wenn wir schaffen unseren Gefühlen regelmäßig auf diese Weise zu begegnen, findet unser inneres Kind Heilung. Es kann Fortschritte in seiner Entwicklung machen, die gewissermaßen eingefroren war. Du befreist Dein Kind aus der Vergangenheit und holst es ins Hier und Jetzt!

Übungen, um Dein inneres Kind ins Hier und Jetzt zu holen

Es gibt zahlreiche Übungen, um das Vertrauen zu Deinem Kind zu stärken und ihm zu verdeutlichen, dass Du im Hier und Jetzt an einer Beziehung mit ihm interessiert bist. Einige, die ich selbst gerne anwende, stelle ich Dir jetzt vor. Bitte lass Dich nicht davon abschrecken, wenn Dir die Übungen am Anfang etwas komisch vorkommen. Es wird sich auszahlen, es zu probieren und über Deinen Schatten zu springen.

1. Einen Brief an Dein inneres Kind schreiben

Mach es Dir gemütlich und stimme Dich liebevoll auf diese Übung ein. Konzentriere Dich für ein paar Minuten auf Deinen Atem bevor Du beginnst und komme ganz im Moment an. Dann beginne intuitiv drauf loszuschreiben. Schreib einfach alles auf, was Dir in den Sinn kommt. Vielleicht möchtest Du Deinem Kind etwas Bestimmtes sagen, womöglich Sätze, die Du als Kind selbst gerne gehört hättest. Vielleicht möchtest Du ihm auch Fragen stellen.

Je öfter Du diese Übung durchführst, umso wirkungsvoller! Dein Kind-Anteil spürt, dass Du Dir Zeit nimmst und Dich ihm aktiv zuwendest. Vielleicht möchte Dir das Kind dann sogar antworten und Dich wissen lassen, was es sich wünscht oder was es braucht. Du kannst die Übung dann gleichermaßen durchführen, nur aus der Position des Kindes.  

–> Zur Übungsreihe “Inneres Kind heilen” <–

2. Mit einem Kinderfoto von Dir sprechen

Eine weitere hilfreiche Übung ist es Dir ein Foto von Dir als Kind herauszusuchen und laut mit ihm zu sprechen. Wähle ein Foto aus der Zeit, von der Du glaubst, dass Dein Kind besonders gelitten hat. Dann sieh es Dir in aller Ruhe an und versuch zu erkennen, wie verletzlich und unschuldig Du damals warst. Erlaube den Schmerz darüber, dass Du nicht beschützt wurdest und sprich mit diesem kleinen Ich von Dir und sag ihm, wie schlimm das alles war, und das Du jetzt da bist und mit ihm fühlst.

Inneres Kind

3. Dein inneres Kind in Entscheidungen einbeziehen

Diese Übung, die ich aus dem Buch *Befreie dein inneres Kind: Wie Sie sich selbst geben, was Ihnen Ihre Eltern nicht gaben von Mike Hellwig (2007) abgeleitet habe, kannst Du immer machen, wenn Du vor wichtigen Entscheidungen stehst. Dabei wirst Du feststellen, was für ein wertvoller Berater Dein inneres Kind für Dich sein kann!

Lege für die Übung zwei Kissen gegenüber voneinander auf dem Boden oder Deinem Bett aus (Du kannst auch zwei Stühle nehmen). Auf eins der Kissen legst Du ein Foto von Dir als Kind und auf das andere ein aktuelles Foto von Dir als Erwachsene.

Setze Dich zunächst auf das Kissen mit dem Erwachsenbild und stelle Dir vor, Du würdest jetzt wirklich vor Dir als Kind sitzen. Sprich Dein Kind liebevoll an und frage es, wie es zu Deinem Anliegen steht.

Stehe dann von dem Kissen auf und setze Dich auf das gegenüberliegende Kissen. Jetzt nimmst Du die Rolle Deines inneren Kindes ein. Schließe kurz die Augen, nimm Dir Zeit um Dich einzufühlen und stell Dir vor, wie Dein erwachsenes Ich gerade mit Dir gesprochen hat. Spüre in Dich hinein, welche Bilder, Worte oder Gefühle in Dir aufkommen und Teile sie Deinem erwachsenen Ich mit. Vielleicht sind da auch Wünsche und Bedürfnisse, die erfüllt werden wollen.

Im Anschluss wechselst Du wieder die Position. Jetzt ist es wichtig, dem Kind noch mal zu spiegeln, was Du gehört hast. Egal was es Dir gezeigt hat, erlaube ihm da zu sein und versichere ihm, dass Du nicht weggehst.

Ihr könnt den Dialog weiter fortführen, bis es sich stimmig anfühlt, den Austausch zu beenden. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Dir Dein Kind-Anteil gezeigt, was es hinsichtlich Deines Vorhabens denkt, braucht oder fühlt.

Wenn Dein Kind vor etwas Angst oder Widerstand hat, heißt das aber nicht zwangsläufig, dass Du als Erwachsene Dein Vorhaben einstellen musst. Manchmal braucht Dein Kind dann nur Deinen Zuspruch, um sich sicher in Deiner Entscheidung zu fühlen. 

Durch diese Übung lernst Du die Gefühle Deines inneren Kindes von Deinen erwachsenen Bedürfnissen zu unterscheiden. Bei regelmäßiger Anwendung wirst Du merken, wie Du automatisch liebevollere und verantwortungsbewusstere Entscheidungen für Dein Leben triffst.

4. Werde zu den Eltern, die Du Dir als Kind gewünscht hast

Bei dieser wirkungsvollen Übung heilst Du die Wunden Deiner Kindheit, indem Du mit Dir selbst so umgehst, wie Du es Dir von Deinen Eltern gewünscht hättest. Du kannst die folgende Liste nach Belieben ergänzen und am besten versuchst Du einige der Punkte zu festen Gewohnheiten in Deinem Leben zu machen:

    • lob Dich für jede Kleinigkeit und sag Dir, wie stolz Du auf Dich bist,
    • höre Dir aufmerksam zu und nimm Dich dabei ernst
    • sei für Dich da, ohne Dich abzulenken,
    • tröste Dich, wenn Du traurig bist,
    • nimm Dich ganz oft selbst in den Arm,
    • sag Dir jeden Tag, wie wundervoll Du bist,
    • erlaube Dir das zu tun, was Dich glücklich macht (und Dir guttut),
    • höre auf Deine Wünsche und Bedürfnisse,
    • fördere Dich und sei dabei liebevoll und geduldig mit Dir,
    • erlaube Dir zu träumen,
    • lerne spielerisch und leicht,
    • schau Dir Trickfilme an,
    • lies Dir Kinderbücher vor,
    • Lache, Tanze, Singe und Spiele!

5. Mit Deinem inneren Kind spielen

Wie alle Kinder, liebt es auch Dein Kind zu spielen! Es sehnt sich danach, endlich einfach Kind sein zu dürfen. Erlaube es ihm, indem Du gemeinsam mit ihm spielst.

Du kannst zum Beispiel auf einen Spielplatz gehen, auf ein Klettergerüst klettern, eine Rutsche hinunterrutschen oder so hochschaukeln, dass es im Bauch anfängt zu kribbeln.

Finde heraus, was Deinem Kind Freude bereitet. Vielleicht sind es noch immer die Sachen, die Du als Kind geliebt hast. Warst Du gern im Schwimmbad, hast gern gebastelt, getanzt oder gesungen?

Vielleicht möchte Dein Kind auch ein Instrument spielen lernen. Oder es wünscht sich ein Kuscheltier. Egal was es ist, nimm es ernst und erfülle Deinem Kind seine Wünsche!

Wenn Du die Übungen häufig wiederholst, wird Dein inneres Kind zwangsläufig ein fester Bestandteil Deines täglichen Bewusstseins. Eurer liebevollen Beziehung steht dann nichts mehr im Weg!

Mit der Zeit  wird Dein inneres Kind gemeinsam mit Dir zu einer glücklichen erwachsenen Frau/einem glücklichen erwachsenen Mann heranwachsen, die/der sich ihres/seines Wertes bewusst ist, selbstsicher auftritt und in der Lage ist, auf konstruktive Weise in Beziehung zu treten.

Wie nah stehst Du zum jetzigen Zeitpunkt Deinem inneren Kind? Welche Methoden nutzt Du, um für es da zu sein? Oder entspricht dieser Ansatz vielleicht überhaupt nicht Deinen Überzeugungen? Ich bin gespannt und freue mich, wenn Du Deine Erfahrungen in einem Kommentar mit mir teilst.

Schön, dass Du da bist!

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