Wenn Du Unstimmigkeiten in Deinem Sexleben verspürst, kann eine sexuelle Auszeit Dir dabei helfen, alles bisher erlernte zum Thema Sex zu hinterfragen und neu zu erforschen. Dies beeinflusst nicht nur Deine eigene Entwicklung positiv, sondern auch Dein zukünftiges Liebesleben.
Etwa eineinhalb Jahre verzichtete ich vollständig auf Sex, weil dieser mich mit körperlichen und emotionalen Traumagefühlen aus meiner Kindheit in Kontakt brachte. Die Auszeit regte viele Bewusstwerdungsprozesse in mir an und ermöglichte es mir, einen völlig neuen Zugang zu meiner Sexualität zu finden. Auf diese Weise konnte ich nachholen, was mir als Heranwachsende verwehrt wurde. Ich entdeckte Sexualität in meinem Tempo und mit gesunder Neugier neu.
Dieser Beitrag richtet sich in erster Linie an Frauen. Statt den Begriff Partner benutze ich im Text die Bezeichnung Liebster und anstelle von Partnerschaft schreibe ich von Liebesbeziehung, denn gelebte Sexualität bedarf nicht zwangsläufig einer Partnerschaft. Fühle Dich frei, die Bezeichnungen beim Lesen für Dich passend umzuformulieren.
Was bedeutet sexueller Verzicht?
Sexueller Verzicht oder auch Enthaltsmakeit beschreibt das Unterlassen von bestimmten Handlungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch findet häufig auch das Synonym Abstinenz Verwendung. Sexuelle Enthaltsamkeit bezeichnet demnach den bewussten Verzicht von sexuellen Aktivitäten. In erster Linie umfasst sie den Geschlechtsverkehr in meinem Beitrag auch, dass sich selbst berühren.
Wann eine sexuelle Auszeit Sinn macht
Wenn wir eine Zeit lang vom Essen fasten, setzt unser Körper Reinigungsprozesse in Gang, die wiederum Energie in uns freisetzen. Auch der Verzicht auf sexuelle Handlungen jeder Art kann eine reinigende und energetisierende Wirkung auf uns haben. Wir können die Phase der Enthaltsamkeit nutzen, um alles erlernte in Bezug auf Sexualität zu hinterfragen und uns unserer Bedürfnisse und Konditionierungen bewusst werden.
Sinn macht der Verzicht auf Sex vor allem dann, wenn Dich eine generelle sexuelle Unlust plagt. Solltest Du Sex als eine Art Verpflichtung wahrnehmen, die es in regelmäßigen Abständen zu erfüllen gilt, um Deinen Liebsten nicht zu verlieren, artet sexuelles Vergnügen schnell in Stress aus. Das tut weder Dir selbst noch Deiner Beziehung gut.
Noch gravierender wird es, wenn die Art und Weise, wie Du Sexualität lebst, Dir widerspricht. Wenn Du Dich dabei unwohl fühlst oder sogar körperliche Schmerzen während oder nach dem Sex hast, dann ist das ein klares Warnsignal Deines Körpers und Du solltest unbedingt damit aufhören.
Es kann auch sein, dass Sex in Dir körperliche und emotionale Traumagefühle oder Erinnerungsblitze hervorruft. Statt dann jedes Mal zu hoffen, dass es beim nächsten Mal wieder funktioniert, pass lieber auf Dich auf, indem Du den Sex beziehungsweise alle Teile, die Dir missfallen, für eine Weile unterlässt.
Weiterhin macht eine sexuelle Auszeit Sinn, wenn Sex für Dich zu einer Sucht geworden ist. Jede Form von Sucht versucht immer etwas zu kompensieren. Wenn Du also Deine Begierde nicht im Griff hast, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Du andere Menschen für Deine Zwecke benutzt und mit ihren Gefühlen spielst. Auch Du selbst wirst Verletzungen davontragen, wenn die Gründe für Deine Sexsucht durch das blinde Ausagieren ungesehen bleiben.
Sex-Verzicht als Chance für inneres Wachstum
Wenn Du für Dich selbst die Entscheidung getroffen hast, eine Zeit lang enthaltsam zu bleiben, kann sich das förderlich auf Deine Entwicklung sowie auf Dein künftiges Liebesleben auswirken. Denn Sex-Verzicht kann diverse Bewußtwerdungsprozesse anregen, von denen ich hier nur einige nennen möchte:
1. Bestehende Konditionierungen auflösen
a.) Guter Sex erfordert einen Höhepunkt
Einer der weitverbreitetsten Mythen in Bezug auf Sex ist, dass dieser nur dann gut ist, wenn er mit einem Höhepunkt endet. Die Film- und Pornoindustrie fördert diesen Irrglauben, indem sie uns Bilder von Menschen zeigt, die weder Anstrengungen noch Positionen scheuen, um das vermeintliche Ziel zu erreichen. Sex als Hochleistungssport? Klingt anstrengend oder?
Während es für die Fortpflanzung unumstritten einen Samenerguss beim Mann braucht, setzt guter Sex diesen aber nicht zwangsläufig voraus. Im Gegenteil, das Ansteuern eines Ziels beim Liebemachen kann Leistungsdruck erzeugen, der dann zur Ursache für sexuelle Unzufriedenheit bei Männern und Frauen werden kann.
Wenn wir schaffen, diese Konditionierung aufzulösen, kehren Entspannung und Bewusstheit in unsere Schlafzimmer ein. Wir können dann das gemeinsame Sein im Jetzt absichtslos genießen, statt so schnell wie möglich zum Ende kommen zu wollen.
b.) Sex ist das, was wir darüber gelernt haben
Laut einer Umfrage des Informationszentrums für Sexualität und Gesundheit (ISG) würden über 80 % der Frauen gern etwas an ihrem Sexleben verändern. Obwohl also so viele Frauen unzufrieden sind, haben sie weiterhin Sex. Warum ist das so?
Hast Du Dich schon mal gefragt, warum Du überhaupt mit anderen Menschen schläfst? Tust Du es, weil es Dich glücklich macht oder einfach, weil es alle machen? Oder hast Du Dich mal mit der Frage beschäftigt, was Sex für Dich ganz persönlich bedeutet, fern ab von dem, was Du darüber gelernt hast?
Durch die Beantwortung folgender Fragen kannst Du versuchen, alles bisher gelernte in Bezug auf Sex erstmals über Board zu werfen und herausfinden, was er für Dich bedeutet.
- Woher stammt überhaupt Dein Wissen über Sex?
- Warum schläfst Du eigentlich mit anderen Menschen?
- Welchen Stellenwert hat Sex in Deinem Leben und warum?
- Was macht (guter) Sex für Dich aus?
- Hat er für Dich Vorgaben oder Begrenzungen? Wenn ja, welche?
- Verfolgt Sex ein Ziel oder ist die physische Nähe zweier Menschen bereits das Ziel?
- Wie möchtest Du Sexualität von jetzt an leben und vor allem wie möchtest Du Dich dabei fühlen?
Sei Dir im Klaren darüber, dass Du die Schöpferin Deines Lebens bist. Du kannst jeden Tag frei wählen, wie Du Deine Sexualität leben möchtest!
c.) Sexuelle Konditionierungen in Folge von Traumata
Wurden wir als Kinder auf irgendeine Weise sexuell traumatisiert, sind unsere Verknüpfungen im Zusammenhang mit Sexualität mit großer Wahrscheinlichkeit verworren.
Vielleicht wurde uns vermittelt, dass Nacktheit und Sexualität Tabuthemen sind, für die wir uns schämen müssen. Womöglich wurden wir beschimpft, wenn wir uns an unseren Genitalien berührt haben, sodass wir uns bis heute schuldig fühlen, wenn wir das tun.
Kam es zu sexuellen Übergriffen, hat unser Körper eventuell automatisiert alle Empfindungen betäubt. Es ist dann gut möglich, dass er auf sexuelle Berührungen auch heute so antwortet wie damals und wir Sex nicht als genussvoll erleben können. Vielleicht hat unser Körper damals aber auch mit Lust oder sogar einem Orgasmus reagiert, obwohl unser Kopf das gar nicht wollte. Gefühle von Lust und Erregung können dann nicht getrennt von Scham und Ekel erfahren werden.
Als Heranwachsende hatten wir nicht die Möglichkeit, Sexualität neugierig in unserem eigenen Tempo zu erforschen, weil sie uns viel zu früh von älteren Kindern oder Erwachsenen aufgezwungen wurde. Womöglich sogar von Menschen, die wir eigentlich liebten. Auf diese Weise konnten wir nicht lernen, Liebe und Nähe unabhängig von Angst, Wut oder Schuld zu fühlen.
In der Enthaltsamkeit erkennen wir eventuell sogar, dass wir mit der bisher unbewusst ausgelebten Sexualität unser Trauma selbst immer wieder reinszeniert haben. Zum Beispiel wenn Gewalt beim Sex Erregung in uns hervorruft, nachdem wir als Kind sexuelle Gewalterfahrungen machen mussten.
Derartige Erkenntnisse mögen zunächst erschreckend und beschämend sein, jedoch ist nur durch die Bewußtwerdung ein Wandel möglich. Mithilfe einer sexuellen Auszeit kannst Du Deine Konditionierungen erkennen und auflösen, indem Du Dich in Deinem Tempo an das Thema Sexualität herantastest.
Heilung von sexuellem Trauma ist möglich und Du musst den Weg nicht alleine gehen. Scheue Dich also nicht davor, Dir therapeutische Unterstützung zu suchen. Vielleicht sogar gemeinsam mit Deinem Liebsten.
Buchtipp 1:
Ein Buch, dass Dir dabei hilft, die Ursachen Deiner Probleme zu begreifen und Sexualität wieder als kreative Kraft zu erleben: *Liebe, Lust und Trauma: Auf dem Weg zur gesunden sexuellen Identität von Dr. Franz Ruppert (2019).
2. Deine Bedürfnisse wahrnehmen
Ohne uns dessen bewusst zu sein, reagieren wir häufig mit dem Wunsch nach Sex, um uns bestimmte unbewusste Bedürfnisse zu befriedigen. So kann es passieren, dass wir eigentlich ein Bedürfnis nach liebevoller Aufmerksamkeit haben, welches wir mithilfe von Sex zu erfüllen versuchen. Wenn wir traurig sind, sehnen wir uns vielleicht nach einer Umarmung und der Möglichkeit unseren Tränen freien Lauf zu lassen. Stattdessen kompensieren wir aber unsere Gefühle durch sexuelles Verlangen.
Die Unbewusstheit Deiner eigenen Bedürfnisse birgt somit auch die Gefahr, dass Du Sex als Überlebensmechanismus benutzt.
Im Rahmen einer sexuellen Auszeit kannst Du Dich eingehend mit Deinen eigenen Bedürfnissen befassen. Du kannst Dir die Frage stellen, welche Bedürfnisse Du bisher versucht hast, mit Sex zu erfüllen und prüfen, ob diese womöglich anderweitig besser erfüllt werden können. Du lernst, Deine Deine Bedürfnisse klarer zu erkennen, auszudrücken und sie Dir selbst zu erfüllen oder gegebenenfalls erfüllen zu lassen. Sex kann so zu einer ganz neuen Erfahrung werden, weil wir ihn nur noch haben, wenn wir wirklich ein Bedürfnis danach haben.
Buchtipp 2:
Bei der Erforschung Deiner Bedürfnisse in Bezug auf Sex kann Dich das Buch *Liebe würde Slow Sex machen – Sex, der Frauen und Männer wirklich glücklich macht von Yella und Samuel Cramer (2019) wirkungsvoll unterstützen.
3. Eigene Werte und Grenzen kennenlernen
Durch eine bewusst gewählte Enthaltsamkeit kann es sein, dass wir mit unserem eigenen Wertethema in Kontakt kommen. Womöglich spüren wir, dass wir uns wertlos fühlen, wenn wir unserem Liebsten nicht geben können, was er sich wünscht. Es kann Angst machen, wenn wir auf den tief sitzenden Glauben stoßen, dass unser Liebster nur aufgrund des Sexes mit uns zusammen ist. In diesem Zusammenhang werden wir auch mit unserer Fähigkeit konfrontiert, Grenzen zu setzen. Schaffen wir es, bei uns zu bleiben und auf unsere Bedürfnisse zu achten? Oder missachten wir uns, indem wir uns von unseren Ängsten leiten lassen?
So erschreckend die aufkommenden Erkenntnisprozesse auch sein mögen, sie sind wertvoll und wichtig. Sie zeigen uns, wo wir stehen und das bestimmte Themen wie Selbstliebe oder die eigene Identitätsfindung Zuwendung brauchen.
Im Idealfall beginnen wir zu begreifen, dass unser Liebster auch bei uns bleibt, wenn wir nicht mit ihm schlafen. Wir lernen zu verstehen, dass wir mehr sind als nur unser Körper. Gerade nach sexuellem Missbrauch kann diese Erfahrung enorm gewinnbringend sein.
Herausforderung für Deine Liebesbeziehung
Wenn Du irgendeine Form von Liebesbeziehung führst und Deinem Liebsten mitteilst, dass Du eine Zeit lang auf Sex verzichten möchtest, kann das zu einer großen Belastungsprobe für Euch werden. Es ist ganz wichtig, dass Du Deinen Standpunkt klar und offen kommunizierst. Genauso wichtig ist es, dass Du den Standpunkt Deines Liebsten berücksichtigst. Denn das Thema Sex bedarf in Liebesbeziehungen großer Sensibilität und Achtsamkeit.
Offene und ehrliche Kommunikation
Wichtig ist, offen und ehrlich mit dem Thema umzugehen, damit Dein Liebster Dich verstehen kann. Trau Dich offen Deine Gefühle und Absichten zu kommunizieren und mitzuteilen, warum dieser Schritt für Dich notwendig ist. Du hast das Recht, Deine Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken und danach zu leben. Lade Deinen Liebsten dazu ein, genauso offen und ehrlich mitzuteilen, was in ihm vorgeht. Durch ein authentisches und transparentes Miteinander könnt ihr gemeinsam Lösungen finden.
Elemente der Gewaltfreien Kommunikation von Marshall Rosenberg können hilfreich sein, um solch ein emotional besetztes Thema möglichst konfliktfrei zu besprechen.
Verständnis für Deinen Liebsten aufbringen
Es ist gut möglich, dass Dein Wunsch für Deinen Liebsten sehr unerwartet kommt. Er ist bisher vielleicht zufrieden mit Eurer Sexualität und fühlt sich jetzt darum beraubt. Irritation, Wut und Traurigkeit können genauso auftreten wie Schuld und Schamgefühle. Womöglich gibt er sich die Schuld an Deiner Entscheidung oder fühlt sich in seinem Selbstwert gekränkt. Du bist natürlich nicht verantwortlich für seine Gefühle, solltest aber dennoch Verständnis für seine Situation aufbringen.
Gemeinsam Enthaltsam
Wenn Ihr Euch beide auf die sexuelle Auszeit einlasst, kann das Eure Liebesbeziehung auf eine neue Ebene katapultieren. Ihr habt die Möglichkeit, Euch und Eure Bedürfnisse noch besser kennenzulernen und gemeinsam herauszufinden, wie Ihr Sexualität in der Zukunft verstehen und leben möchtet.
Sobald Du soweit bist, könnt Ihr zusammen Neues ausprobieren und das kann ein spannender und aufregender Prozess für Euch sein. Slow Sex und Tantra sind zum Beispiel Ansätze, die einen ganz neuen Zugang zur Sexualität ermöglichen. Eine bewusst gelebte Sexualität kann dann sogar wesentlich zu Deiner Traumaheilung beitragen.
Buchtipp 3:
Erfahre durch dieses Buch, wie Du Dich beim Liebemachen nicht mehr anstrengen musst, weil Dein Körper mithilfe von Slow Sex alles von selbst tut: *Zeit für Liebe: Sex, Intimität und Ekstase in Beziehungen von Diana Richardson (2013)
Wenn sich herausstellt, dass Dein Liebster nicht bereit ist, eine Zeit lang vollkommen auf Sex zu verzichten, muss das noch immer nicht das Aus für Eure Liebesbeziehung bedeuten. Vielleicht sind gewisse Kompromisslösungen für Euch beide möglich. Sprecht offen und ehrlich miteinander und sucht Euch gegebenenfalls auch therapeutische Unterstützung.
Für mich war der Sex-Verzicht damals eine Notwendigkeit, die sich als riesen Geschenk entpuppte. Meine Sexualität ist zwar noch nicht vollständig geheilt, aber durch die bewusste Enthaltsamkeit habe ich sehr viel über mich und meine Bedürfnisse gelernt und das Thema ganz neu entdeckt. An dieser Stelle bedanke ich mich ganz herzlich bei meinem liebsten Freund und Partner Marco, der mich die meiste Zeit geduldig und liebevoll auf meinem Weg begleitet. ♥
Auch für Dich kann eine zeitweise Enthaltsamkeit zu einer befreienden und erkenntnisreichen Entdeckungsreise werden, sofern Sex für Dich zu einem Stressfaktor geworden ist oder Du generell unzufrieden damit bist. Sei Dir gewiss, dass mit Dir alles in Ordnung ist, auch wenn Du phasenweise keine Lust auf Sex hast. Lerne Dir und Deinem Körper vertrauen und erlaube Dir nur zu tun, was Du wirklich vom ganzen Herzen möchtest.
Buchtipp 4:
Im Jahr 2022 entdeckte ich dieses revolutionäre Buch, was mir zu einem tiefen Verständnis über die Individualität unserer sexuellen Bedürfnisse verhalf: *Finde Deine sexuelle Kraft – Die Elemente der Ekstase von Ilan Stephanie (2022)
Wie geht es Dir bisher mit Deinem Liebesleben? Hast Du Dir schon einmal eine sexuelle Auszeit gegönnt? Hinterlasse gerne einen Kommentar und lass mich an Deinen Erfahrungen teilhaben oder teile den Beitrag mit Menschen, die davon profitieren können!
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